Pestalozzis methodisches Grundlagenwerk: "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" (1801)

Bei diesem Werk handelt es sich um eine Folge von 14 Briefen an den Verleger Heinrich Gessner. Es sind allerdings keine persönlichen Briefe, sondern Kapitel eines in Briefform abgefaßten Buchs. Es ist herausgewachsen aus Pestalozzis ersten schulpädagogischen Versuchen und Erfahrungen in Burgdorf in den Jahren 1799-1801 und begründete damals seinen weltweiten pädagogischen Ruhm. Der Titel "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" wurde allerdings vom Verleger ohne Wissen Pestalozzis gewählt und entspricht dem Inhalt lediglich in theoretischer Hinsicht, denn von Gertrud, der Mutterfigur in "Lienhard und Gertrud", ist nirgends die Rede. Pestalozzi betrachtete die Briefe als "Vorrede zu meinen Versuchen, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selber zu unterrichten" Anmerkung und stellen im Kern eine anthropologische und erkenntnispsychologische Grundlegung des Elementarunterrichts dar. Man versteht Pestalozzis Anliegen am besten, wenn man sich das Bild der damaligen Schulverhältnisse in Europa vor Augen hält, wie er es in einer sehr drastischen Sprache schildert:

"Soweit als ich ihn [den Schulunterricht] kannte, kam er mir wie ein großes Haus vor, dessen oberstes Stockwerk zwar in hoher vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittleren wohnen denn schon mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten; und wenn sie Gelüste zeigen, etwas tierisch in dasselbe hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen einen Arm oder ein Bein, das sie dazu brauchen konnten, provisorisch entzwei; im dritten wohnt eine zahllose Menschenherde, die für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den oberen das gleiche Recht haben, aber sie wird nicht nur im ekelhaften Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man bohrt in demselben noch denen, die auch nur den Kopf aufzuheben wagen, um zu dem Glanz des obersten Stockwerks hinaufzugucken, noch gewaltsam die Augen aus." (PSW 13, S. 242)

Aus dieser Sicht der Verhältnisse hält er es für dringend, "die Schulübel, die Europas größere Menschenmasse entmannen, nicht bloß zu überkleistern, sondern sie in ihrer Wurzel zu heilen" (PSW 13, S. 242) und entsprechend ist er der Überzeugung, "der öffentliche und allgemeine europäische Schulwagen müsse nicht bloß besser angezogen, er müsse vielmehr umgekehrt, und auf eine ganz neue Straße gebracht werden." (PSW 13, S. 319). Pestalozzi entwickelt daher ein leidenschaftliches Interesse für die Verbesserung der Elementarbildung und sein ganzes Bemühen gilt der Entwicklung einer Erziehungs- und Unterrichtsmethode, die den Menschen instand setzt, "sich selbst helfen zu können" (PSW 13, S. 235).

Pestalozzis "Methode" beruht dabei auf den folgenden Grundgedanken:

  • Kenntnisse und Fertigkeiten dürfen im Unterricht nicht isoliert und ohne Fundamente vermittelt werden, sondern müssen in entwickelten Kräften wurzeln. Vordringliche Aufgabe des Unterrichts ist somit die Entwicklung von Kräften, welche in der menschlichen Natur angelegt sind und von sich aus nach Entfaltung streben.
  • Die zur Entwicklung drängende innere Natur des Menschen wird zwar erst in der Begegnung mit der äußern Natur – dem Bereich des Gegenständlichen – entfaltet, aber dieser Bereich wirkt, wenn er unbeeinflußt bleibt, ohne Ordnung und Zielstrebigkeit auf den jungen Menschen ein. Seine Bildung soll aber nicht zufällig und verwirrt sein, sondern durch menschliche Kunst gelenkt und geordnet werden.
  • Die menschliche Kunst muß somit in die Natur eingreifen, aber nicht in die Natur des Kindes, sondern in das freie, zufällige Spiel der Wirkungen der äußeren Natur auf das Kind. Sie muß die Sinneseindrücke ordnen, dosieren und abstimmen auf den jeweiligen Grad der Verarbeitungsfähigkeit des Kindes. So schreibt er im ersten Brief von "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt":

    "Aller Unterricht des Menschen ist also nichts anderes als die Kunst, diesem Haschen der Natur nach ihrer eigenen Entwicklung Handbietung zu leisten, und diese Kunst ruht wesentlich auf der Verhältnismäßigkeit und Harmonie der dem Kind einzuprägenden Eindrücke mit dem bestimmten Grad seiner entwickelten Kraft. Es gibt also notwendig in den Eindrücken, die dem Kind durch den Unterricht beigebracht werden müssen, eine Reihenfolge, deren Anfang und Fortschritt [mit] dem Anfang und Fortschritt der zu entwickelnden Kräfte des Kindes genau Schritt halten soll." (PSW 13, S. 197).

     

    Daraus erwachsen dem Erzieher vier Hauptaufgaben: Er muß erstens die psychologischen Gesetze erforschen, nach denen sich die Kräfte des Kindes schrittweise entfalten, zweitens den jeweiligen Entwicklungsgrad der kindlichen Kräfte kennen, drittens die komplexen Erscheinungen der Natur und der Kultur auf ihre Elemente zurückführen und deren lückenlosen Aufbau von den Elementen her durchschauen und viertens entscheiden, welcher Grad von Komplexität eines Sachverhalts dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angemessen ist.
  • Der Gang der natürlichen Entfaltungsgesetze der Kräfte verläuft bei allen Menschen in gleicher Weise und mit derselben Zwangsläufigkeit, die auch dem Wachstum der physischen Natur zugrunde liegt: "Es gibt und kann nicht zwei gute Unterrichtsmethoden geben – es ist nur eine gut –, und diese ist diejenige, die vollkommen auf den ewigen Gesetzen der Natur beruht" (PSW13, S. 320). Mit anderen Worten: Die Kunst – verstanden als bewußte Einwirkung des Menschen auf das Kind – muß sich in jedem Falle dessen Natur unterwerfen, das heißt: Bildung und Erziehung müssen "naturgemäß" sein.
  • Ein solcher naturgemäßer Unterricht kann unmöglich erst mit dem Schuleintritt des Kindes einsetzen, vielmehr ist "die erste Stunde seines Unterrichts [...] die Stunde seiner Geburt." (PSW 13, S. 196). Es ist darum nach Pestalozzis Überzeugung keineswegs die Gesellschaft, sondern die Natur selber, die den Eltern, vorab den Müttern, den Auftrag zuweist, die Aufgabe der elementaren Bildung an ihren Kindern zu erfüllen.

Obwohl in "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" die Dreiteilung der Kräfte in "Kopf, Herz und Hand" nicht wörtlich erwähnt wird, bildet sie doch das unausgesprochene Ordnungsprinzip: Die Briefe 4 bis 11 befassen sich mit der intellektuellen Bildung, der 12. Brief behandelt die Bildungsgrundsätze für die körperlichen Fertigkeiten, und in den letzten beiden Briefen finden sich die Grundgedanken der sittlichen Erziehung.

Pestalozzi versucht nun mit seinem Werk, dem Erzieher durch drei grundlegende Leistungen zu Hilfe zu kommen:

Erstens: Ausgehend von den höchstmöglichen Leistungen im Bereich des Denkens, der Sittlichkeit und des handwerklichen Könnens, sucht Pestalozzi nach den Elementen, worauf diese Leistungen beruhen:

  • Die höchste Leistung in intellektueller Hinsicht ist das gereifte Urteil. Dieses beruht auf vollendeter Sachkenntnis, die das Kind unter anderem in den Schulfächern erwirbt. Doch nach Pestalozzis Überzeugung können die tradierten Schulfächer nicht die letzten Fundamente der intellektuellen Bildung sein. Vielmehr beruhen auch sie, sollen sie wirklich bildend sein, auf dem Prinzip der Anschauung, denn nach Pestalozzi ist "die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis" (PSW 13, S. 309). Er sucht also, ohne sich einstweilen um die Eigengesetzlichkeiten der tradierten Fächer zu kümmern, weiter nach den allgemeinen Elementen der Anschauung und stößt dabei auf die drei "Elementarmittel" Sprache (Wort, Name), Form und Zahl. Es sind dies Erfassungs-Kategorien, die jedem der Anschauung zugänglichen Gegenstand zukommen. Diesen drei Elementarmitteln entsprechen auf der Seite des Menschen drei "Elementarkräfte", um sie erfassen zu können: die Sprachkraft, die Kraft zur Formerfassung und die Kraft zur Zahlbildung. Auf dem Zusammenwirken dieser drei Kräfte mit den drei Elementarmitteln Sprache, Form und Zahl beruhen die drei "Elementarfächer" Sprache/Gesang, Schreiben/Zeichnen und Rechnen. Mit besonderer Intensität wendet sich Pestalozzi in "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" dem Problem der Form-Erfassung zu. Ausgehend von der Feststellung, daß dem Elementarmittel "Sprache" ein allgemeines Alphabet zu Grunde liegt, und daß sich analog das Elementarmittel "Zahl" zur Beschreibung quantitativer Verhältnisse eignet, stellt er fest, daß Entsprechendes im Bereich des Elementarmittels "Form" nicht existiert. So macht er sich daran, ein "ABC der Anschauung" zu entwickeln, das auf der systematischen Verwendung von Einteilungen des Quadrats durch horizontale und vertikale Linien sowie durch Kreisbogen beruht. Zu dieser Zeit hat Pestalozzi sehr viel von seiner Erfindung gehalten und geglaubt, er könne ihr dieselbe Bedeutung wie dem Buchstabenalphabet oder der Zahlenreihe zuschreiben. Später hat er dieses doch sehr künstlich wirkende System aber nicht weiter verfolgt.
  • Auch im sittlichen Bereich führt Pestalozzi die Entwicklung auf elementare Fertigkeiten zurück, die jeweils auf einen gewissen Grad der Vollendung gebracht werden müssen, wenn sie zu einem tragfähigen Fundament für die nächst höhere Fertigkeit werden sollen. Als Basis von Sittlichkeit und Religiosität gelten ihm einerseits die Gefühle der Liebe, des Vertrauens und der Dankbarkeit, die der Säugling zur Mutter als Antwort auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse entwickelt, andererseits die Fertigkeiten der Geduld und des Gehorsams, welche sich durch das richtige Erzieherverhalten der Mutter entwickeln.
  • Pestalozzis Vorstellungen über die Entwicklungsgesetze im körperlichen Bereich wirken noch vorläufig und unausgereift; seine Ausführungen sind daher kurz und wenig konkret. Er beschreibt als die höchste Leistung des Menschen in diesem Bereich "die gute Besorgung seiner wesentlichsten Angelegenheiten" (PSW 13, S. 334), also die Fähigkeit, sich selbständig im Berufsleben zu behaupten, um sich und seine Angehörigen ernähren zu können. Die Entwicklung der körperlichen Fertigkeiten ist somit eng verbunden ist mit den geistigen und sittlichen Kräften. Die grundlegenden Elemente, auf denen alle körperlichen Fertigkeiten beruhen, sieht Pestalozzi in einfachen Tätigkeiten wie Schlagen, Tragen, Werfen, Stoßen, Ziehen, Drehen, Drücken, Schwingen usw.

Zeitens: Als weitere Hilfe für die Erzieher zeigt Pestalozzi auch die psychologischen Gesetzmäßigkeiten auf, nach denen sich die tierisch angelegten Kräfte zu Kräften des vollendeten Menschen entfalten:

  • Im intellektuellen Bereich schafft die Natur die Voraussetzungen zur Denk- und Urteilsfähigkeit durch eine vierstufige Entwicklung: Zuerst stehen alle sinnlich erfassbaren Gegenstände als bloß dunkle, verwirrte Anschauung vor den Sinnen des Kindes. Diese ist mit der Wahrnehmung der Tiere vergleichbar, weshalb Pestalozzi auch von tierischer Anschauung spricht. Auf der zweiten Stufe wird die menschliche Kunst wirksam: Sie weist das Kind an, die Gegenstände hinsichtlich ihrer Zahlenverhältnisse und ihrer Form zu erfassen und sie sprachlich zu benennen, wodurch aus der verwirrten eine bestimmte Anschauung wird. Auf der dritten Stufe, jener der klaren Anschauung, werden dem Kind durch den Einsatz möglichst aller Sinne die weiteren Eigenschaften des Gegenstandes bewußt. Auf der letzten Stufe wird der also erfaßte Gegenstand durch sprachliche Vermittlung des Erziehers in weitere Zusammenhänge gestellt, wodurch eine deutlichen Anschauung bzw. ein deutlichen Begriff entsteht. Bei all dem ist die bewußte Mitwirkung des Erziehers erforderlich, der darauf bedacht ist, daß die "Welt" – d.h. alles, womit das Kind zunehmend in Kontakt kommt – dieses durch ihre Zufälligkeiten nicht verwirrt.
  • Im sittlichen Bereich hebt die Entwicklung an mit den Gefühlen der Liebe, des Vertrauens und der Dankbarkeit sowie der Fertigkeit des Gehorsams, dies alles im Rahmen einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung. Daraus entfalten sich in weiteren Stufen das Vertrauen zur Welt, die Bruderliebe, das Gewissen, das Rechts- und Pflichtgefühl. Auch in Hinsicht der sittlichen Entwicklung soll die "Welt" nicht ohne bewußte Lenkung durch den Erzieher auf den jungen Menschen einwirken, denn er würde verdorben, wäre er ihr kritiklos ausgeliefert. Pestalozzi sieht bloß eine Möglichkeit, das Kind vor der sittlichen Schädigung durch die Verderbnisse der Welt zu schützen: daß die Mutter bewußt versucht, die sittlichen Grundgefühle und den Gehorsam, die das Kind bisher ihr entgegenbrachte, auf Gott zu lenken und dem Kinde alle Dinge der Welt in ihrer Beziehung zu Gott darzustellen. Dadurch ist die Mutter dem Kind nicht nur Ordnerin der verwirrten, sondern auch Verwandlerin der verdorbenen Welt. Dies kann sie freilich nur nach Maßgabe ihrer eigenen Sittlichkeit.
  • Im körperlichen Bereich entdeckt Pestalozzi eine gesetzmäßige natürliche Entwicklung von den erwähnten einfachen Bewegungen zu komplexen Fertigkeiten. Erst im "Schwanengesang" beschreibt er diese Entwicklung eingehender als einen Gang über die vier Stufen "Aufmerksamkeit auf Richtigkeit", "Kraft der Darstellung", "Leichtigkeit und Zartheit" und "Freiheit und Selbständigkeit" (PSW 28, S. 73).

Drittens: Pestalozzi war sich bewußt, daß er mit seiner Forderung nach einem allgemeinen Elementarunterricht, der bereits im Säuglingsalter beginnen sollte, sehr hohe Anforderungen an die Eltern – vor allem an die Mütter – stellte. Aber er tat die vielfach geäußerten Einwände, die Mütter würden dazu nicht bereit sein, als kleinmütig ab. Er war vielmehr davon überzeugt, daß jede Mutter von einem natürlichen Instinkt angetrieben werde, das Beste für ihr Kind zu wollen, und daß es nicht an gutem Willen, sondern allenfalls an der nötigen Einsicht in die Zusammenhänge und insbesondere an praktischen Hilfsmitteln fehle. Um diesen Mangel zu beheben, entwickelte er gleichzeitig das Projekt der Elementarbücher, einer Reihe von Lehrmitteln, welche in erster Linie als Hilfe für die Mütter und die Unterstufenlehrer gedacht waren. "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" ist zur Hauptsache als die theoretische Grundlegung dieser Elementarbücher zu verstehen und Pestalozzi nimmt häufig auf diese Bezug, am meisten auf das von seinem Mitarbeiter Hermann Krüsi im Detail ausgearbeitete "Buch der Mütter". Pestalozzi will darin zeigen, daß alle Erkenntnis vom erkennenden Subjekt ausgehen müsse und sich der Kreis der Anschauung von der Nähe bis zur Ferne kontinuierlich auszuweiten habe: Er zeigt der Mutter, wie sie dem Kind helfen kann, seinen eigenen Körper zu erkennen und zu benennen, die grundlegenden Begriffe daran zu entwickeln und die Umwelt in ihrer Beziehung zum eigenen Körper zu erleben. Betrachtet man das