Sämtliche Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi. Kritische Ausgabe.
(Hrsg.: Rebekka Horlacher u. Daniel Tröhler). Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung: 6 Bde. 2009-2015, 3183 Briefe, 5.140 S. (SBaP 1-6).
- Bd. 1: 1764-1804. Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung 2009, 713 Briefe, 831 S.
- Bd. 2: 1805-1809. Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung 2010, 393 Briefe, 822 S.
- Bd. 3: 1810-1813. Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung 2011, 629 Briefe, 789 S.
- Bd. 4: 1814-Juli 1817. Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung 2012, 267 Briefe, 830 S.
- Bd. 5: Aug. 1817-1820. Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung 2013, 483 Briefe, 904 S.
- Bd. 6: 1821-1827. Nachträge. Berlin/Zürich: de Gruyter/Verl. Neue Zürcher Zeitung 2015, 490 Briefe und 208 nachgetragene Briefe, 964 S.
Bucheinbände
In den Jahren 1946-1971 sind von Emanuel Dejung in 13 Bänden Sämtliche Briefe Pestalozzis (PSB 1-13) mit insgesamt 6.252 Dokumenten erschienen und 1995 in einem von Kurt Werder bearbeiteten Nachtragsband (PSB 14) weitere 208 Dokumente. Danach hat Tröhler 1998 18 neuentdeckte Briefe Pestalozzis veröffentlicht und Brühlmeier hat zusammen mit Werder 2008 den bis dahin unbekannten Briefwechsel Pestalozzis mit Johannes Marti Vater und Sohn aus den Jahren 1806-1809 unter dem Titel „Habe Ihren Sohn ungern verloren“ herausgegeben.
Die Ausgabe der Sämtlichen Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi verstehen die Herausgeber nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Pestalozzis mit 31 Bänden (PSW 1-29) und der Kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Briefen mit 14 Bänden (PSB 1-14) als dritte Reihe der Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken und Korrespondenz (SBaP 1-6). Dieser Anspruch ist gerechtfertigt, denn die Briefe an Pestalozzi eröffnen einen weiteren Blick auf Pestalozzi, seien diese Briefe nun Anlass für einen Brief oder Pestalozzis Antwort auf einen erhaltenen Brief. Allgemein eröffnen beide Briefreihen einen umfassenden Blick auf das weitgespannte Korrespondenznetz Pestalozzis, wobei zahlreiche weitere Briefe nicht erhalten sind oder nur aus anderen Dokumenten erschlossen werden können.
Die über 3.000 in dieser Gesamtausgabe veröffentlichten Briefe an Pestalozzi zeigen ein breites Spektrum der mit Pestalozzi diskutierten persönlichen Probleme, aber auch die angesprochenen Fragen pädagogischer, sozialer, politischer, theologischer oder ökonomischer Art eröffnen eine ergiebige Sicht auf die zeitgenössischen Diskussionen.
Am Beispiel von drei unterschiedlichen Briefpartnern, Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, Karl Justus Blochmann und Johannes Niederer, wird die Vielfalt der Aussagen in den Korrespondenzen an Pestalozzi aufgezeigt. Weitere Briefpartner Pestalozzis kämen für diese Auswahl ebenfalls infrage, aber das würde den Rahmen der vorliegenden Besprechung überfordern. Auch die Familienbriefe an Pestalozzi werden nachgewiesen, die erhaltenen Brautbriefe von Anna Schulthess werden nicht wiedergegeben, hier wird auf deren Veröffentlichung in der Kritischen Briefausgabe (PSB 1-2) verwiesen.
Von den 30 Briefen Pestalozzis an Nicolovius wird häufig sein Brief vom 1. Oktober 1793 zitiert, in dem sich Pestalozzi u.a. mit seinem eigenen Glauben auseinandersetzt: „Ich bin ungläubig, nicht, weil ich den Unglauben für Wahrheit achte, sondern weil die Sume meiner Lebenseindrücke den Segen des Glaubens vielseitig aus meiner innersten Stimmung verschoben.“ (PSB 3, S. 300). Von Nicolovius (1767-1839), der 1808 als Staatsrat die Leitung der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Preussischen Innenministerium übernahm, sind an Pestalozzi über eine lange Lebensspanne Pestalozzis von 1792 bis 1821 insgesamt 15 Briefe überliefert. Die erhaltenen Briefe sind nicht im eigentlichen Sinn aufeinander bezogene Korrespondenz, denn zu dem oben zitierten Brief Pestalozzis vom 1. Oktober 1793 findet sich weder ein Brief als Anlass noch als Antwort. Die Briefe von Nicolovius, wie auch die Briefe vieler anderer Briefabsender, liegen zeitlich weit auseinander. Das resultiert oft aus den äusseren Umständen: Die Briefpartner sind unterwegs und Briefe müssen nachgesandt werden, die kriegerischen Auseinandersetzungen der Zeit unterbrechen Postwege, Zensur und das Öffnen der Post werden befürchtet, und mehrfach klagt Nicolovius über wenig Zeit und eine übermässige berufliche Beanspruchung. Inhaltlich sind alle Briefe voll Zuneigung und Verehrung Pestalozzis, beispielsweise der Brief vom 19. September 1808: „Deine Bekanntschaft ist mir heilig und die Tage, die ich mit dir gelebt habe soviele Jahre auch dazwischen liegen wirken noch fort wie eine fromme Wahlfarths Reise das ganze Leben eines Gläubigen heiliget.“ (SBaP 2, S. 552). Im einzelnen ermutigt Nicolovius Pestalozzi zur Neuauflage seiner Werke, besonders der Cotta-Ausgabe, er fördert die Entsendung der preussischen Eleven nach Yverdon und in einem Brief vom 22. Juli 1817 schreibt Nicolovius zu den dortigen Auseinandersetzungen („... in Streit und Zank und wildem Getreibe...“) und wünscht „Möge endlich sich in deinem Kreise alles in Harmonie auflösen ...“ (SBaP 4, S. 762). Im Register der Briefabsender des 5. Bandes wird auf S. 381 fälschlicherweise ein Brief von Georg Heinrich Ludwig Nicolovius aufgeführt, der aber von dem Buchhändler Mathias Friedrich Nicolovius abgefasst ist.
Karl Justus Blochmann (1786-1855) war nach einem Theologiestudium von 1809-1816 Lehrer in Yverdon. In einem emotionalen Gedicht zu Neujahr 1810 ist er noch ganz angetan von seiner neuen Aufgabe in Yverdon und ist voller Begeisterung für die Arbeit bei Pestalozzi:
„Drum mit der Liebe herzentquollner Fülle
Du hohe, schöne Seele, sei gegrüsst! .....
Weiht auf der Liebe reinen Opferschaalen
Ein Herz sich Dir und Deinen Idealen.“ (SBaP 3, S. 3-4).
Am 16. Dezember 1815 richtet Blochmann zum Tod von Pestalozzis Ehefrau Anna ein umfängliches Gedicht an Pestalozzi, das noch ganz den festen Glauben an Pestalozzi bezeugt und dessen Werk in Yverdon preist (SBaP 4, S. 257-259). Aber schon am 4. Februar 1816 zerbricht Blochmanns Verhältnis zu Pestalozzi und er verlässt nach seiner Kündigung das Institut. In seiner Erklärung vom 4. Februar 1816 an Pestalozzi geht Blochmann auf die Streitigkeiten unter den Lehrern ein. Er unterstellt Pestalozzi, dass er „Lieblings- und Schooskinder“ habe, wodurch der „Seegen der Ewigkeit und des Friedens“ weiche und „die Bande des Vertrauens und des Familienglücks“ zerrissen. Blochmann nennt Namen, Bonifaz ist danach ein „verächtlicher Bube (méprisable polisson)“, Niederer sieht er verkannt, „des gleich geistvollen, edeln, hochherzigen, des um Sie so hochverdienten Mannes“ und bezeichnet Schmidt als „Lieblingskind“ Pestalozzis, aber dieser sei und wirke nur zum Verderben des Hauses, der auf das Schlechte und Verderbliche der Menschennatur baue (vgl. SBaP 4, S.302-304). Blochmann schliesst, dass er das Bild der reinen, hohen, unsterblichen Natur Pestalozzis weiterhin verehren werde, aber die Schattenseiten gehörten dem Menschen Pestalozzis und seien irdisches Beiwerk. Am 12 Januar 1818 schreibt Blochmann nochmals zu Pestalozzis Geburtstag einen von seiner christlichen Wiedergeburt durchdrungenen Brief (SBaP 5, S. 390-392) und ordnet darin auch die Streitereien in Yverdon ein: „Die Stimmung, Gott allein die Ehre zu geben, auf ihn allein zu bauen, und sich in unbedingter, sein ganz vergessender Demuth nur als Werkzeug der Gnadenwirkung seines heiligen Geistes zu fühlen, dieser rein christliche Geist, war in Ihrem Hause, so lange ichs kannte, nicht der herschende, und darin erkenne ich jezt klar den alleinigen Grund und Keim aller innern Spaltung und Zerrüttung und der so segenlosen Mühen“ (SBaP 5, S. 391).
Johannes Niederer (1779-1843), ein studierter Theologe, war über lange Jahre ab 1803 ein enger Mitarbeiter Pestalozzis in Burgdorf und Yverdon. Von Pestalozzi an Niederer sind 69 Briefe erhalten und weitere erschlossen und von Niederer an Pestalozzi werden über 150 teilweise sehr ausführliche Briefe wiedergegeben, die ein lebhaftes Bild des Verhältnisses von Niederer zu Pestalozzi belegen.
In den ersten Briefen ist Niederer voll Anerkennung und Begeisterung für Pestalozzi und schreibt nach einem Besuch bei Pestalozzi und vor seinem Eintritt in Burgdorf am 3. Oktober 1800: „Freund! mein Herz fliesst über von Dank und Empfindung! Schon haben Sie edeln Samen ausgestreut; die Garben werden nicht ausbleiben.“ (SBaP 1, S. 382) und am 9. Juni1803 kurz vor seinem Eintritt in Burgdorf: „Ich komme, Ihr Kind zu sein; aus Ihrem Umgange, Ihren Lehren, Ihrer Liebe, Weisheit und Kraft einzusaugen. Mit heisser Sehnsucht erwarte ich die Stunde, die mich ganz zum Ihrigen, zum Eingeweihten in Ihr Herz und in Ihr Werk machen muss.“ (SBaP 1, S. 602-603). In den Briefen ab 1808 zeigen sich erste Unstimmingkeiten zwischen Niederer und Pestalozzi: „Es war ein glänzendes Loos als Bestandtheil an ihrem Werke zu würken, ich bin aus diesem Himmel gefallen. Aber sie werden mir dieses Unglück nicht durch Entziehung ihrer Achtung und Liebe unerträglich machen.“ (SBaP 2, S. 465). In den Jahren 1813/1814 eskaliert der Streit, am 1. September 1814 schreibt Niederer: „Ich bin überzeugt, dass fast kein Lehrer sich wohl und glücklich fühlt, dass keiner beinahe der Anstalt treu und innig anhängt, und jeder sie verlassen würde wenn es ihm schickte.“ (SBaP 4, S. 134). Die unversöhnliche Feindschaft zu Josef Schmid wird im Brief vom 5. Januar 1816 deutlich: „Sein (Schmids) niedriger pädagogischer Standpunkt, sein Anschliessen an das verhaste, gemeinste und ungebildeteste, sein Eingreifen in Sphären, die seinem ganzen Wesen fremd sind und von derer Natur er keine Ahnung hat ...“ (SBaP 4, S. 275), und er erklärt am 7. Januar 1816 unter den herrschenden Umständen nicht mehr das Institut zu betreten (SBaP 4, S. 277). Nach der öffentlichen Trennung von Pestalozzi inmitten seiner Predigt während des Konfirmationsgottesdienstes an Pfingsten 1817 geht es in der Folgezeit nur noch um gegenseitige finanzielle Forderungen, den Streit um die Übertragung eines Grundstücks, um das Verhältnis zum Töchterinstitut von Niederers Frau Rosette Niederer-Kasthofer und um die Rückforderung von Korrespondenz und Büchern. Das unversöhnliche Verhältnis zu Schmid und die zerrütteten Verhältnisse eskalieren schliesslich bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen.
Mit der Veröffentlichung der Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi ist ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit Pestalozzi erschienen. Die Ausgabe orientiert sich allerdings am editorischen Erscheinungsbild der von Dejung bearbeiteten ersten 13 Bände der Briefausgabe aus den Jahren 1946-1971. Die Herausgeber haben jedem Brieftext die Überlieferung, eine Textkritik und eine Sacherklärung beigefügt. Eine kurze Biographie des Briefabsenders steht in der Sacherklärung des ersten Briefs dieses Absenders. Am Ende eines jeden Bandes befindet sich ein Register der Briefabsender und ein Register der Namen und Körperschaften. Es fehlt ein Gesamtregister mit dem sich Briefabsender und Namen und Körperschaften gesamthaft erschliessen lassen, statt in den Registern aller 6 Bände einzeln suchen zu müssen.
Der von Werder bearbeitete und 1995 erschienene Nachtragsband der Briefreihe (PSB 14) zeigt gegenüber den von 1946-1971 erschienenen Briefbänden (PSB 1-13) ein deutlich verändertes editorisches Erscheinungsbild mit einem wesentlich umfangreicheren Anhangteil, der Aufnahme von Rechnungen und Quittungen und vor allem der Beigabe zahlreicher Faksimiles, wodurch einmal die Schwierigkeit der Transkriptionen deutlich wird, z.B. im Brief an Albrecht Rengger (PSB 14, S. 70-72 u. I-IV) oder im Brief an Franz Adam Lejeune vom Mai 1811 (PSB 14, S. 139-140 u. I-IV). Im Vergleich zu dieser Edition zeigen sich grosse Defizite der Briefe an Pestalozzi, es sind keinerlei Faksimiles enthalten, die neben der Schwierigkeit der Transkription auch gleichzeitig deren Sorgfalt und Korrektheit aufzeigen könnten. Dies wäre umso wichtiger, als die Brieforiginale eine sehr unterschiedliche Lesbarkeit aufweisen. Während Blochmann in einer sehr gut lesbaren ‚Schönschrift’ schreibt, sind die Briefe Pestalozzis oft nur schwer zu entziffern und unter den Briefen an Pestalozzi weisen vor allem die zahlreichen Briefe von Johannes Niederer eine besonders schwierige Lesbarkeit auf.
Abschliessend lässt sich sagen, dass mit der Veröffentlichung der Briefe an Pestalozzi eine wesentliche Ergänzung zu den Briefen von Pestalozzi und auch der Veröffentlichung seiner Sämtlichen Werke vorliegt. Allerdings orientieren sich die Herausgeber am Stand der Edition der von Dejung bearbeiteten Briefe Pestalozzis aus den Jahren 1946-1971 (PSB 1-13). Eine Übernahme der von Werder im Nachtragsband der Briefe Pestalozzis aus dem Jahr 1995 (PSB 14) weiterentwickelten Editionsgrundsätzen hätte den Herausgebern der Briefe an Pestalozzi zwar einen grösseren Arbeitsaufwand abverlangt, aber das Ergebnis hätte dieser Edition dafür einen deutlich höheren Stellenwert in der Auseinandersetzung mit Pestalozzi eingebracht. Mit der Beigabe von Faksimiles, einem ausführlicheren textkritischen Apparat und der Erstellung von differenzierteren Registern hätte diese Edition der Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi zudem einen anschaulichen Blick in die nicht nur für Pestalozzi-Spezialisten interessante zeitgenössische Korrespondenz öffnen können und wäre damit auch dem von den Herausgebern mehrfach hervorgehobenem Grundsatz der Kontextualisierung stärker gerecht geworden. (vgl. Vorwort, SBaP 1, S. V-VIII).
(Gerhard Kuhlemann)