"Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens" (1797), kurz: "Fabeln"
Einführung
"Fabeln" ist in der 2. Fassung von 1803 der eingängige Titel dieser 279 kurzen Geschichten, die jeweils unabhängig voneinander gelesen werden können. In der ersten Fassung von 1797 und ebenso in der 3. Fassung aus der Cotta-Ausgabe von 1823 trägt die Schrift den nicht ohne weiteres verständlichen Titel "Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens". Die Sammlung dieser kleinen Geschichten entstand über den langen Zeitraum eines Jahrzehnts von 1780 bis 1790 und die einzelnen Geschichten sind - wie die noch vorhandenen Handschriften zeigen - von Pestalozzi wieder und wieder umgearbeitet und sprachlich ausgefeilt worden. Die einzelnen Fabeln dieser Sammlung haben für heutige Leser eine sehr unterschiedliche Qualität und Länge: einmal sind sie kurz und allgemein verständlich und ihre Aussage erschließt sich leicht, ein andermal sind sie schwer zu lesen und ohne Vorkenntnisse der Zeit und der persönlichen Verhältnisse Pestalozzis kaum verständlich. Beim Lesen der Fassung von 1823 fühlt man sich zudem oft durch Pestalozzis interpretierenden und erklärenden Zusätze zu sehr belehrt und verschiedentlich geradezu geschulmeistert. Pestalozzi beschreibt in der "Vorrede" zur Ausgabe von 1823 sein Vorgehen:
"Ich habe desnahen, ohne demjenigen im geringsten vorgreifen zu wollen, was ein jeder beim Lesen dieser Schrift gerne selber denkt, dennoch gut gefunden, in dieser neuen Ausgabe hie und da einen Wink zu geben, in welcher Ausdehnung oder in welcher Beschränkung ich meine Figuren selber ins Aug' gefaßt habe. Zu diesem Endzwecke, und auch damit diejenigen meiner Leser, die in diesen Figuren gar nicht zu denken finden möchten, wenigstens auf eine, wenn auch einseitige Ansicht dessen, was sich dabei denken läßt, hingeführt werden, habe ich gut gefunden, fast einer jeden dieser Figuren nach dem Zeichen --- einen meist ganz kleinen Zusatz beizufügen, der den Leser wenigsten von einer Seite auf das Wesentliche des Gesichtspunkt, den ich bei jeder Figur selber im Auge hatte, aufmerksam zu machen geeignet ist." (PSW 11, S. 94)
Pestalozzis Fabeln sind zumeist dem Tier- und Pflanzenreich und dem bäuerlichen Leben entnommen. Die einzelnen Geschichten haben fast immer einen gesellschaftspolitischen Hintergrund und kreisen um den Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit, um das Verhältnis von Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand, um das eigene Selbst, um Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und Unterdrückung. Die Entstehungszeit dieser "Figuren" liegt zeitgleich mit den "Nachforschungen" und der Schrift "Ja oder Nein" und ihre Themen stehen mit diesen beiden Schriften in einem engen inhaltlichen Zusammenhang.
Pestalozzi schwankte in seiner Titelgebung zwischen "Fabeln" und "Figuren", er konnte kein Fabeldichter im Sinne der Aufklärung mehr sein, seine "Figuren" verbinden Elemente von Fabeln, Parabeln, Gleichnissen, Beispielerzählungen, Kurzdialogen und Kurzessays zu einer eigenwilligen Form von Kurztexten, mit denen Pestalozzi seine philosophisch-anthropologische und seine gesellschaftspolitische Position anschaulich machen will. Der Zusatz "zu meinem ABC-Buch" verweist nicht auf einen pädagogisch-didaktischen Ansatz der einzelnen Geschichten, sondern steht für die grundlegende Funktion, die diese Geschichten für sein eigenes Denken einnehmen. Die "Fabeln" wenden sich - entgegen weitverbreiteten Vorstellungen in Allgemeinenzyklopädien und anderen Nachschlagewerken - keinesfalls an Kinder, sondern belegen zuallererst Pestalozzis anthropologische Position, wonach der Mensch die Vorstellung eines künftigen, sittlich-humanen Menschen zwar als utopische Bestimmung in sich trägt, diese aber - insoweit Utopie - nicht erreichen kann.
Im folgenden werden einige kurze Fabeln bzw. Figuren wiedergegeben, deren Aussagen sich auch dem heutigen Leser sofort erschließen. Eine längere Geschichte, die sich der heutige Leser erst erarbeiten muß, zeigt deutlich die philosophisch-anthropologische Denkweise und Fragestellung Pestalozzis. Diese Texte werden jeweils mit Pestalozzis erklärenden Zusätzen aus der Fassung von 1823 wiedergegeben. Zum Schluß folgt Faksimile und Transkription der "Fabel" bzw. "Figur" "Der alte Thurm", deren Manuskript zusammen mit einigen weiteren Texten erst 1948 aufgefunden wurde, und die zusammen im Nachtragsband der Werkausgabe von 1996 veröffentlicht sind (PSW 29, S. 157-163).
Eine ausführliche Interpretation der Fabeln hat Stefan Nienhaus mit dem Text "Nationalerziehung und Revolution: Johann Heinrich Pestalozzis Fabeln als politische Allegorien" vorgelegt.
Eine Zusammenstellung ausgewählter Fabeln finden Sie unter "Ausgewählte Fabeln". Das Faksimile des Textes "Der alte Turm" und "Ein Waldstrohm".
Zum Autor
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Prof. Dr. Gerhard Kuhlemann
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