Die Abendstunde eines Einsiedlers
Einer der Wenigen, die noch an Pestalozzi glaubten, als er gegen 1780 erneut scheiterte und seine Armenanstalt schließen mußte, war der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin. Dieser veröffentlichte in seiner ethisch-politischen Zeitschrift "Ephemeriden der Menschheit" im Mai 1780 Pestalozzis erste bedeutende Arbeit: "Die Abendstunde eines Einsiedlers". Pestalozzi hatte dieser Schrift bewußt eine programmatische Funktion zugedacht. "Sie ist Vorrede zu allem, was ich schreiben werde", lesen wir in seinem Brief vom 29. Sept. 1780 an Isaak Iselin [PSB 3, S. 96.]. Tatsächlich sind hier viele der tragenden Gedanken des späteren Pestalozzi im Ansatz vorweggenommen. In seinem Roman "Lienhard und Gertrud" hat er dann die in dieser Schrift entwickelten Grundsätze ins konkrete Leben zu übersetzen gesucht.
Nach Eduard Spranger (Pestalozzis Denkformen, Stuttgart 1947, S. 11) lassen sich in Pestalozzis Denken einige typische, immer wiederkehrende Grundformen nachweisen. Von diesem Ansatz her lässt sich die Komplexität personalen und gesellschaftlichen Seins, wie sie der Sichtweise der "Abendstunde" zu Grunde liegt, durch eine Vorstellung konzentrischer Lebenskreise erfassen. Der erste und zugleich wichtigste der äusseren Kreise ist die Familie. In den nächsten Verhältnissen der Wohnstube erfährt das Individuum durch die Auseinandersetzung mit der konkreten dinglichen und personalen Umwelt sich selbst, hier entfalten sich seine Kräfte, hier bildet sich echter Wahrheitssinn, und hier findet der Mensch Erfüllung seines irdischen Daseins in der liebenden Begegnung und durch den stillen Genuss häuslichen Glücks und innerer Ruhe. Der nächste Kreis ist gegeben durch das Leben im Beruf. In der Sorge um das tägliche Brot nimmt der Einzelne Anteil an einem Bereich eines grösseren gesellschaftlichen Zusammenhangs, ohne die Verwurzelung im engen Kreis zu durchschneiden. Den äussersten Kreis bildet das Volksganze, der Staat. Auch er soll stets auf den engsten Kreis bezogen bleiben. Er soll nicht nur das häusliche Glück des Einzelnen sichern, er soll selbst eine Familie im grossen verkörpern: Fürst und Untertan stehen zueinander im Verhältnis wie Vater und Kind.
Der einzelne Mensch steht nun nicht nur im Zentrum dieser drei äussern, freilich ineinanderfliessenden Lebenskreise, er begegnet zwei weiteren Kreisen in sich selbst. Da ist er vorerst mit einer Welt von Trieben, Bedürfnissen, Instinkten und Anlagen konfrontiert, mit denen er durch die Auseinandersetzung mit den äussern Kreisen in ein rechtes Verhältnis kommen muss. Und im Innersten seines Wesens findet er zuletzt Gott. Darum ist Gott "die näheste Beziehung der Menschheit" (PSW 1, S. 273), und darum darf jeder Mensch seinem "innern Sinn" als einem "sichern Leitstern" vertrauen. Glaube an Gott und die Unsterblichkeit sind daher dem Menschen natürlich, und die Sünde besteht im Nichthören auf die eigene innere Stimme, d.h. der Unglaube ist das Unnatürliche. Die Erziehung muss infolgedessen danach trachten, den Kindersinn im heranwachsenden Menschen zu erhalten, damit dieser als Kind Gottes seine künftigen Familien-, Berufs- und Staatspflichten erfüllt. Die Familie ist nur darum Modell des Staates, weil sich auch in ihr das Fundamentalverhältnis zwischen Vater-Gott und Menschen-Kind widerspiegelt. Damit erweist sich Pestalozzis Vorstellung des idealen Staates, in dem jeder an seinem Platz als Gotteskind die Vater- und Kinderpflichten erfüllt, als seine - freilich eigenwillige - Vision des Reichs Gottes.
Nun kann der Einzelne allerdings nur dann zur innern Ruhe kommen und damit zum Segen für seine Mitmenschen werden, wenn seine naturgegebenen Anlagen auf natürlichem Weg zu wahrer Menschenweisheit "emporgebildet" werden. Ausgang sind die liebende Beziehung zwischen Mutter und Kind und die nächsten Verhältnisse. In der Auseinandersetzung mit dem konkret Zuhandenen, mit den vielfältigen Bezügen der Natur, findet der Mensch Wahrheit und bildet sich in ihm Kraft. Die Schule, die Vielwissen erzeugt, Worthülsen statt Realkenntnisse vermittelt, die Einzelerscheinung in starre Systeme presst und sie dadurch aus ihrem natürlichen Zusammenhang herausreisst, diese Schule führt den Menschen ab von der Bahn der Natur und verkünstelt ihn. Was dem Menschen frommt, ist eine natürliche Entwicklung seiner Möglichkeiten, er vervollkommnet sich in Substanzerhaltung und Wachstum. Insofern ist menschliches Leben in der ,Abendstunde" im Bilde der Pflanze gesehen, die in natürlicher Entfaltung dem Licht entgegenwächst, wenn man sie nur nicht aus ihrem gewohnten Kreis herausreisst.
Dieser optimistische Grundton der "Abendstunde" wurzelt in Pestalozzis Idee des Menschen als ungebrochenem Ebenbild Gottes. Das Böse ist zwar in der "Abendstunde" auch gesehen, doch fehlt ihm die metaphysische Substanz. Es wird nicht als Konsequenz einer ursprünglichen Ambivalenz (oder gar einer ursprünglichen Verworfenheit) des Menschen verstanden, sondern als Mangel des Positiven, als störender Einfluss auf die natürliche Emporbildung des naturhaft Angelegten. Allem Heroischen wird entsagt, innerseelische Konflikte oder Pflichtenkollisionen finden in dieser Sichtweise keinen Raum. Dementsprechend weich und schmiegsam sind die pädagogischen Mittel: wachsen lassen, behüten, ausbilden, nicht hemmen, nicht voreilen. Die Antithese zu dieser einseitig optimistischen und harmonistischen Sicht des Menschen findet sich dann in der berühmten "Leutnantsphilosophie" im 1787 erschienenen 4. Band von "Lienhard und Gertrud", wo die Bemeisterung der naturgegebenen Selbstsucht im Zentrum pädagogischen Bemühens steht.
Gegen den Schluss der Schrift wendet sich Pestalozzi etwas überraschend an Goethe. Der Mann vom Neuhof stand damals wohl unter dem Eindruck von Goethes Erscheinen in Zürich und konnte es dem berühmten Mann vermutlich nicht verzeihen, auf seinen Fürsten Karl August von Sachsen keinen entscheidenderen Einfluss im Sinne sozialer Reformen genommen zu haben bzw. - wie es ihm schien - nehmen zu wollen.
"Der Sinn, warum er dasteht, ist folgender", schreibt Pestalozzi an Iselin: "Die Kraft seines dem Jahrhundert zugeschnittenen Genies wirkt mit Fürsten- und Herrschergewalt, wie Voltaire in seiner Zeit, und seine unbescheidene, ungläubige, alles Heiligtum der Welt nicht schonende Kühnheit ist wahre Schwäche. Wäre Vatersinn, Vateropfer Geistesrichtung des Mannes im Gebrauch seiner Kräfte, er wäre Prophet und Mann Gottes fürs Volk, jetzt Irrlicht zwischen Engel und Satan, und mir insoweit niederer Verführer der Unschuld" (PSB 1, S. 398).
Um dem Verständnis für die insgesamt schwierige Schrift etwas nachzuhelfen, entschloss sich Iselin als Herausgeber, am Schluss die folgende "Anmerkung" zu machen:
"Der Verfasser der Abendstunde hat bei Anlass einer politischen Schrift in einem Brief ähnliche Ideen geäussert, die vielleicht einigen Stellen dieses Aufsatzes Licht geben.
Ich baue, sagt er, mit Ihnen alle Freiheit auf Gerechtigkeit, aber ich sehe in dieser Welt keine versicherte Gerechtigkeit als bei der zur Einfalt, Frömmigkeit und Liebe gestimmten und in dieser Stimmung erleuchteten Menschheit. Alle Familiengerechtigkeit, welche die grösste, reinste und allgemein in aller Welt genossene Gerechtigkeit ist, hat im Ganzen nur Liebe zu ihrer Quelle - und dennoch wirkt sie, in der Einfalt aller Völker, allgemeinen Segen der Welt. So wie alle Gerechtigkeit auf Liebe ruht, so ruht auch Freiheit darauf. Reiner Kindersinn ist die wahre Quelle der Freiheit, die auf Gerechtigkeit ruht, und reiner Vatersinn ist die Quelle aller Regierungskraft, die Gerechtigkeit zu tun und Freiheit zu lieben erhaben genug ist. Und die Quelle der Gerechtigkeit und alles Weltsegens, die Quelle der Liebe und des Brudersinns der Menschheit, diese beruht auf dem grossen Gedanken der Religion, daß wir Kinder Gottes sind und daß der Glaube an diese Wahrheit der sichere Grund alles Weltsegens sei. In diesem grossen Gedanken der Religion liegt der innere Geist aller wahren Staatsweisheit, die reinen Volkssegen sucht, denn alle innere Kraft der Sittlichkeit, der Erleuchtung und Weltweisheit ruht auf diesem Grund des Glaubens der Menschheit an Gott. Und Gottvergessenheit, Verkenntnis der Kinderverhältnisse der Menschheit gegen die Gottheit, ist die Quelle, die alle Segenskraft der Sitten, der Erleuchtung und der Weisheit in aller Menschheit auflöst. Daher ist dieser verlorene Kindersinn der Menschheit gegen Gott das grösste Unglück der Welt, indem es alle Vatererziehung Gottes unmöglich macht, und die Wiederherstellung dieses verlorenen Kindersinns ist Erlösung der verlorenen Gotteskinder auf Erden.
Der Mann Gottes, der mit Leiden und Sterben der Menschheit das allgemein verlorene Gefühl des Kindersinns gegen Gott wieder hergestellt, ist der Erlöser der Welt, er ist der geopferte Priester des Herrn, er ist Mittler zwischen Gott und der gottvergessenen Menschheit, seine Lehre ist reine Gerechtigkeit bildende Volksphilosophie, sie ist Offenbarung Gottes des Vaters an das verlorene Geschlecht seiner Kinder." (PSW 1, S. 281)
Es handelt sich bei diesem bedeutsamen Text um eine Passage aus dem Brief Pestalozzis vom 9. Juni 1779 an Iselin (PSB 3, 77 ff.). In diesem nach Pestalozzis Aussage wichtigsten Brief, den er bislang jemandem geschrieben habe, legt er seinem väterlichen Freund gegenüber seine "nie geäusserten Religionsbegriffe" dar und zeigt, daß gesellschaftliche Gerechtigkeit vom Einzelnen Überwindungen erfordert, die aber nicht primär aus Einsicht, sondern um der Liebe willen geleistet werden. Und weil die Religion, insbesondere das Christentum, den Menschen zur Liebe bildet, so ist Jesu Lehre "Gerechtigkeit bildende Volksphilosophie":
"Religion ist Bildung zur Menschenliebe, folglich zum reinen gegenseitigen Sinn des Vater- und Kindsverhältnisses, zu ihrer gegenseitigen Gerechtigkeit. Grosser Gedanke der Religion, daß wir Kinder Gottes sind, bildet uns zu Brüdern, und Brudersinn und Liebe ist die einzige Quelle wirkender Menschengerechtigkeit" (PSB 3, S. 78).
Der letzte Satz der "Anmerkung" zur "Abendstunde" fasst diese Gedanken im wesentlichen zusammen. Leider musste sich dieser Satz durch die verschiedenen Herausgeber einige Entstellungen gefallen lassen. Am meisten Verwirrung gestiftet hat die aufgrund einer falschen Lesart entstandene und Pestalozzis Gedanken ins Gegenteil verkehrende Version der Kritischen Ausgabe (PSW 1, S. 281), wonach Jesu Lehre "keine Gerechtigkeit bildende Volksphilosophie" sei. Pestalozzis noch erhaltenes Original lässt indessen über die Richtigkeit der hier zitierten Fassung keinen Zweifel offen.
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Dr. Arthur Brühlmeier
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