Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts
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Was bin ich im Naturstand?
Die Art, wie die Welt mir, wenn ich mir dieselbe, mitten in der bürgerlichen Gesellschaft lebend, als ein für mich selbst bestehendes Tier vorstelle, ist gar nicht die nämliche mit derjenigen, wie ich mir dieselbe im wirklichen Naturstand meines Geschlechts vorstellen kann, und vorstellen muß. Naturstand, im wahren Sinn des Worts, ist der höchste Grad tierischer Unverdorbenheit.
Der Mensch in diesem Zustand ist ein reines Kind seines Instinkts, der ihn einfach und harmlos zu jedem Sinnengenuß hinführt.
Voll Wohlwollen liebt er seine Gazelle, seine Marmotte [groteske Puppe], sein Weib, sein Kind, seinen Hund, sein Pferd, er weiß nicht was Gott und was Sünde ist, einen Teufel fürchtet er nicht [in der gedruckten Fassung steht „leicht“, aber das ist ohne Zweifel ein Verschrieb], Licht, Wald und Flur sind ihm heilig, wie sie Gott schuf, die aufgebrochene Erde ist ihm ein Fluch, er wechselt seine Stunden zwischen Schlaf und Sinnengenuß; Trunkenheit des Geistes, Leerheit des Kopfes und das Versinken in taumelndes Träumen ist ihm Wonne des Lebens; er liebt Spiel, Wein, Mädchen und Märchen; den fremden Mann führt er in seine Hütte und fragt ihn, nachdem er gegessen und getrunken, woher er komme und wie es in seinem Land gehe; für den morgenden Tag steht er dir heute nicht vom Stuhl auf, er gibt seine einzige Kuh für gläserne Korallen, und das Leben des künftigen Jahres kauft er dir nicht um die Pfeife Tabak, die er im Munde hat.
So lebt er auf der ganzen Erde, wenn er ohne Anstrengung Sinnengenuß und ohne Sorgen Sicherheit findet. Aber wir nennen ihn doch noch Naturmensch, wenn er seinen Sinnengenuß längst mit Anstrengung und seine Sicherheit längst mit Sorgen erkauft hat. Er wirft jetzt den Wurfspieß, mit dem er den Feind tötet, zur täglichen Übung an die Wand, er achtet seinen Bogen höher als Weib und Kind; wir nennen ihn doch noch Naturmensch.
Jünglinge versammeln sich hinter ihm in Reihen, er führt sie zum Streit an; wir nennen ihn doch noch Naturmensch. Jetzt ist in seinem Busen kein Wohlwollen mehr, sein Weib ist seine Sklavin, der schwächere Mann sein Knecht; wir heißen ihn doch noch Naturmensch.
Wer ihm im Wege steht, den tötet er, wer ihm ausweicht, der muß ihm dienen; wir heißen ihn doch noch Naturmensch. Er kennt jetzt die unsterblichen Götter, aber er sagt mit den Zyklopen: Wir sind besser als sie; wir nennen ihn doch noch Naturmensch.
Die Welt, die ihn umgibt, zittert vor seiner Stirne, sein Wille ist seines Nachbarn Gesetz, er behauptet ihn mit Geißel, mit Schwert, mit bindenden Stricken, er jagt das genossene Weib und den erzeugten Sohn aus seiner Höhle; noch nennen wir den Barbaren Naturmensch.
Jetzt ist ihm Berg und Flur nicht mehr heilig, wie sie Gott schuf, die aufgebrochene Erde kein Fluch mehr; soweit er den schwächeren Mann fliehen gemacht, nimmt er die Erde in Anspruch, das heißt: er nimmt sie zuerst ganz, und teilt dann, was ihm weder zum Nutzen noch zur Lust dient, zu Lehen und um Zins aus.
Jetzt nennen wir ihn nicht mehr Naturmensch. Wenn der Ochs' am Pfluge geht und der Mensch um des Zinses willen vor der Sonne aufsteht, so sagen wir: Er ist in den gesellschaftlichen Zustand hinübergegangen.
Er geht zwar nicht einzig auf diesem Wege in denselben hinüber. Wenn in Asiens fetten Weiden die Stämme der unbefleckten Hirten sich mehren, so marken sie ihre Weiden oft friedlich, bauen den milden Boden zufrieden und einig, werden arm und reich, kennen Eigentum und Recht ohne die Gewaltverhärtung unserer Zeit; sie gehorchen dem Mann, der die Vorwelt gesehen; oft lehren auch Sänger das träge Geschlecht Arbeit und Fleiß und sich fürchten vor dem heiligen Blut.
Immer enden wir in unseren Begriffen den Naturstand erst da, wo der Zustand unseres Geschlechts in einem hohen Grad verwickelt und mühselig zu werden anfängt.
Bis auf diesen Punkt nennen wir den Menschen in unendlich verschiedenen Abstufungen seines Daseins immer Naturmensch. Aber wir teilen ihn in diesen Abstufungen in den verdorbenen und unverdorbenen Naturmenschen. So lange er einfach und harmlos an der Hand des Instinkts, leichten Sinnengenuß findet, nennen wir ihn einen unverdorbenen Naturmenschen; wenn er aber diesen Sinnengenuß nicht mehr sorgenlos und leicht findet und dadurch seine Harmlosigkeit und sein tierisches Wohlwollen dahingeht, so heißen wir ihn einen verdorbenen Naturmenschen.
Aber wir setzen die Grenzen der Unverdorbenheit des Naturmenschen zu weit und bestimmen den Anfang seines Verderbens nicht richtig. Wir nennen ihn noch lange Naturmensch, wenn die Art und Weise, wie die Welt seiner tierischen Begierlichkeit ins Auge fällt, schon längst durch Rücksichten auf den gesellschaftlichen Zustand bestimmt ist [Vorlage: sind].
In allen Epochen seines tierischen Verderbens bis an die Grenzen der gänzlichen Unterjochung seines Instinkts unter anerkannte und ausgesprochene Gesetze des gesellschaftlichen Zustands, bis an die Grenzen wo Könige, Gesetze, Schwert und Beruf ihm den Instinkt bis an seine Wurzel auslöschen, bis an die Grenzen, in welchen er der vollendeten Schiefheit und Verhärtung des gesellschaftlichen Zustands unterliegt, nennen wir ihn immer Naturmensch.
Aber worin besteht denn die Unverdorbenheit des Naturmenschen, von was für einem Punkt seines Daseins geht sie aus? Und was ist ihr Wesen? Sie geht unstreitig von der Behaglichkeit aus, die allgemein aus der leichten Befriedigung unserer Wünsche, die ohne Anstrengung, ohne Schmerz, ohne Abhänglichkeit von irgendeiner unsicheren Sache und von irgendeinem unsicheren Willen Platz hat, entspringt. Aber ist ein solcher Zustand unseres Geschlechts denkbar? Lebten die Menschen jemals in gänzlicher Unkunde des Übels? Ohne Besorgnisse, ohne Mißtrauen, und ohne Abhänglichkeit von irgendeiner unsicheren Sache, von irgendeinem fremden Willen?
Diese Frage ist die nämliche mit derjenigen: Gibt es einen Zeitpunkt, in welchem der Kinderzustand des Menschen ganz rein ist? Das ist, in welchem das Kind ganz ohne Kenntnis des Übels, des Schmerzes, des Hungers, also ganz ohne Leiden, ohne Besorgnisse, ohne Mißtrauen und ohne Abhänglichkeits- und Unsicherheitsgefühl in der Welt lebte?
Allerdings gibt es einen solchen Zustand, es ist der Augenblick, in welchem das Kind auf die Welt kommt. Aber so wie dieser Augenblick da ist, so ist er vorüber. Beim ersten weinenden Laut, ist der Punkt schon überschritten, von dem die tierische Harmlosigkeit des Kindes eigentlich ausgeht.
Von diesem ersten Laut an entfernt sich das Kind mit jedem Gefühl eines unbefriedigten Bedürfnisses, eines unerfüllten Wunsches, eines jeden Schmerzes immer weiter von diesem Punkt ins Unendliche.
So wie seine Erfahrungen wachsen, kommt es in Proportionen, die sich immer verdoppeln, von dem Punkt weg, von dem die Reinheit seiner Unschuld eigentlich ausgeht.
Also der Mensch, wie er aus der Hand der Natur kommt, ist er ganz Unschuld, und es scheint unstreitig, die innere Reinheit seiner Natur und die wirkliche Unverdorbenheit derselben geht von dem Punkt dieser Unschuld aus, den wir freilich an ihm nur ahnden, aber nicht kennen. Sie waren bei ihm, wie beim Kinde, in dem Augenblick da, da es ganz ohne Kunde des Übels lebte; sowie sie da war, ging sie vorüber, mit der Erkenntnis des ersten Irrtums der ersten Täuschung war der Punkt schon überschritten, von dem die Unverdorbenheit seiner Natur eigentlich ausgeht.
Von diesem Augenblick an entfernt sich der Mensch, wie das Kind, mit jedem Irrtum, mit jeder Täuschung immer weiter von diesem Punkt bis ins Unendliche.
So wie seine Erfahrungen wachsen, so wie er das vergangene Übel kennt, das zukünftige fürchtet und vom gegenwärtigen leidet, also kommt er in Proportionen, die sich immer verdoppeln, von dem Punkt weg, auf dem die Unverdorbenheit seiner Natur eigentlich ruht. Unser tierisches Verderben entspringt aus allem dem, was dem guten Zustand unseres tierischen Daseins entgegensteht.
Wir sind aber als Tiermenschen nicht bloß dann verdorben, wenn wir einen Höcker haben und lahm sind, sondern auch wenn wir die Fähigkeit verloren haben, in Sachen, die unser tierisches Wohlsein betreffen, als Tiermenschen richtig zu urteilen, als solche uns kraftvoll und konsequent zu helfen und als solche unsere Tage beruhigt und wonnevoll zu verträumen.
Das tierische Verderben unserer Natur fängt also von dem Punkt an, wo der Takt unserer tierischen Natur, der Instinkt, und die Saite unserer tierischen Harmonie, unser tierisches Wohlwollen, anfängt, in uns kraftlos und unsicher zu werden. Die Unverdorbenheit meiner tierischen Natur wäre folglich das Befinden meiner selbst in dem Zeitpunkt, in welchem weder mein Instinkt noch mein Wohlwollen in mir angefangen hatten, ihre Kraft zu verlieren.
Ich habe eine Art Bewußtsein des wirklichen Daseins eines solchen Zeitpunkts.
Ich besitze eine Fähigkeit, mich selbst im Genuß der vollen Kraft meines Instinkts und der ganzen Reinheit meines Wohlwollens zu denken, wie ich mich, wenn ich einen Arm oder ein Bein im Mutterleib verloren hätte, dennoch im Besitz dieses Gliedes denken könnte.
Durch diese Fähigkeit erzeuge ich in mir selbst das Bild der Unschuld, die ich verloren, das ist: eine Vorstellung von der Beschaffenheit meiner selbst außer meinem Verderben. Diese Unschuld aber fällt mir in einem gedoppelten Gesichtspunkt ins Auge.
Im ersten, wie ich beschaffen sein würde, wenn der Eindruck des Übels gar nicht auf mich gewirkt hätte: Im anderen, wie ich beschaffen sein würde, wenn der Eindruck des Übels wieder in mir ausgelöscht wäre. Wenn ich dann mit dem letzten Gesichtspunkt die Kraft verbinde, zu streben nach dem Edelsten, Besten, das ich erkenne und das ich suchen soll, so wird dieses Bild der Unschuld in mir das Ziel der Vollkommenheit, wonach ich strebe, das ist: das Fundament meines sittlichen Zustands. Aber niemals kann es das Fundament meines gesellschaftlichen Rechts sein.
Es läßt sich an den Punkt, von welchem die Unverdorbenheit des Naturstands eigentlich ausgeht, so wenig ein Begriff eines Rechts anknüpfen als an denjenigen, von welchem die Harmlosigkeit des Kinderstandes eigentlich ausgeht. Ohne Bewußtsein des Unrechts kommt der Begriff des Rechts und ohne Leiden des Unrechts das Gefühl des Rechts nicht in meine Seele.
Daher ist jeder Rechtsbegriff ein gesellschaftlicher Begriff und jedes Rechtsgefühl ein gesellschaftliches Gefühl und also der Begriff eines Naturrechts, rein genommen, nichts anderes als eine Täuschung. Da sich aber das gesellschaftliche Gefühl des Rechts wirklich an die äußersten uns bekannten Grenzen, von denen der Zustand unser selbst, den wir Naturstand heißen, ausgeht, anschließt, so heißen wir jeden Begriff des gesellschaftlichen Rechts, insofern wir ihn als diesen Grenzen nahe stehend anerkennen, ein Naturrecht.
Dieses Naturrecht aber ist nichts anders als eine einfache Folge des Gefühls, daß die Einrichtungen, Verkommnisse und Verträge des gesellschaftlichen Lebens alle auf Regeln und Grundsätzen ruhen sollen, die mit unserer unverdorbenen Natur, das ist, mit uns selbst, insofern das tierische Wohlwollen unserer Natur noch nicht in uns selbst zugrunde gerichtet, übereinstimmend sind.
Wir wollen nämlich, daß der Mittelbegriff zwischen jeder Forderung und jeder Schuldigkeit, das ist, unsere Vorstellung von Recht und Pflicht, auf Gründen ruhen, die dem Edelsten, Besten, das wir zu erkennen vermögen, nicht widersprechen. Dieser Wille in uns selbst ist also die Quelle dessen, was wir Naturrecht heißen.
Aber das Naturrecht, oder vielmehr die gesellschaftlichen Begriffe, die wir Naturrecht heißen, sind gar nicht die Quelle dieses Willens. Es liegt von diesem Recht im unentwickelten tierischen Menschen bestimmt und allgemein gar nichts als der Trieb zur Selbsterhaltung. Die Art und Weise aber, wie dieser Trieb unser Geschlecht durch seine Erfahrungen zu Gefühlen und Neigungen hinführt, die mit dem, was wir Naturrecht heißen, gänzlich übereinstimmen, ist diese:
Vermöge dieses stärksten aller meiner Triebe empört sich das Innerste meiner Natur gegen alles, von dem ich zu erkennen vermag, daß selbiges mittelbar oder unmittelbar meinem tierischen Wohlstand und meinem tierischen Dasein Gefahr und Nachteil bringen könnte:
Dadurch lerne ich die mich in dieser Welt umgebenden Gefahren kennen.
Unzweideutige Erfahrungen überzeugen mich, daß mein Geschlecht im gesellschaftlichen Zustand fähig ist, auf eine solche Art gegen mich zu handeln, wie ich nach dem tierischen Wohlwollen, wovon wenigstens immer noch eine Regung in meiner Brust bleibt, mich nicht fähig glaube, gegen meinen Nebenmenschen handeln zu können:
Dadurch führt meine Selbstsucht mich ganz einfach und notwendig auf den Begriff, es wäre gut, daß keiner von dem anderen eine feindselige Handlungsweise zu befahren hätte. Ich kann nicht anders: Wenn ich den getöteten Mann vor meiner Türe sehe, so führt mich meine Selbstsucht bei seinem Anblick selber unwillkürlich und notwendig auf den Gedanken, die Menschen könnten mich töten, wie sie ihn getötet haben. Dieser Gedanke ruft einen zweiten: Es wäre gut, daß keiner getötet würde, ich nicht und er nicht. Und dieser in Verbindung mit dem tierischen Wohlwollen bringt dann notwendig die Gemütsstimmung hervor, in welcher der Mensch alsdann durch seine Selbstsucht selber das gesellschaftliche Gebot, du sollst nicht töten, erschafft. Er hebt es aber eben durch diese Selbstsucht augenblicklich wieder auf, sobald es mit den starken Gefühlen seiner wahren oder geglaubten Selbsterhaltung in Streit kommt. Gewiß ist dieses Gebot, so wenig als jeder Begriff des vor uns so geheißenen Naturrechts, ganz und gar keine Folge eines von den Grundgefühlen unserer tierischen Selbsterhaltung unabhängigen und selbständig in uns liegenden Gefühls von irgendeinem Recht.
Der Trieb der Selbsterhaltung ist wesentlich individuell; ohne gesellschaftliche Erfahrungen ist er von dem Gefühl der Teilnehmung sowie von dem Begriff von Recht und Unrecht gänzlich entblößt, er wird aber teilnehmend, insofern gesellschaftliche Erfahrungen ihn durch Vereinigung der Gefühle unserer Selbstsucht und unseres Wohlwollens teilnehmend machen. Der Begriff eines Naturrechts kommt also offenbar als eine Folge von Gefahren zum Vorschein, von denen beunruhigt wir den Mangel eines Rechts in der Welt, zugleich aber auch eine Kraft in uns selbst zu erkennen vermögen, ein solches durch unseren Willen zu erschaffen.
Eben dieses ist auch vom gesellschaftlichen Vertrag wahr. Ursprünglich liegt von demselben in uns selbst nichts als eine Kraft zu empfinden, daß kein solcher Vertrag in der Natur ist, daß wir aber eine Kraft besitzen, einen solchen durch unseren Willen in die Natur hineinzubringen.
Das Gefühl des Unrechtleidens ist der Boden, aus dem der Begriff des Rechts im menschlichen Geist entkeimt. Deswegen ist die individuelle Beschaffenheit dieses Gefühls für den Menschen von der ersten Wichtigkeit, seine Wahrheits- und Rechtsempfänglichkeit ist gänzlich eine Folge der Unverdorbenheit oder vielmehr des guten Zustands dieses Gefühls. Wenn die Eindrücke des Unrechtleidens sich in meinem Innersten mit Wohlwollen und mit einem Bestreben nach Vollkommenheit verbinden, so erzeugen sie in mir reine Begriffe von Wahrheit und Recht, ich kann dann nicht anders, ich biete meinem Geschlecht freundlich die Hände.
Wenn dieses aber nicht ist, wenn mein Gefühl beim Unrechtleiden in meinem Innersten ohne Wohlwollen tobt und mit keinem Streben nach innerer Veredelung verbunden ist, so erzeugt mein leisestes Ahnden, daß mir Unrecht geschehen könnte, jede Greueltat, deren meine Natur fähig ist. Der tierische sowie der gesellschaftliche Mensch erlaubt sich alles Unrecht, damit ihm nicht Unrecht geschehen könne. Auch die Repräsentation der Gesellschaft, die Regierung, tut das nämliche, sie ist im Augenblick gewaltsam und grausam, wenn sie fürchtet, Unrecht zu leiden.
Die gesellschaftliche Bildung als solche schützt das innere meines Wesens nicht vor den einfachen Folgen meiner tierischen Selbstsucht.
Nur als sittliches Wesen vermag ich mich selbst durch meinen Willen dahin zu erheben, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.
Als tierisches Wesen verhärtet mich die entfernteste Ahndung des Unrechtleidens.
Als solches verwildere ich beim wirklichen Unrechtleiden; als sittliches Wesen werde ich durch die Ahndung und durch das Leiden des Unrechts weise und sanft.
Was bin ich im gesellschaftlichen Zustand?
Der gesellschaftliche Zustand besteht wesentlich in Einschränkungen des Naturstandes.
Aber der Mensch schränkt die Wonne dieses Standes nicht ein, bis er muß, und er muß es nicht, bis er in diesem Stand tief verdorben und sein tierisches Wohlwollen in demselben dahin ist.
Er tritt also, in seinen Grundlagen verhärtet, als ein verdorbener Naturmensch in den gesellschaftlichen Zustand. Er hat auch beim Übergang in denselben den bestimmten Zweck, die Folgen, die sein tierisches Verderben auf seine tierische Glückseligkeit hat, zu mildern und sich durch die Schranken dieses Zustands sicherzustellen, die Bedürfnisse seiner tierischen Natur sich leichter, sicherer, befriedigender zu verschaffen, als er selbige bei der Vorstellungsart, die ihm in diesem Zustand möglich ist, sich in der Freiheit des Naturlebens verschaffen könnte.
Auch braucht der Mensch im gesellschaftlichen Zustand zur Erreichung seines Zwecks keine anderen Mittel, als diejenigen, die er im Naturstand zur Befriedigung seines Instinkts auch gebraucht hat, tierische Kraft.
Aber diese Kraft ist durch sein tierisches Verderben, schon ehe er in diesen Zustand getreten, geschwächt, und die Maßregeln der gesellschaftlichen Ordnung sind nichts weniger als dazu gemacht, diese Kraft wiederherzustellen, im Gegenteil: Sie zernichten in ihrem Wesen die harmlose Behaglichkeit des Naturstandes, sie zerstören die Sorglosigkeit seines Allrechts, sie binden unser Dasein an einen schwerfälligen Verdienst und an ein mühseliges Leben; selbst indem sie unsere Genüsse vervielfältigen, erhöhen sie unsere Lasten und erheben Ungleichheiten, die wir im Naturstand kaum achten, zu den bittersten Gefühlen. Das alles hat auf den Zweck, um deswillen der Mensch in die bürgerliche Gesellschaft tritt, den entscheidenden Einfluß, daß er denselben durch diesen Schritt nicht erhält.
Einfacher Genuß ist das Teil des Naturstandes. Hoffen und Harren ist das Teil des gesellschaftlichen Lebens. Es kann nicht anders sein: Die ganze Stellung des gesellschaftlichen Lebens ruht auf Vorstellungen von Sachen, die im Grunde eigentlich nicht da sind, das ist: sie ist Repräsentation. Eigentum, Erwerb, Beruf, Obrigkeit, Gesetze sind alles künstliche Mittel, meine tierische Natur beim Mangel tierischer Freiheit dennoch zu befriedigen.
Eigentum ist Repräsentation meiner Naturkraft zu meiner Erhaltung. Gesetz, Obrigkeit Repräsentation meiner Naturkraft zu meiner Beschützung. Was dem Wilden seine Keule, das ist dem Schneider seine Nadel, dem Schreiber seine Feder, dem Kaufmann seine Kniffe, dem Bauer seine Herde, dem Edelmann sein Land, dem König seine Krone.
Aber welch ein Unterschied zwischen dem tierischen Genuß, wenn ich sorgenlos zwischen ewigen Gewürzen lebe und wenn ich um ein halbes Prozent mit einem Juden keife oder meinem Amtmann hundert Bauern für das künftige Jahr für einige hundert Gulden höher versteigere.
Welch ein Unterschied zwischen dem Genuß, wenn ich [einerseits] froh und stark jeden Tag sicher mein Wild finde und sorgenlos durch Berg und Tal reite, einen Mann zu jagen, der einen Mantel hat, den ich brauchen kann, und [andererseits] aller Last der Jahreskonto, der Danksagungsadressen und selber der Rathausstellen und der ehrbaren Reinlichkeit! Der Naturmensch weiß nicht, was er durch diesen Übergang verliert, dieser Schritt ist für ihn vollends die Wirkung einer Täuschung.
Er sucht tierischen Genuß und verliert in dieser Rücksicht unendlich.
Die Unbehaglichkeit, die er flieht, wird das Fundament des Lebens, in das er sich stürzt. Er will die Wonne des verlorenen Naturlebens wiederherstellen, dafür wird der eine ein Schneider, der andere Gelehrter, einer treibt dafür Esel über den Berg, ein anderer Bauern in den Wald, einer putzt dafür dem anderen den Bart, einer sucht diese Wonne mit dem Kopf, ein anderer mit dem Herzen, einer mit Künsten gegen den Kopf, ein anderer mit Künsten gegen das Herz. Schon in diesem Unterschied liegen unsägliche Quellen der Unbehaglichkeit unseres Geschlechts.
Der Gelehrte hat von dem Scheitel bis zu den Füßen einen schwerfälligen Leib, der Schmied einen Arm, der stärker ist als seine beiden Füße; der Schneider wackelt, wenn er geht, und der Bauer hat einen Schritt wie sein Ochs'.
Ob der Mensch will oder ob er nicht will: Er ist im Joch des gesellschaftlichen Lebens gezwungen, das Glied am Leib und die Kraft der Seele, auf die ihm sein Brot und sein Haarpuder im gesellschaftlichen Zustand angewiesen sind, vorzugsweise und zum Nachteil aller seiner übrigen Glieder und Kräfte zu gebrauchen.
Das geht so weit, daß viele Regenten sich auf solche Fundamente Register machen lassen, aus welchen zu ersehen, was für Subjekte aus ihren Untertanen als vorzüglich gute Ohren, als vorzüglich gute Mundstücke, als vorzüglich gute Schreibmaschinen, als vorzüglich gute Blasebälge usw. zu gebrauchen sind.
Zwar ist dann freilich auch gar oft so ein Brauchstück einer solchen Duodezmenschlichkeit an seinen übrigen Organen ganz lahm, dieses aber achtet man im gewöhnlichen Dienstleben unseres alternden Weltteils denn weiter auch gar nichts. Diese Nichtachtung kann freilich auch Folgen auf die Grundkräfte unserer Natur haben, indem wir gezwungen werden, aus unserer Nase, aus unserem Mund, unseren Ohren und wohl auch aus unserem Hammer, aus unserem Ellenstab, aus unseren Wappen und aus unserer Krone alles in allem zu machen. Die allgemeine Schiefheit der Menschen in allen bürgerlichen Verhältnissen und ihre allgemeine Verhärtung im gesellschaftlichen Zustand ist eine Folge der inneren Verstümmelung der Naturkräfte unseres Geschlechts in diesem Stand.
Aus ihr entspringen besondere Gefühle des Esprit du Corps in allen Verhältnissen: die Patriziergefühle, die Adligengefühle, die Staatsmannsgefühle und mit ihnen alle Arten bürgerlicher Anmaßungen, mit welchen der Mensch seine tierische Stellung im gesellschaftlichen Zustand wie der Tiger seine Höhle beschützt.
Und was haben sich Könige schon gegen Menschen erlaubt, die etwa behaupten, sie dürfen nur am Morgen nüchtern über das Gut und Blut ihrer Untertanen absprechen oder diese seien ihnen nur in Sachen, die nicht wider Gott, wider das Menschengeschlecht und wider das Vaterland sind, Gehorsam schuldig. – Alles ist gleich. – Die Menschlichkeit des Königs ist hier nicht mehr und nicht weniger als die Menschlichkeit des Schneiders. Der Vorsatz, die Ansprüche meiner tierischen Natur im gesellschaftlichen Zustand durch jede Kraft, die ich in meine Hand bringe, und durch jedes Raffinement, dessen meine Arglist fähig ist, gegen jedermänniglich zu behaupten, ruht auf dem allgemeinen Zweck, um dessentwillen der Mensch in die bürgerliche Gesellschaft tritt, und diesem Zweck ist jeder getreu, ich, der Schneider, der König, und alle, ein jeder nach seiner Lage und nach seiner Kraft.
Je größer diese Kraft, je größer ist auch der Reiz meiner tierischen Selbstsucht zu gewaltsamer Beschützung meiner tierischen Anmaßung. Daher die Übel des gesellschaftlichen Zustands immer in dem Grad steigen, als unverhältnismäßige tierische Kräfte in demselben freien Spielraum finden.
Mein Geschlecht ist allgemein nur bei einem gewissen Maß physischer Kräfte fähig, nicht Barbar, und nur bei einem gewissen Maß gesellschaftlicher Kräfte nicht Tyrann zu werden, das ist, sein wahres Verhältnis gegen seine Mitmenschen nicht zu verkennen.
Es ist schon an sich selbst wahr, daß das Wesen des gesellschaftlichen Zustands das tierische Wohlwollen meiner Natur in mir schwächt; wenn dann noch zu diesem allgemeinen Grundübel dieses Zustands ein großes Übergewicht gesellschaftlicher Kräfte mitten in diesem Zustand einen ungezähmten Spielraum findet: Wer kann die menschliche Natur kennen und glauben, daß es in der Welt anders aussehen sollte, als es wirklich darin aussieht.
Der gesellschaftliche Zustand ist in seinem Wesen eine Fortsetzung des Krieges aller gegen alle, der im Verderben des Naturstandes anfängt und im gesellschaftlichen nur die Form ändert, aber um deswillen nicht mit weniger Leidenschaft geführt wird; im Gegenteil: Der Mensch führt ihn in diesem Zustand mit der ganzen Schiefheit und Härte seiner verstümmelten und unbefriedigten Natur.
Der gesellschaftliche Mensch als solcher sitzt auf dem Blut seines Instinkts und auf dem Grab seines Wohlwollens wie ein Mörder auf dem Blut seines Erschlagenen; sei er gewesen, wer er wolle, der Leichnam des Getöteten hat für ihn keinen Wert mehr; er zählt auf ihm seinen gefundenen Beutel.
Also sorgt der gesellschaftliche Held auf dem Leichnam des Instinkts für das gesellschaftliche Wohl und berechnet auf dem Grab des tierischen Wohlwollens die Finanzen des Staates. Dieser Heldensinn des gesellschaftlichen Lebens muß es hassen, wenn nur noch ein Schatten dieses Wohlwollens in den Fundamenten der bürgerlichen Einrichtungen spukt.
Er baut die ganze Ordnung der Welt auf psychologische Mittel, Wohlwollen und Zutrauen im Gang der Geschäfte außer Einfluß zu setzen. Und wenn man konsequent ist und den Grundsatz von der Schädlichkeit des Wohlwollens und Zutrauens in den öffentlichen Angelegenheiten ebenso gegen die Macht als wahr annimmt, wie man sie gegen das Volk als wahr erkennt, so ist man vollkommen in der Ordnung.
Die Regel gründet sich auf das unausweichliche Verderben, das der gesellschaftliche Zustand über unsere tierische Natur verhängt.
Aber sie ist Volkswahrheit wie Regierungswahrheit, sie lebt im Gefühl der beherrschten Menge wie im Gefühl der herrschenden Edlen. Deswegen ist der dieser Regel entgegengesetzte Grundsatz: das Volk muß Zutrauen haben, ohne Zutrauen kann keine Regierung bestehen, nur mit großer Einschränkung wahr und kann auch nicht umgekehrt werden; es läßt sich offenbar nicht behaupten, die Regierung muß Zutrauen haben, ohne Zutrauen kann keine Regierung bestehen. Es ist bei einer gut organisierten Regierung sicher gar nicht wesentlich, daß das Volk zum Personal der Regierung Zutrauen habe, aber das ist für die Erreichung des gesellschaftlichen Zwecks allgemein wesentlich, daß das Volk zu dem Gesetz Zutrauen haben könne, das zwischen ihm und diesem Personal, um sein Recht gegen dasselbe zu sichern, dastehet oder wenigstens dastehen sollte.
Aber die Selbstsucht der Menschen am Platz sucht natürlich immer alles auf, was ihre Lage gemächlicher, einträglicher und einflußvoller machen kann. Die allgemeine Seligpreisung dieses Zutrauens in unseren Tagen ist eigentlich nichts anderes als ein Verkleisterungsmittel des wesentlichen Übels unseres hinfälligen Zustands und ein Bonmot der Selbstsucht unserer Comme-il-faut-Klubisten [Classe politique], das gegen Vernunft und Erfahrung ebenso wie gegen die ersten Fundamente des gesellschaftlichen Rechts gleich streitet; es ist nichts anderes als eine Folge des Versinkens der gesellschaftlichen Menschheit in den Sumpf der Rechtlosigkeit. Es kommt aber aus diesem elenden Erschleichen gerade soviel heraus, als wenn ein Vater seine Kinder testamentlich dahin anweisen dürfte, von ihrem lieben ältesten Bruder, ohne weitere Untersuchung und ohne weiteres Recht, als ihr Erbteil soviel anzunehmen, als dieser ihnen herauszugeben sich in seinem Gewissen verpflichtet finden würde, mit dem Zusatz, er werde nach seiner erprobten Redlichkeit nicht ermangeln, hierin gegen sie also zu handeln, wie er es vor Gott seinem Richter und vor seinem verstorbenen Vater, der hierüber mit ihm bestimmte Abrede getroffen, werde verantworten können.
Das Personal der edelmütigsten Regierung steht in seinem Naturgefühl dem Volk nicht näher als liebe Geschwister einem ältesten sonst redlichen Bruder.
Als Privattugend sind Zutrauen und Wohlwollen ewig der liebliche Schatten der Unschuld, die wir verloren.
Aber mein Geschlecht als solches kann nichts weniger als auf Unschuld Ansprüche machen, und wenn es im gesellschaftlichen Zustand umwölkt von ihrem Schatten einhergeht, so wandelt es in den Labyrinthen des Trugs, mit denen der Boden der gesellschaftlichen Erde bedeckt ist.
Es ist unstreitig, Zutrauen und Wohlwollen ist eine Inkonsequenz gegen das Wesen des gesellschaftlichen Zustands, und wenn die Sicherheit irgendeiner bürgerlichen Einrichtung darauf gebaut wird, so wird die menschliche Tugend eine öffentliche Narrheit.
Freilich ist es wahr, wenn das Volk rechtlos ist, so ist das heitere Denken über diesen Gegenstand ihm und der öffentlichen Ruhe gefährlich. Wenn es aber nicht rechtlos ist, sondern ein Recht hat und Formen des Rechts, die es schützen, so darf es denn auch über diesen Punkt heiter denken. Das gesellschaftliche Recht sichert den Fortschritt der menschlichen Veredelung ebenso allgemein, als ihn Rechtlosigkeit allgemein stillstellt. Daher nimmt immer in dem Grad, als die Rechtlosigkeit in einem Land groß ist, auch die sittliche Abstumpfung zu.
Ein rechtloses Volk muß durch die Loslassung der Arglist und des Geizes und durch alle Verirrungen des Drucks und des Schimmers, des Genusses und des Mangels, der Freundlichkeit und des Schreckens, der Empfindsamkeit und der Unempfindlichkeit zur Dummheit zurückgezäumt und dahin gebracht werden, selber zu empfinden, wie elend es wäre, wenn es so, wie es ist, ein Recht hätte.
Also wird dann freilich durch die Erschaffung einer abgestumpften Entmannung und einer niedergedrückten Kraftlosigkeit das Zutrauen zu einer jeden Regierung, oder vielmehr ein schafmäßiges sich Überlassen an dieselbige, dem Volk ein wesentliches Bedürfnis; denn wahres Zutrauen hat in diesem Falle nicht Platz, dieses kettet sich nur an Recht und Sicherheit und läßt sich bei Rechtlosigkeit und Erschlaffung nicht denken. Die Macht als solche irrt sich über diesen Punkt nie, und sie denkt auf der ganzen Erde allenthalben sehr heiter über die Torheit des Zutrauens in jeder öffentlichen Angelegenheit. Mißtrauen ist im Charakter aller Großen der erste Zug, auch sind sie ohne diese Standestugend sicher immer verloren. Dennoch hüllt auch sie sich zu Zeiten in den Mantel des Wohlwollens ein.
Es gibt nämlich Fälle, wo es das Volk ohne Empörung nicht zu ertragen vermag, den Trieb ihrer Rechtlosigkeit bis auf seine Schamteile entblößt vor seinen Augen zu sehen. In diesen Augenblicken ist sie genötigt, von dem Schimmer dieser Tugend, deren Wesen sie verachtet, einen in die Augen fallenden schimmernden Gebrauch zu machen.
Ein zweiter Fall, in dem sie in der Hülle des Wohlwollens und Zutrauens erscheint, ist dieser: Sie vergißt zu Zeiten in der Behaglichkeit ihrer Schäferstunden, daß sie Macht ist, und nimmt im Taumel solcher Wonnetage den Sinnengenuß des tierischen Wohlwollens mit wie ihre Geige, ihre Maitresse, ihre Trommeln und den ganzen Quark ihres menschlichen Spiels.
Indessen glaubt sie freilich in diesem Falle nie, daß ihr Wohlwollen zu diesem Quark gehöre.
Der Mensch weiß es nie an sich selber, wenn er aus Selbstsucht handelt; er dichtet sich in allem Tun seines Lebens edlere Beweggründe an als die, so ihn wirklich leiten, und die Macht ist wie der Mensch unfähig, die tierischen Reize zu erkennen, welche die Ansprüche an die Gegenstände ihrer Leidenschaft in ihrem Innersten beleben. Daher glaubt die Macht auch in jedem Fall, sie hasse das Recht des Volkes nicht, sondern nur seinen Mißverstand und seinen Mißbrauch und auch diesen nicht um ihrer selbst, sondern um des öffentlichen Wohls willen, und wenn sie auch noch so empört über deinen Anspruch mit dir im Streit ist, so wird sie dir immer antworten, sie begehre für sich nichts, sie wolle gern jedermann alle Freiheit und alles Recht lassen, das ein jeder immer wünschen könne, wenn es nur möglich wäre; aber sie sieht in jedem solchen Fall immer die schrecklichsten Gefahren, die es haben müsse, wenn man Schwäche genug hätte, auch nur daran zu denken, den Wünschen des Volkes nachzugeben und irgendein Gefühl des Bedürfnisses einer wirklichen bürgerlichen Selbständigkeit in ihm rege werden zu lassen oder ihm auch nur einen Schatten einer ihn gesetzlich sichernden Rechtsform zu gestatten. Diese Sprache aber zu verstehen, mußt du darauf achten, wie sie sich benimmt, wenn die Sache ihres Dienstes Schritte fordert, deren Kühnheit und deren Gesetzlosigkeit das Land allerdings in Gefahr bringen könnte.
In diesem Fall wirst du sie immer auf bloß mögliche Gefahren keine Rücksicht nehmen, sondern vielmehr ihre Gelüste immer standhaft durchsetzen sehen.
Aber hingegen wo sie bestimmt das Gegenteil von dem wünscht, was sie diplomatisch als ihren Willen und als ihre Meinung beurkundet, da handelt sie denn freilich gar nicht selten mit einer Großmutterängstlichkeit, die sich zu ihrem Backenbart und zu ihrer Stirne gar nicht schickt. Sie sieht in diesem Fall immer Gespenster, an die sie in ihren Schäferstunden gar nicht glaubt, die sie aber in den Stunden ihrer Sorgen immer gern für das Volk in den Kalender setzt; sie wird auch in unseren Tagen in dem Bedürfnis, den Glauben an die Gespenster durch den Kalender zu befördern, trefflich bedient. Die Kunst der Diplomatik und ihrer Kanzleien hat sich im Greisenalter des Weltteils mit der Kunst der Gelehrten, der Volksschriftsteller, der Kalendermacher vereinigt, die öffentliche Angelegenheit des Menschengeschlechts allgemein zu Gunsten der Macht in ein trügendes Licht zu setzen.
Unsere Väter verstanden es kaum, ihr bestes Recht zur Schau zu tragen, wie jetzt ein gemeiner Sekretär das schreiendste Unrecht seiner Stelle als ihr hohes Recht und ihre große Gnade zur Schau zu tragen Fertigkeit hat.
Aber diese Sekretärs-Kalendermacher- und Schriftstellerfertigkeiten, insofern sie also die Wahrheit und das Recht der leidenden Menge mit einem Nebel umhüllen und das Unrecht der Gewalt in ein trügendes, schimmerndes Licht setzen und die Nationen verblenden gegen sich selbst, sind alles Folgen der traurigen Wahrheit, daß die Verwirrung unserer alternden Staatskünste das Wesen unseres guten menschlichen Daseins verschlungen habe und Sittlichkeit, häusliche Kraft und gesetzliches Recht allgemein dem glänzenden Elend der öffentlichen Staatsscheinordnung unterliegen müssen. Sie sind alle Folgen der hieraus entstehenden bürgerlichen Entmannung aller Stände, der Aufhebung des Gleichgewichts aller inneren Kräfte des Staats, sie sind Folgen der traurigen Wahrheit, daß wir nur öffentliche Menschen geworden sind und keine Privatmenschen mehr sein können.
Durch sie haben wir den süßen Namen Vaterland verloren und sind Staatsbürger geworden. Durch sie haben wir die gemäßigte Stimmung des obrigkeitlichen Ansehens verloren und ihr die kitzelnden Anmaßungen der Souveränitätsrechte unterschieben gelernt; durch sie ist der Heldensinn des Kabinettsgeistes, der dem letzten Nachfolger Ludwigs XIV. sein Schicksal bereitete, bis in die Ratsstuben der reichsstädtischen Ehrbarkeit gedrungen und hat den Mann am Platz, auch in Verfassungen, die mit der französischen Monarchie gar keine Ähnlichkeit haben, dahin gebracht, mit der ganzen Staatskunst ihrer Kabinettskrümmungen und ihrer Kabinettsgewalttätigkeiten regieren zu wollen und die Individuen im Staat bloß als Kopf, Nummer, Gewehr, kurz als ein totes Verhältnis eines nur als Masse existierenden Wesens anzusehen. Es ist aber für Europa wichtig, daß seine À-la-Louis XIV.-Existenz oder vielmehr das Affenspiel ihrer armseligen und allgemeinen Nachahmung endlich sein Ziel finde und der Mensch im Vaterland allgemein wieder vor sich selbst und vor seiner Obrigkeit als er selbst erscheinen dürfe.
Ich will einige Züge der Schwäche und der Gesetzlosigkeit, zu welchen das Heldensystem des französischen Kabinettsgeistes die tierischen Neigungen der Gewalthaber in unserem Weltteil so vielseitig hingelenkt hat, entwerfen und selbige mit den Gesinnungen und dem Betragen einer wahrhaft gesetzlichen Gemütsstimmung und einer wahrhaft rechtlichen Handlungsweise des gemäßigten bürgerlichen Regierungsansehens in Vergleichung setzen.
Die gesetzlose Gewalt glaubt, sie sei selber das Gesetz, sie wähnt, Gesetz und Recht liege in ihr, wie die Eier in den Hühnern.
Was der Untertan im Schweiß seines Angesichts verdient und was ihm Gott in seiner Gnade gibt, das, meint sie, seien alles ihre Eier.
Wenn sie den Wohlstand im Land sieht, so spricht sie, die Hand auf dem Wanst, ich habe ihn mit Schmerzen geboren, und wenn es übel im Lande geht, so sagt sie, den Zeigefinger über die Nase: Die gottlosen Leute, ich habe sie treulich gewarnt, aber wer vermag etwas wider den, der im Himmel regiert. Das gesellschaftliche Recht nicht also: Wenn es schon im Lande gut geht, so glaubt es doch nicht, daß es darum übel gehen müsse, wenn die Macht schon nicht über die Gesetze erhoben und das Recht des Volkes schon nicht in der Hand der Willkür wäre. Es meint gar nicht, daß der gute Zustand des Menschengeschlechts auf das gedoppelte Elend des Dienstbrots und Gnadenbrots gebaut werden müsse.
Es erkennt, daß derselbe auf den Verdienst des selbständigen Mannes und auf die Kraft und Wahrheit eines gesicherten gesellschaftlichen Rechts gebaut werden soll.
Der Kabinettsgeist der französischen Politik oder die willkürliche Gewalt hingegen will das Menschengeschlecht nur am Diensttisch sehen, nur mit Gnadenbrot füttern. Sie ist deswegen von Herzen gern in ihrem beruhigten Zustand fast immer eine Mutter der Gnaden, aber nie ein Vater eines gesetzlichen Rechts. Sie haßt das Recht bis auf seinen Namen. Wenn die Spur eines solchen Anspruchs auf dem Weg ist, du kennst die Mutter der Gnaden nicht mehr, sie steht denn unter ihren Kindern wie die Engländer in Indien. Sie kennt dann die Kinder nicht mehr, sie sieht denn nur Volk und im Volk den Feind ihres Tiersinns, der ihr nicht für die Welt, geschweige für das dumme Zeug, das das Volk Recht heißt [die Vorlage hat fälschlich: das Volksrecht], feil ist.
Das gesellschaftliche Recht macht Treue und Wahrheit zur gegenseitigen Pflicht aller gesellschaftlich vereinigten Menschen.
Der Heldensinn der französischen Staatskünste meint freilich auch, alles sei ihm Treue und Wahrheit schuldig, er aber niemand. Das gesellschaftliche Recht weiß, daß aller Menschen Augen sehen, aller Menschen Ohren hören, und aller Menschen Köpfe denken sollen, nach ihrer Kraft und nach ihrer Notdurft. Das gesellschaftliche Unrecht hingegen meint, seine Augen sehen für alle, seine Ohren hören für alle, und sein Schädel denke für alle.
Das gesellschaftliche Recht gründet die Selbständigkeit des Staates auf die Selbständigkeit des Bürgers und den Reichtum des Staates auf den sicheren Wohlstand der Individuen. Aber die gesetzlose Gewalt gründet die Selbständigkeit des Staates auf den willenlosen Gehorsam eines rechtlosen Volkes und den Nationalreichtum auf die Leichtigkeit der Eingriffe in die Tasche der Bürger.
Ein solcher Reichtum aber ist dann auch hors de loi [ausserhalb des Gesetzes] und eine solche Selbständigkeit hors de foi [ausserhalb von Treu und Glauben].
Das gesellschaftliche Recht kennt kein Ganzes als in den Individuen und keine gesellschaftliche Vollkommenheit des Ganzen, die auf das gesellschaftliche Verderben der Individuen gegründet ist.
Aber auf dem Schleichwege der Usurpation wittert man überall Gräber und fürchtet, wenn von der gesellschaftlichen Selbständigkeit der Individuen die Rede ist, nichts so sehr als einen offenen Rat.
Das gesellschaftliche Recht kennt die Schwäche und das Verderben der Grundkräfte unserer tierischen Natur im gesellschaftlichen Zustand und schont dieselben [die Vorlage hat fälschlich: denselben] wie ein Mensch seine Eingeweide, wenn er weiß, daß sie krank sind. Aber das gesellschaftliche Unrecht weiß nichts von dieser Schonung, es ist ihm gar nichts daran gelegen, daß die Eingeweide des Volkes gesund seien. Im Gegenteil, es fürchtet das Mark in den Gebeinen des Mannes und findet im Geruch der Verwesung des Volkes die Sicherheit ihres Dienstes.
Das gesellschaftliche Recht erkennt in der Macht den Mittelpunkt aller physischen, das ist: aller tierischen Kraft, folglich auch aller tierischen Leidenschaft und gibt deswegen die heiligen Worte schuldig oder unschuldig so wenig als das Gut und das Blut des Volkes in die Hand ihrer ungezähmten und unbeschränkten Willkür; es erkennt den Anspruch der Macht an willkürliche Gewalt als eine unzweideutige und psychologisch notwendige Folge des freien Spiels ihres Tiersinns und unterwirft das Recht des Volkes in keinem Fall der Selbstsucht und dem Selbstbetrug ihres Verderbens. Der allgemeine Grund des gesellschaftlichen Zustands und vorzüglich der individuellen Gefühle meines Geschlechts im Besitz unverhältnismäßiger gesellschaftlicher Kräfte fordern diese Vorsicht unumgänglich.
Die Macht läßt es freilich nicht an sich kommen, daß sie in diesem Fall ist, und begehrt in jedem Anspruch ex plenitudine potestatis [aus der Vollmacht der Gewalt], wie der Hl. Vater ex plenitudine sanctitatis [aus der Vollmacht der Heiligkeit], daß das Volk sie für unparteiisch anerkenne, und gebärdet sich allemal, wenn dieses gegen ihre himmelreine Unschuld und Unparteilichkeit einen Zweifel zu äußern wagt, wie auch Se. Heiligkeit es getan haben, da einst ihre Söhne, unsere Väter, an seiner allerheiligsten Unschuld und an seiner unbezweifelten Unparteilichkeit zu zweifeln anfingen. Indessen fanden sie doch damals, wie wir jetzt, der Papst und die Macht spreche in diesem Falle in ihrer eigenen Sache und die menschliche Natur zeuge laut wider den Spruch ihrer beiderseitigen Selbstsucht. Wer sagt, daß er unparteiisch Ansprüche mache, der sagt, daß er gelüste, ohne daß er wolle, und das können die Menschen nicht, die wir kennen; darum glaubten es unsere Väter dem Papst nicht, und darum glauben wir es der Macht nicht, so heilig beide es uns auch zusichern.
Die Macht weiß den Grund unserer Hartgläubigkeit über diesen Gegenstand so wohl, als ihn der Papst ehemals gewußt hat, sie hat deswegen, eben wie dieser damals, keine größere Angelegenheit, als das Zutrauen des Volkes an ihre Unschuld, an ihre Weisheit und Güte in dem Grade zu befördern, als sie durch die Umstände der Zeit dahin getrieben wird, um der nun einmal bestehenden Ordnung willen und von der Sorge der Selbsterhaltung gedrängt, nun für einmal widerrechtlich und gewaltsam handeln zu müssen. So wie sie durch Betrachtungen dieser Art ihre Zeremonienexistenz auf die Spitze gestellt und dadurch sich in Verlegenheit sieht, wird sie dann auch vermöge ihrer Natur immer lebhafter und tätiger im Geist der alten französischen Politik, alle Wahrheit und alles Recht, das ihrer Selbstsucht entgegen steht, unwirksam zu machen und besonders alle Formen zu entkräften suchen, durch welche ihre Vorfahren gesetzlich gezwungen worden, die Worte schuldig oder unschuldig in dem Munde der anspruchslosen Unparteilichkeit zu lassen. Der alte Überrest dieser alle Staatskunst zugrunderichtenden Staatsmännerkunst vermag es nicht anders.
Aber das gesellschaftliche Recht, der echte Magistraturgeist, der echte ständische, der echte Parlaments-, der echte deutsche Regierungsgeist erhebt sich über diese Schwächen dieser alten französischen Selbstsucht.
Er sieht in den gesetzlichen Zwangsmitteln gegen seine Willkür ebensowohl als in den gesetzlichen Zwangsmitteln gegen die Begierlichkeit des Volkes die Sicherheit seiner rechtlichen Stellung und die Sicherheit der rechtlichen Stellung des Volkes. Er erkennt daher den Anspruch des Volkes an Selbständigkeit in seinem Recht als einen wesentlichen Teil einer wirklich rechtmäßigen gesellschaftlichen Verfassung und sucht, im Gefolge dieser Überzeugung, in jedem Fall demselben mit heiliger Sorgfalt die Rechte und Freiheiten und alle pacta conventa [geschlossenen Verträge] aufrecht zu erhalten, die von frommen ernsten Vätern zur Sicherheit eines gesegneten und löblich gefreiten Zustands ihrer Nachkommen in Urkunden verfaßt und bestimmt waren, Jahrhunderte dazustehen als ein reiner gesellschaftlicher Wille gegen alles Unrecht und gegen alle Mummereien der Macht. Und wenn es auch im Lauf der Zeiten geschieht, daß der Buchstabe solcher Urkunden dem Volke wirklich unnütz und sogar schädlich werden könnte, so forscht das gesellschaftliche Recht mit treuem offenen Ernst dem Geist und dem Wesen dieser Urkunden nach und trachtet den Grad der Ehrenfestigkeit, der Selbständigkeit, und des unkränkbaren rechtlich gesicherten Zustands, den diese Urkunden für das Volk ansprechen, demselben auch denn noch zu erhalten, wenn der Buchstabe der Urkunde der Macht auch wirklich Gelegenheit und Entschuldigungsgründe an die Hand geben würde, auch das Wesen dieser Rechte mit ihrer veralterten Form unter den Tisch schlüpfen zu lassen. Ich will mit der Äußerung nichts weniger als die Wahrheit entkräften, daß die Reize, diesen Grundsätzen entgegen zu handeln, vorzüglich in unseren Tagen, sehr groß sind, wo Recht und Gesetz auf der ganzen Weite unseres Weltteils das Wesentliche ihrer Kraft, den tierischen Reiz, selbige handhaben zu wollen, so vielseitig verloren haben.
Ich gestehe sogar: Auch wo das Staatsgebäude in seinen inneren Teilen noch nicht so morsch ist als die meisten europäischen, kommt die menschliche Natur dem gesellschaftlichen Recht dennoch immer in die Quere. Der Mann am Platz hat immer gegen seine Mitbürger Kräfte in seiner Hand, deren Maß nicht sorgfältig genug mit den Kräften seiner Mitbürger abgemessen ist, und der Besitz unverhältnismäßiger gesellschaftlicher Kräfte hat indessen in jedem Fall auf unser Geschlecht die entscheidende Wirkung, daß er gesellschaftlich unrechtmäßige Gelüste und Ansprüche und zugleich mit ihnen die Täuschung in unserem Innersten erzeugt, daß diese Gelüste und Ansprüche gesellschaftlich rechtmäßig seien. Also in den Fundamenten unseres Rechts durch unsere Selbstsucht getäuscht, kommen wir im Besitz der Macht immer leichter dahin, altfranzösisch und nicht altdeutsch regieren zu wollen, und werden durch die Gutmütigkeit, Schwäche und den Reichtum unserer Zeit in unserer Politik bis zur Bizarrerie inkonsequent, wohltätig und tyrannisch, raubsüchtig und barmherzig, blutdürstig und milde, billig und ungerecht, liebreich und mörderisch, alles durcheinander, je nachdem die Zeit und die Stunde.
Wir vergeben nämlich von dem, was wir selber für unser Recht erklären oder einmal dafür erklärt haben, nie nichts und beschützen jede unverhältnismäßige tierische Kraft, die im gesellschaftlichen Zustand in unserer Hand ist, mit aller Gewaltsamkeit und mit aller List, deren unsere tierische Natur fähig ist, verbinden aber mit aller dieser staatsbürgerlichen Verhärtung dennoch, wo wir nur immer können, das tierische Wohlwollen, das beim Besitz großer tierischer Kräfte vorzügliche Reize für unsere ebenso gemächliche als stolze, ebenso träge als kühne, ebenso sanfte sinnliche als blutdürstige Natur hat. Der Zyklop streichelt die Widder und Schafe, die er melkt und schlachtet, und wenn der europäische Feudalherr das gerichtlich an seine Erdscholle angeschriebene Volk zu solchen Widdern und Schafen erniedrigt hat, so verbindet, wo nicht er selber, doch etwa seine Frau oder eine Tante das ernste Beharren auf allen, auch den kleinsten solcher Rechte zu Zeiten mit einer Christenmilde gegen die Unglücklichsten unter ihren rechtlosen Leuten, die von den Lehrern und Predigern der Nachbarschaft von allen Kanzeln als unübertreffliches Muster der höchsten menschlichen Tugend angepriesen wird.
Unsere tierische Natur vermag es nicht, im Besitz unverhältnismäßiger gesellschaftlicher Kräfte ihr wahres Verhältnis gegen unsere Mitmenschen nicht zu mißkennen. Solche Kräfte löschen das Gefühl unserer Personalschwäche und die dieser Schwäche angemessene Mäßigung unserer tierischen Ansprüche in unserem Inneren aus.
Das ist wahr, vom großen König bis auf den niedrigsten Büttel, der im Namen des Staates als ein Unmensch mit trotziger Gebärde zu dem Unglücklichen kommt, der die drückenden Auflagen nicht erschwingen kann und ihm sein kümmerliches tägliches Brot wegnimmt.
Der Mensch ist beim vollen Leben der tierischen Grundgefühle seiner Natur unfähig, gesellschaftlich gut, das ist, gesellschaftlich rechtmäßig zu regieren.
Er wird es nur durch die Kraft der Gesetze, die ihn im Besitz unverhältnismäßiger gesellschaftlicher Kräfte in die Schranken des gesellschaftlichen Rechts hinein nötigen.
Das Bedürfnis dieser Einschränkung ist im gesellschaftlichen Zustand um so wesentlicher, da die Ansprüche auf den Besitzstand in demselben im Innersten unserer Natur durch eben die Gefühle belebt werden, die die Ansprüche des einfachen Tierrechts und der einfachen Tierkraft im Verderben des Naturstandes beleben.
Allenthalben spricht der Mensch im bürgerlichen Leben das Monopolium der Harmlosigkeit an. Lebe er in der sorglosen Kraft des Löwen oder als ein um seine Nahrung bekümmerter Wolf oder habe er vor Alter und vor Gram den Wolf und den Tiger abgelegt und geruht jetzt, sich als ein geladener Esel durch die Welt zu schleppen, in allen Fällen spricht er für sich selbst ein Recht an, das, wie das Bild der Ewigkeit, von ihm selbst ausgeht und in ihn selbst zurückkehrt.
Der Mensch geht, entweder durch tierische Unbehilflichkeit gezwungen oder durch den Besitz überwiegender Kräfte gereizt, freiwillig in den gesellschaftlichen Zustand hinüber. Im ersten Fall erscheint er in demselben furchtsam, kriechend, hinterlistig und niederträchtig. Im anderen Fall kalt, anmaßlich, mit Gewalt gelüstend und, wo diese Widerstand findet, trotzend, blutdürstig und grausam.
Dennoch erscheint er, mitten in aller dieser Verschiedenheit, welche die zwei Grundquellen des gesellschaftlichen Zustands über ihn verhängen, in demselben wesentlich als das nämliche Geschöpf, welches er im einfachen ersten Verderben des Naturstandes schon anfing zu werden.
Alle seine gesellschaftlichen Angewöhnungen vermögen es nicht, die Neigungen seiner ursprünglichen, bloß tierischen Entwicklung in ihm auszulöschen. Auch da, wo König und Schwert, Gesetz und Beruf den Instinkt bis auf seine Wurzeln auszulöschen scheinen, auch da liebt der Mensch seine Marmotte [groteske Puppe], seine Gazelle, sein Kind, seinen Hund und sein Pferd. Leerheit des Geistes und das Versinken in taumelndes Träumen ist ihm Wonne des Lebens, und er liebt alles, was neu ist, und alles, was glänzt. Dem Fuchsjäger im Bergschloß ist Wald und Flur heilig, wie sie sein Gott schuf, die aufgeworfene Erde ein Fluch. Der Kaufmann führt den fremden Mann in sein Haus, und fragt ihn, nachdem er gegessen und getrunken, wie es in seinem Lande geht.
In jedem Stand und in jedem Alter findest du Leute, die dir für den morgenden Tag heute nicht vom Stuhl aufstehen, und das Glück eines künftigen Jahres nicht mit einer Pfeife Tabak kaufen, die sie eben im Munde haben. [In den letzten beiden Abschnitten bezieht sich Pestalozzi auf eine frühere Stelle, wo er den Menschen im unverdorbenen Naturzustand beschrieb: „Voll Wohlwollen liebt er seine Gazelle, seine Marmotte, sein Weib, sein Kind, seinen Hund, sein Pferd, er weiß nicht was Gott und was Sünde ist, einen Teufel fürchtet er nicht, Licht, Wald und Flur sind ihm heilig, wie sie Gott schuf, die aufgebrochene Erde ist ihm ein Fluch, er wechselt seine Stunden zwischen Schlaf und Sinnengenuß; Trunkenheit des Geistes, Leerheit des Kopfes und das Versinken in taumelndes Träumen ist ihm Wonne des Lebens; er liebt Spiel, Wein, Mädchen und Märchen; den fremden Mann führt er in seine Hütte und fragt ihn, nachdem er gegessen und getrunken, woher er komme und wie es in seinem Land gehe; für den morgenden Tag steht er dir heute nicht vom Stuhl auf, er gibt seine einzige Kuh für gläserne Korallen, und das Leben des künftigen Jahres kauft er dir nicht um die Pfeife Tabak, die er im Munde hat.“]
Auch königliche Kunst ist nicht imstande, dem wesentlichen Geist des Naturlebens eine andere Richtung zu geben als diejenige, die er im Kot des Landknechts- und Gaunerlebens auch nimmt.
Der Mensch wird durch alle Vorteile und durch alle Nachteile des gesellschaftlichen Zustands genau auf eben die Art modifiziert, wie ihn die Vorteile oder Nachteile des Natureinflusses selber modifizieren.
Der Reichtum macht ihn schlapp wie der Genuß der schwelgenden Natur. Monopole und übel kalkulierte Standesrechte machen ihn barbarisch wie die Riesenkraft, und die Mühseligkeit in der Wohnstube beugt seinen Nacken wie die Mühseligkeit in Gruften und Höhlen, und wenn er, im Besitz des Reichtums und der Macht, gewaltsamer erscheint als in Abhänglichkeit und Armut, so ist dieser Unterschied nicht wesentlich; ein lahmer Affe und eine sterbende Katze nähren in ihrem Innersten eben die Gefühle, die diese Tiere in ihrem gesunden Zustand beleben. Die Grundlagen der menschlichen Natur bleiben in allen Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens immer die nämlichen.
Der Mensch als Geschlecht [d.h. im gesellschaftlichen Zustand] ist nur tierisch, und als tierisch sich immer gleich.
Deswegen ist auch die Selbständigkeit, auf die der Mensch im gesellschaftlichen Leben Ansprüche macht, allgemein mit der ganzen Lebhaftigkeit seiner tierischen Naturgefühle belebt.
Das gesellschaftliche Recht sondert zwar freilich die Ansprüche meiner tierischen Natur von denjenigen meiner gesellschaftlichen Rechtlichkeit, aber meine Natur sondert sie nicht, und so, wie die Kraft der Gesetzgebung meine Natur nicht bändigt, so verschlingt unsere tierische Selbstsucht allenthalben unsere gesellschaftliche Rechtlichkeit und führt uns mit starker Hand dahin, in allen Verhältnissen den Begriff unserer bürgerlichen Selbständigkeit an die selbstsüchtigen Gefühle unserer besonderen Lagen anzuketten.
Dadurch aber verengen wir unser Herz gegen alle wirkliche gesellschaftliche Wahrheit und gegen alles wirkliche Gesellschaftsrecht und werfen mitten unter den rasendsten Ansprüchen an die ausschweifendsten gesellschaftlichen Genüsse das Fundament des gesellschaftlichen Rechts, die gesetzliche Selbständigkeit des Bürgers, allgemein als ein nichtiges Zeug weg.
Sie ist uns mit dieser Stimmung allgemein für jeden Sinnengenuß feil; der Arme gibt sie für sein Brot, der Reiche für Spielwerk, das noch weniger als Brot wert ist. Der Mann am Platz verhandelt sie in seinem Stimmengewerb, der Pfaffe opfert sie seiner Kutte, und im Streit der Macht und des Rechts hilft das Volk immer der ersteren gegen das letztere und schlägt für wenige Kreuzer des Tages im Dienst der Macht den rechtlichen Mann im Lande tot, sobald diese nur pfeift oder trompetet. Naturfreiheit und gesellschaftliches Recht sind in unserem Geschlecht ewig im Kampf.
Der Aufrührer und der König, der Edelmann und der Jude, der Patrizier und der Leibeigene streben alle nach den Monopolen der Naturfreiheit für sich und gegen alle anderen. Daher ruht das gesellschaftliche Recht und mit ihm die bürgerliche Selbständigkeit wesentlich auf einer die individuellen Ansprüche unserer tierischen Natur allgemein hemmenden Anordnung der Berufsbildung des bürgerlichen Menschen.
Diese aber auf der Kunst, die innersten Gefühle meiner tierischen Natur zugunsten des gesellschaftlichen Rechts und der gesellschaftlichen Ordnung umzustimmen und zu verstümmeln. Die Kunst dieser Verstümmelung aber ruht ganz auf den Gesetzen meiner tierischen Täuschung.
Der Tiersinn deiner Natur muß es nicht ahnden, daß du ihn schwächst, er muß glauben, du gibst ihm, was du ihm nur läßt, er muß nicht wissen, was du ihm nimmst; er muß dir nicht zuschreiben, was du ihn leiden machst, er muß das selber wünschen, wozu du ihn hinlenkst, und das, was du ihm zur anderen Natur machst, kaum von dem unterscheiden, was in seiner ersten schon da war.
Anstrengung, Lebensordnung, das schlichte Wandeln im ewig gleichen Berufspfad muß ihm werden, was ihm sein Instinkt war. Er muß es nicht ausstehen können, il faut qu'il se desole [es muss ihn bedrücken], wenn er außer dem Gleis seiner bürgerlichen Beschränkung wandelt.
Jeder Lebensgenuß muß in seiner getäuschten Vorstellung am Verdienst hängen wie die Blüte am Baum, und er muß gewohnt werden, den ganzen Sommer seines Lebens ruhig auf die Früchte seiner Arbeit zu warten, wie der Bauer seinen Sommer über auf das Reifen seiner Früchte wartet. So, und nicht anders, machst du den Menschen zum Bürger. Es ist nicht leicht, die blutende Wunde, die du seinem Tiersinn beibringst, muß beinahe heil sein, ehe er weiß, was links oder rechts ist; wartest du, bis alle Gefühle seiner tierischen Selbstsucht und seines Trotzes in vollem Leben dastehen, mit dieser Täuschung, so hast du den einzigen sicheren Zeitpunkt dieser Täuschung ungenutzt vorbeigehen lassen und mußt dann unter Martern und Qualen zum Tode bringen, was du mit einem leichten Hauch hättest auslöschen können. Und wenn du dann nach den Gesetzen deiner sittlichen Natur zu diesem Ziel kommen willst, so wirst du dieses nicht anders als mit unendlicher Mühe höchst unsicher erreichen. Tausendmal werden dich Mißmut und Not zu den Gesetzen deiner tierischen Natur zurücklenken, aber nur selten wird es nicht zu spät sein.
Diese Verstümmelung beim Menschen, der zum vollen Leben seiner tierischen Kraft gereift, ist beinahe nicht mehr möglich, ohne daß sie ein Gift in seinem Innersten erzeuge, das selten anders als mit dem Tod seiner Menschlichkeit endet.
Vollendest du sie aber durch eine weise menschliche Täuschung, ehe der Mensch weiß, was links oder rechts ist, so baut dann die Kraft seiner tierischen Natur selber ihr Werk auf das Fundament deiner vollendeten Kunst [Pestalozzi meint die Erziehungskunst, d.h. das Geschick, die Kinder in frühestem Alter an die Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens zu gewöhnen].
Die Grundwahrheit der tierischen Natur, das ist, die Ansprüche meiner unverstümmelten tierischen Kraft, verschwinden dann im Menschen, soweit du ihm tierische Vorstellungen, die dieser Grundwahrheit seiner Natur entgegenstehen, unterschoben hast. Dann geht der Mensch im Joch des bürgerlichen Lebens einher, ohne die Wonne des Naturstandes gekannt zu haben, und ist durch seine Täuschung befriedigt und imstande, sich selber mitten durch alle Beschwerlichkeiten des bürgerlichen Lebens einen ihn befriedigenden Ersatz des nicht gekannten und nicht genossenen Naturstandes zu verschaffen und die bildende Kraft des gesellschaftlichen Zustands mit allen ihren Vorteilen zu genießen, ohne durch das Bewußtsein des verlorenen Naturstandes und seiner Reize sich immerwährend gequält und unglücklich zu fühlen. Sein Verstand ist gebildet; er erkennt in demselben einen sichereren Führer seines Lebens als seinen Instinkt; jedes Werk seiner Hände macht ihm Freude; was ihn schwer dünkt, befriedigt ihn höher; seine Lasten sind Segen für die, so er liebt; die Ruhe seines Alters ist sicher; sein Wille wirkt über sein Grab.
Er schließt sein Eigentum mit einem Riegel, und die Welt hat kein Recht gegen diesen Riegel. Aber du hast ihn getäuscht. Was kannst du dafür, daß du ihn verstümmeln mußtest? Solltest du ihn durch deine Verstümmelung rasend machen, damit er nicht getäuscht werde? Oder solltest du ihn gar nicht verstümmeln? Könnte er da sein und leben im gesellschaftlichen Zustand, ohne diese Verstümmelung? Es ist nicht möglich, es bleibt keine Frage übrig als diese: Muß sie nach den Gesetzen meiner tierischen oder nach denjenigen meiner sittlichen Natur erzielt werden?
Erzielt muß sie sein, oder der Mensch wird kein gesellschaftliches Geschöpf und lebt in der bürgerlichen Gesellschaft als ein elender, verdorbener, unbrauchbarer Naturmensch. Aber wird der Mensch durch die Folgen dieser Verstümmelung vollendet? Wird er durch die Folgen seiner bürgerlichen Bildung und seines gesellschaftlichen Rechts in seinem Innersten beruhigt? Befriedigt auch der beste gesellschaftliche Zustand mein Geschlecht zuverlässig?
Wenn ich in meinem Stand und Beruf alles bin, was ich darin werden kann, wenn mein Glück durch mein Recht gesichert würde und ich selbst dahin gelangte, wohin so wenig Sterbliche gelangen, daß die Art und Weise, wie ich als Bürger die Welt ansehe, mit derjenigen, wie sie mein Richter ins Auge faßt, die nämliche ist; selbst wenn ich den Irrtum und den Tiersinn der Macht, unter der ich stehe, vom Gesetz wie den meinigen beschränkt sehe und in jedem Streit meines unparteiischen Rechts sicher bin, kurz, wenn ich im vollen Sinne des Wortes Bürger bin und das Wort meiner Väter, das im Munde ihrer Söhne erstickt und durch mein Leben entweiht wurde, wenn das Wort meiner Väter Freiheit – Freiheit wieder laut schallen würde im Mund glücklicher, ungekränkter, rechtlicher Menschen, wäre ich dann in meinem Innersten befriedigt?
Ich sollte es denken, aber es ist nicht wahr, der Traum ist verschwunden, der mein Leben verschlang; das gesellschaftliche Recht befriedigt mich nicht, der gesellschaftliche Zustand vollendet mich nicht; ich vermag es so wenig, auf dem Punkt meiner bürgerlichen Ausbildung beruhigt stehenzubleiben, als auf demjenigen des bloßen tierischen Sinnengenusses, ich bin in jedem Fall durch seine Ausbildung verstümmelt, Mißtrauen, Schiefheit und Unruhe ist in meine Seele gekommen, die kein gesellschaftliches Recht je ganz auslöscht. Ich lebe als Tiermensch vollends unbefriedigt im gesellschaftlichen Zustand, der Genuß des Rechts ist für mein tierisches Wesen nur Schein. Für dieses ist nur die volle Kraft meines Instinkts und seiner unbeschränkten Freiheit wirkliches Recht. Dieses mangelt mir im bürgerlichen Leben ganz, ich finde mich deswegen in meinen tierischen Ansprüchen am Ende einer jeden bürgerlichen Laufbahn immer betrogen. Der gesellschaftliche Zustand weckt in jedem Verhältnis Bedürfnisse, die er nicht befriedigt, und Neigungen, die er wieder erstickt.
Er löst das Fundament meiner tierischen Harmlosigkeit, die Harmonie meiner tierischen Kräfte, in meinem Innersten auf und untergräbt dadurch das Fundament meiner tierischen Glückseligkeit in seinem Wesen. Ich gäbe Reichtum und Ehre, könnte ich diese tierische Harmonie und das Wohlwollen meiner selbst wieder herstellen.
Ich kann es nicht. – Der Staat geht zugrunde, wenn es da ist, und ich gehe zugrunde, wenn es mangelt. Freiheit! Freiheit! auch du bist ein Kind dieser geopferten Harmonie meiner tierischen Kräfte, auch du ruhst auf tiefem Verderben meiner Natur, und auf dem ganzen Verlust meines Instinkts und meines Wohlwollens.
Wärest du rein auf Erden, *) lebte man deinen Grundsätzen ganz konsequent, du wärest erschrecklich, ich würde mich vor dir fürchten wie vor einem Gespenst. Aber wo du auch bist, da bist du nirgends rein auf Erden, nirgends in deinen Grundsätzen ganz konsequent. Alle Folgen der bürgerlichen Freiheit beleben das tierische Wohlwollen wieder, auf dessen Grabstätte ihre Mutter, das gesellschaftliche Recht, gebaut ist.
*) [Hier schiebt Pestalozzi in einer Anmerkung den folgenden Exkurs ein]
Auch der reinste gesellschaftliche Freiheitsbegriff, insofern er nur gesellschaftlich ist, ist bloß an sich ein Regulativ meines tierischen Verderbens und ruht als solcher ganz auf dem Egoismus dieses Verderbens. Sein Recht ist aber an sich nichts weniger als reines Recht, und seine Mittel an sich selbst sind und müssen, wie die Mittel der Macht, insoweit bloße tierische Gewalttätigkeit sein.
Auch wirst du sie nie anders finden; das aber ändert ihren bürgerlichen Wert nicht, der gesellschaftliche Zustand ist in seinem Wesen ein Gewaltzustand und die Gewalt des gesellschaftlichen Rechts ist bei allem seinem Verderben und bei allem seinem Nachstehen hinter der gewaltlosen Moralität dennoch unendlich mehr wert, als die Gewalt der Rechtlosigkeit.
Indessen ist es gleich wahr: Ein konsequentes Freiheitsregiment und ein konsequentes Despotenregiment grenzen in den Gewaltmitteln aneinander.
Darum aber erscheint die bürgerliche Freiheit auf Erden nie rein – ich sage noch mehr: Freiheit, bloß gesellschaftlich kalkuliert, ist für unser Geschlecht ein unmöglicher Zustand, auch erschien sie auf Erden noch nie in aller Blöße ihrer inneren Wahrheit.
Wie sie wirklich in der Welt erscheint, ist sie wie alle wirklichen Formen der gesellschaftlichen Ordnung nirgends ein Werk eines reinen Kalküls, sondern immer ein Resultat des Gemischs meiner tierischen, gesellschaftlichen und sittlichen Zwecke, nur ein Werk des Zufalls, und die bürgerliche Freiheit, wie sie wirklich in der Welt ist, also diejenige, von der ich allein rede, ist wie alle wirklichen Formen der gesellschaftlichen Ordnung, nirgends ein Werk der reinen Vernunft, sondern allenthalben ein Werk des Zufalls, und meistenteils die Wirkung von Augenblicken, die das freie Spiel der individuellen Gelüste der Menge, gegen die individuellen Anmaßungen derer, die vor der Freiheitsepoche Meister im Lande waren, begünstigen.
Der Royalismus, der Aristokratismus und der Demokratismus, sind deswegen in ihrem Ursprung sowohl als in ihren Wirkungen auf die Gemütsstimmung und inneren Endzwecke der Gewalthaber eine und eben dieselbe Sache.
Allenthalben lenken sie die Inhaber der Macht dahin, ihre individuellen Ansprüche an die Freiheit des Naturlebens so hoch zu spannen als möglich, und den schwächeren Mann im Lande zu zwingen, zu ihren Gunsten eben diesen Ansprüchen zu entsagen.
Der innere Zweck des Royalismus ist also Naturfreiheit des Königs, seiner Familie und seines Dienstpersonals.
Der innere Zweck der Aristokratie ist Naturfreiheit der Senatoren, ihrer Familien und ihres Dienstpersonals.
Der innere Zweck der Demokratie ist Naturfreiheit der Menge und ihres Dienstpersonals der Demagogen. Volksfreiheit, wie sie in der Welt wirklich zum Vorschein kommt, ist immer eine Folge der Volksherrschaft des Demokratismus, dieser aber als Grundlage der Freiheit nichts anderes als augenblickliche Belebung der aufgeschreckten Volkskraft gegen die Ansprüche der Macht.
Demokratismus ist als Regierungsform nicht Freiheit, sondern Regierungsform, und wird daher bei den Teilhabern der öffentlichen Macht mit eben den Gefühlen belebt, die dem reinen Recht des Menschengeschlechts auf den Thronen, in den Rathäusern, in den Klöstern und selbst in den Fabrikstuben allenthalben in den Weg stehen.
Die Folgen, die die Gefühle des tierischen Übergewichts über meine Nebenmenschen auf das Verderben meiner gesellschaftlichen Rechtlichkeit haben, sind im Demokratismus, im Royalismus und im Aristokratismus die nämliche Sache.
Allenthalben endet der physische Gewalthaber, sein Name heiße wie er wolle, seine Maßregeln zur Beschützung seiner individuellen Ansprüche, wenn er diese in Gefahr glaubt, mit dem Schreckenssystem und mildert sein Schreckenssystem wieder durch Inkonsequenzen gegen seine Grundsätze.
Die von Gott befreiten Staaten erliegen unter dieser menschlichen Schwäche wie die von Gott in seinem ewigen Rat zur Regierung der Völker bestimmte Fürstensöhne und Töchter.
Jede Regierungsform steht vermöge ihres Wesens immer schwankend zwischen den selbstsüchtigen Ansprüchen unserer tierischen Natur und der Reinheit der öffentlichen Bedürfnisse und des öffentlichen Willens.
Alle Regierungen taugen deswegen immer nur insoweit etwas, als sie dem reinen Willen des öffentlichen Bedürfnisses ein sicheres Übergewicht über die tierischen Ansprüche der Macht, in wessen Rand sie sich auch immer befinden mag, verschaffen.
Auch wird die Freiheit oder, welches ebensoviel ist, der wirkliche Genuß des gesellschaftlichen Rechts dem Menschengeschlecht nur durch die Kraft von Gesetzen, die den Privategoismus der Gewalthaber in jedem Staat mit Weisheit und Kraft im Zaum zu halten imstande sind, versichert.
Die Möglichkeit dieses zu tun, oder welches ebensoviel ist, das physische Übergewicht des gesellschaftlichen Rechts gegen die physische Kraft gesellschaftlich unrechtmäßiger Ansprüche, wird freilich fast immer nur im öffentlichen Getümmel erzeugt.
Es ist nichts anderes möglich, die tierische Kraft des gesellschaftlichen Unrechts weicht dem gesellschaftlichen Recht nie, bis sie muß, das ist, bis sie tierisch dazu gezwungen wird.
Also ist die Geburtsstunde der Freiheit auf der ganzen Erde Mord und Gewalt.
Aber solange diese dauert, ist die Freiheit freilich noch nicht da.
Sowie sie wirklich da ist, erscheint sie immer als die erste Feindin der bürgerlichen Verwirrung, unter welcher sie erzeugt worden. Aber ebenso erscheint sie, wie sie wirklich ist, als eine erklärte Feindin der vermummten List und der trügenden Ansprüche, der sich so heißenden väterlichen Gewalt, mit denen der Tiersinn der Macht immer die ersten Schritte seiner wesentlichen unväterlichen Ansprüche umhüllt.
Allenthalben kommst du zu deinem Verderben, mit allen Reizen dieses Wohlwollens belebt, zum Vorschein. Allenthalben wirst du durch eben die Vorstellungen belebt, durch welche das sittliche Recht, das dem Wesen deiner Härte den Tod droht, in mir erzeugt wird. Es ist meine Bestimmung, daß ich mich auf dem Punkt meiner gesellschaftlichen Ausbildung so wenig vollendet glaube als auf demjenigen des bloßen Sinnengenusses. Die Lücke, die meine gesellschaftliche Verstümmelung in meine tierische Natur hineingebracht hat, fordert gebietend eine Ausfüllung, und hier ist es, wo sich die gesellschaftliche Kraft meiner Natur an die sittliche anschließt.
Die höchste Zierde meines tierischen Daseins, die Reinheit meines Instinkts und das auf demselben ruhende tierische Wohlwollen muß dahin gehen, um der höchsten Würde meiner Natur, dem freien menschlichen Willen und der auf demselben ruhenden sittlichen Kraft meiner Natur Platz zu machen.
Der Mensch muß auf den Trümmern seines Instinkts durch die Anstrengung seiner verdorbenen Tierkraft die Erfahrungen sammeln, die ihn von dem Irrtum und dem Unwert seiner tierischen Natur allgemein überzeugen und dadurch zur Anerkennung des sittlichen Rechts hinführen.
In diesem Zustand, von beiden Seiten gedrängt, ein unbefriedigtes Opfer meiner Selbstsucht und meiner Schwäche, entspringt in meinem Innersten ein neues Bedürfnis, dessen Befriedigung mich zur Anerkennung der Pflicht hinführt, alles Verderben meiner tierischen Natur und meiner gesellschaftlichen Verhärtung in mir selbst auszulöschen und zu vertilgen. Erhaben stehst du in diesem Augenblick vor mir, du meine Natur, die ich jammernd beweinte.
Auf den Trümmern meiner Selbst lächle ich dir wieder, und auf dem Schutt ihrer Ruinen baue ich mich selbst wieder auf zu einem besseren Leben.
Auf dem Grabe meines tierischen Wohlwollens hebt das gesellschaftliche Recht stolz und stark sein hartes Haupt empor und baut auf dem Grabe meiner geschwächten, liegenden tierischen Kraft sich selbst einen hohen Altar; aber die Göttin, die in meiner Natur thronte, ehe das gesellschaftliche Recht auf der Welt war, lacht seines vermessenen Tuns. Von jedem Opfer auf seinem Altar fließt ein Balsam auf das Grab meiner geschwächt liegenden aber noch lebenden Kraft, die denn, von diesen Opfern selber gestärkt, zu einem neuen Leben wieder erwacht.
Es ist in Wahrheit nicht anders: Das gesellschaftliche Recht tritt mit aller Härte seines Wesens das geschwächte Wohlwollen meines verdorbenen Tiersinns vollends in Staub und baut auf das Fundament meiner zugrunde gerichteten Instinkte sein Werk ohne Rücksicht auf die geschwächten Grundkräfte meiner Natur; diese aber, die in meinem Innersten thronten, ehe das gesellschaftliche Recht auf der Welt war, stärken sich durch alle Folgen der bürgerlichen Ordnung in meinem Innersten wieder und erheben mich mitten im Anschein meines tiefsten tierischen Verderbens zu der Kraft, mich selbst wieder herzustellen aus meinem Verderben.