Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts
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Bild des Menschen wie es sich meiner Individualität vor Augen stellt
Ich sehe den Menschen in seiner Höhle, er wandelt in derselben als ein Raub jeder Naturkraft dahin, das stärkere Tier zerreißt ihn, das schwächere vergiftet ihn; die Sonne trocknet seine Quelle auf, der Regen füllt seine Höhle mit Schlamm; Flüsse durchfressen den Damm seiner Wohnung, und er findet in sandigen Ebenen sein Grab; die Glut der Winde weht ihn blind; das Gift der Sümpfe raubt ihm seinen Atem, und wenn er drei Tage keinen Fisch und keine Ratte findet, so stirbt er. Dennoch erhält er unter allen Himmelsstrichen sein Dasein und siegt allenthalben über alle Übel der Erde.
Sein Leichtsinn ist unaussprechlich, wo ihm nichts mangelt, da schläft er, wo er nichts fürchtet, da sonnt er sich, wo er sich nicht sonnt, da geht er auf Raub aus.
Allenthalben trieft er von dem Blut seines Geschlechts, er schützt seine Höhle wie ein Tiger, und tötet sein eigenes Geschlecht, er spricht die Grenzen der Erde als sein an, er tut unter der Sonne, was er will.
Er kennt kein Recht, er kennt keinen Herrn; sein Wille ist sein einziges Gesetz, und von der Sünde fragt er, was ist sie? Aber wie sehr sie ihn auch reizt, die bluttriefende Freiheit der Erde, er kann sie nicht tragen, er erschlafft unter dem sonnigen Palmbaum: Wo er Überfluß findet, da tötet ihn eine Mücke, wo er Mangel leidet, da tötet ihn selber sein Ingrimm. In allen Lagen sehnt er sich nach einem besseren Recht als nach dem Recht seiner Keule.
In allen Lagen wird er müde des Krieges mit seinem Geschlecht; in allen Lagen sehnt er sich nach der Vereinigung mit den Menschen, die er mordet.
Aber trotzend und furchtsam wagt er unter dem eisernen Norden Jahrtausende den Schritt nicht, gefroren wie seine Erde ist ihm sein Herz in seinem Busen erstarrt, ehe er ein Mensch ist, und unter der glühenden Sonne verzehrt sich sein Hirn in der Wut ob dem Unrecht und ob dem Elend wieder, ehe er ein Mensch ist.
Auch unter dem mildesten Himmel fürchtet er sein eigenes Geschlecht, flieht vor dem Mann, der jenseits des Gebirges lebt, und tötet den Fremden, vor dessen Volk er sich fürchtet.
Dennoch bietet er seinem Geschlecht unter einem solchen Himmel früher die Hände.
In der Harmonie der höchsten tierischen Befriedigung ist größere Ruhe in seinem Geist, als wo die Natur ihn erschöpft und leicht preis gibt.
Schüchtern, aber nicht wild, geht er unter einem milden Himmel aus seiner Höhle; ein Stein ist ihm zu schwer, ein Ast ist ihm zu hoch, er fühlt: Wenn noch ein Mensch bei mir wäre, ich höbe den Stein, ich pflückte den Ast. Jetzt sieht er einen Mann neben dem Stein, unter dem Ast; es drängt ihn ein Gefühl wie der Hunger und der mächtige Durst; er muß zu dem Mann neben dem Stein und unter dem Ast; jetzt steht er neben dem Mann, in seinem Auge strahlt ein Blick, der noch nie darin strahlte; es ist der Gedanke, wir können uns dienen; im Auge des Nachbars strahlt der nämliche Blick; ihre Busen wallen, sie fühlen, was sie noch nie fühlten; ihre Hände schlingen sich ineinander, sie heben den Stein, sie pflücken den Ast; jetzt lachen sie ein Lachen, das sie noch nie lachten; sie fühlen was sie vereinigt vermögen.
Sie genießen ihre Erkenntnis, ihre Kraft wächst mit ihrer Erkenntnis, ihr Genuß mit ihrer Kraft, die Zeichen ihrer Vereinigung vermehren sich, der Laut ihres Mundes wird Sprache. Sie reden.
Jetzt ist es geschehen, wie das Meer am Felsengestade, also findet die bluttriefende Freiheit meines Geschlechts am Wort des Menschen ihr Ziel.
Denn öde war sie und wüst, ehe der Hauch seines Mundes, ehe das Wort des Menschen über die Erde schwebte. Aber mit dem Hauch seines Mundes baut der Mensch seinen Weltteil, und mit seinem Wort baut er sich selber. Er ist stumm, er ist ein Vieh. Er redet, er ist ein Mensch geworden. Unkunde und Mißtrauen, Mangel und Furcht verlieren jetzt ihre entsetzliche Allmacht und ihr grimmiges Allrecht. Der Mensch erkennt jetzt in seinem Wort den Grund seines Rechts und den Grund seiner Pflicht. Er hat jetzt der bluttriefenden Freiheit seiner Natur entsagt, gegen sich selbst und gegen sein ganzes Geschlecht. Er ist durch sein Wort Mensch geworden, dem Gesetz unterworfen, das in ihm selbst liegt und das er sich selber gegeben.
Darum macht er auch alles aus seinem Wort, er will, daß es ewiglich lebe, er gräbt es in steinerne Tafeln, er gießt es in ewiges Erz, und Barden preisen in hohen Gesängen das Recht, das er sich selber gegeben und das sein Recht ist und keines anderen.
Aber wie? Die Freiheit meiner Natur war also bluttriefend, ehe sie ein Recht kannte, ich war ein Vieh, ehe ich redete? Unkunde und Mißtrauen gingen auf dieser Erde der Liebe, dem Zutrauen, der Erkenntnis vor wie Dorn und Distel der angebauten und gedüngten Feldfrucht, und ein grimmiges Tierrecht befleckte die Erde, ehe Menschentreue und Menschenrecht sie wieder mit ihren Opfern versöhnte? Also ist es nicht wahr, daß der Urmensch friedlich lebte auf Erden, es ist nicht wahr, daß er die Erde ohne Gewalt, ohne Unrecht und ohne Blut verteilt hat; es ist nicht wahr, daß der Ursprung des Meins und des Deins in meinem Gefühl der Billigkeit und des Rechts zu suchen ist? [Hier setzt sich Pestalozzi von Rousseaus Vorstellung des guten Wilden ab.]
Es ist im Gegenteil wahr, das Menschengeschlecht teilte die Erde, ehe es sich auf ihr vereinigte, der Mensch riß an sich, ehe er etwas hatte, er frevelte, ehe er arbeitete, er richtete zugrunde, ehe er etwas hervorbrachte, er unterdrückte, ehe er versorgte, er mordete, ehe er antwortete, der Hauch seines Mundes atmete Wortbruch, ehe der Laut eines Wortes auf seiner Zunge gebildet, ein Recht verlangte.
Ich war tierisch verdorben, ehe ich menschlich gebildet wurde, die Zeit meiner tierischen Unschuld ging wie ein Augenblick vorüber, mein tierisches Verderben war plötzlich da, und dauerte lange, und ich schmiegte mich, nur durch das Elend seiner Folgen gebeugt, ins Joch des bildenden gesellschaftlichen Lebens.
Aber es ist geschehen, aller Kot der Erde hat nun seinen Herrn, rühre ihn nicht an, wenn er nicht dein ist; der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser hat seinen Meister; wenn du schon dürstest, wälze den Stein nicht von der Quelle, die nicht dein ist; wenn du schon hungerst, reiß keine Frucht von dem Baum; brich keine Ähre ab vom Halme; erlege das Wild nicht, das dir aufstößt.
Sie werden dich hängen – schaudere nicht, du hast dich selber dem Gesetz unterworfen; und die Erde wäre wüst geblieben, ein Wohnsitz der Tiere; und dein Geschlecht das unbehilflichste in der ganzen Wildnis, wenn du es nicht getan hättest.
Aber du hast es getan, nun wird deine Höhle ein Haus; dein Haus trennt dich von der Erde, bindet dich an das Deinige, und das Deinige vereinigt dich wieder mit deinem ganzen Geschlecht. Du bist jetzt Eigentümer; du dehnst deine Sorge aus über Geliebte und Mitarbeiter; du sorgst über dein Grab hinaus, dein Sohn ist dein Erbe, dein Bruder schützt deine Witwe, und dein Freund erzieht dein unmündiges Kind. Was hast du verloren?
Du findest auf Millionen Wegen Mittel, durch Anstrengung, Ordnung und Kenntnisse mit der Würde des Rechts, das du dir selber gegeben, menschlich zu benutzen, was du tierisch ungenutzt ließest.
Auf unübersehbaren Heiden wachsen im freien Gemisch namenlose Pflanzen; du tötest sie alle und baust auf den unabsehbaren Heiden ein nützliches Korn.
Du schlägst die Krone der Berge, und baust auf ihren Hügeln einen einzigen Strauch.
Du türmst dein Geschlecht aufeinander wie Wind und Wellen nichtigen Sand. Völker wohnen aufeinander wie Heringe in einer Bucht und Ameisen auf einem handbreiten Haufen. Du schließt Nationen mit einem Riegel ein. Am Morgen öffnet sich ein Tor, und eine Welt durchwallt die Erde, du sprichst zu dem Abgrund: Reiß du den Sand, der Jahrtausende dein Eigentum war, nicht ferner vom Ufer.
Du pflanzt das Wasserrohr in dürren Heiden und die Sonnenröte des Krapps in der Tiefe der Sümpfe. Du mißt die Kreise der Sterne und irrst in dem Schatten der Welten in tausend Jahren um keine Stunde. Einer baut eine Strecke des Landes, auf der Hunderte wohnen könnten, ein anderer nährt sich auf einem Raum, der kaum etwas größer ist als seine Grabstätte. Ein Mann redet ein Wort, und die Erzeugnisse der Weltteile wechseln sich wie die Erzeugnisse nachbarlicher Gärten. Ein Handzug [Unterschrift] mangelt, und Tausende zittern für ihr Leben, das Brot der Menge hängt an diesem Handzug. Der Mensch ist ein hohes Wunder im chaotischen Dunkel der unerforschten Natur. [Sophokles, Antigone, 332 – 333]
In einem ewigen Wechsel tötet er sein Glück durch den Anspruch an sein Recht und sein Recht durch den Anspruch an sein Glück. So geht er elend und rechtlos dahin und trägt die Schuld seiner Erschöpfung in sich selber. Auf der Richtstätte blutet ein Weib, edler und größer als das Geschlecht, unter dem sie lebte. In der Verbannung fühlt sich ein Bettler höher als sein König, der ihm sagte: Weich du! und ihn nicht hörte.
Ein entwürdigter Mann nährt Menschenverachtung in seinem Busen, trotzt dem Irrtum und reizt den Verleumder, daß er noch mehr auf ihn schmähe.
Der Hohn seines Stolzes entwürdigt ihn selber und macht des Verleumders Lügen in seinem Innersten zur Wahrheit. Indessen weint die jungfräuliche Röte eines betenden Weibs über ein kränkendes Wort, das ihren Lippen entschlüpft, sie schlägt ihre Augen nieder vor dem Mann, den weder die Wohnstuben noch das Blut an sie bindet. Ein angebetetes Weib dient in dunkler Vergessenheit einem verworfenen Mann, und die Bosheit des Elenden vermag nicht die Ruhe ihrer Lippen zu wandeln. – Was ist das?
Völker verzeihen einem Mann, der die Gefühle der Menschlichkeit in den Einwohnern des Landes auslöscht, wie sie in ihm ausgelöscht sind, sie verzeihen einem Mann, der ihre Söhne dem Tod weiht und ihre Töchter der Entehrung, einem Mann, der die Rechte ihrer Städte und ihrer Dörfer der Büberei preis gab, einem Mann, der das Vaterland zu einer Wüste, ihre Häuser zu Brandstätten und ihre Gärten zu Einöden gemacht hat.
Hier folgen Nationen wie gehörnte Stiere einem Kinde, das sie an einem Zwirnsfaden führt, und verspritzen ihr Blut für jeden Einfall des unmündigen Kindes oder seiner Amme. Hier ersticken Völker in der windigen Leerheit der Macht wie Mücken im luftleeren Raum, dort ersticken sie im Überfluß ihrer eigenen Kraft wie Bienen im überfließenden Honig. Ein Mann wird ein Narr und redet Unsinn, wie ihn die Erde noch nie gehört hat, Völker fallen vor ihm auf die Knie, bauen ihm Altäre und werden fromm, gehorsam, arbeitsam und menschlich bei der Anbetung eines Kalbs oder des Teufels. Legionen Buben lauern in den Wohnungen der Gerechtigkeit wie hungrige Katzen vor den Löchern der Mäuse, und mein Geschlecht wird in Jahrhunderten nicht müde, sich von ihnen fressen zu lassen.
Aber wie will ich den Faden finden, von dem dieses Gewinde von Elend und Wohlstand, von Weisheit und Torheit, von Wahnsinn und großer Erhebung des Geistes ausgeht. Der Mensch ist schon in seiner Höhle nicht gleich; unter dem Dach, hinter Riegel und Wänden wächst diese Ungleichheit mächtig, und wenn er zu Hunderten und Tausenden zusammensteht, so ist er gezwungen, ob er will oder nicht will, er muß zu dem Starken sagen: Sei du mein Schild! Zu dem Listigen: Sei du mein Führer! und zu dem Reichen: Sei du mein Erhalter! Das ist der Ursprung der Macht, der tief in unserer Natur liegt und sich auf das wesentliche Bedürfnis der Entwicklung des ganzen Geschlechts gründet. Aber freilich auch, wie der Strom, der ganze Reiche wässert, oft ganze Provinzen verheert.
Nicht die Macht, der Mensch, der sie in der Hand hat, ist schuld an dem Verderben seines Geschlechts. Alle Folgen der Macht sind heilig und gut, solange der Mensch, der sie in seiner Hand hat, treu ist, und sein Wort ein biederes Wort, und seine Treue unbeweglich, wie die unbeweglichen Sterne.
Aber wenn der Mensch sich nicht zum Göttersinn der Treue zu erheben vermag, wenn sein Wort ein Rohr ist, das der Wind bewegt, wenn er sich im Besitz der Macht nicht höher fühlt als das Geschlecht, dessen Recht in seiner Hand ist, wenn er untreu ist wie der Mensch, dessen Schwäche auch ihm zu Leibe geht, so zertrümmert er mit der Kraft, die in seiner Hand liegt, das Recht des Menschengeschlechts, das aber nicht sein Recht ist, und düngt mit dem Blut der Menschen, denen er nicht Wort hält und kein Recht läßt, die Erde, die er verwüstet.
Aber auch im Kampf der Lügen und des Unrechts bildet sich unser Geschlecht und erhebt sich zum Gefühl jeder Würde und zum Besitz jeder Kraft, die in seiner Natur liegt. Also gehe ruhig im Kampf der Wahrheit und des Rechts, zittere nicht bei dem Sieg der Lügen, lerne den Unwert des Tiersinns deines Geschlechts nur desto tiefer kennen, je mehr er über Recht und Wahrheit gewinnt, und wenn du in den Banden der Rechtlosigkeit gefangen liegst wie eine Mücke in den Banden der mordenden Spinne, so lerne zu sterben, damit du Mensch bleiben und deinem Geschlecht dienen könnest.
Es ist geschehen, in der Weihe der Tierkraft, die die entheiligte Macht angebetet, ist der Erdkreis verwildert.
Die sinnlose Untreue der Macht hat die Gefühle der Selbsterhaltung unter der verdorbenen Menge rege gemacht, jetzt greift das rasende Volk der schuldigen Macht an die Kehle. Alle Stricke sind aufgelöst, die vormals die Macht banden, daß sie bei dem Sirenengesang aller Reize zur Untreue und zum Wortbruch nicht so leicht ihre guten Sinne verlieren konnte.
Das Elend des alternden Weltteils ist unabsehbar. Nach ewigen, ehernen, unwandelbaren Gesetzen [Pestalozzi zitiert hier frei eine Stelle jenes Gedichts von Goethe, das er unter „Staatsrecht“ wiedergegeben hat, gibt jedoch dem Gedanken eine andere Wendung] lenkt sich der Sterblichen Wesen immer zum Übergewicht seines Tiersinns und seiner Tierkraft, und ewig sagt der Mensch, der mächtig und tierisch zugleich ist, zu der Schwäche seines Geschlechts: Du bist um meinetwillen da; und spielt dann über die gereihten Scharen derselben wie über gereihte Saiten des Hackbretts; was achtet er das Springen der Saiten, es sind ja nur Saiten; soviel Männer im Land sind, soviel hat er ja Saiten; soviel ihrer zerspringen, soviel wirft er weg, und soviel er wegwirft, soviel spannt er wieder über sein löchriges, klimperndes Brett, es sind ja nur Saiten.
Ha, es sind Menschen! Und sie werden in der namenlosen Erniedrigung eines rechtlosen Dienstes wie die Pfoten an den Klauen des Bären, sie wissen gar nicht, was das murrende Tier will, das auf ihren Vieren steht, aber sie klammern sich fest in die Eingeweide eines jeden, gegen den es brummt.
Ha, es sind Menschen! und ihr Geschlecht wird in der Erniedrigung eines solchen Dienstes wieder, was es vorher war, ehe es die Macht aus dem Nichts rief und zu der Stärke seines Geschlechts sagte: Sei du mein Schild und mein König. Wenn die Macht einmal zur Untreue versunken und das Unrecht des Wortbruchs mit kaltem Geschwätz zu übertünchen gelernt hat, so ist das Recht des Menschengeschlechts von der Erde gewichen.
Sie sagt dann zu der Schwäche ihres Geschlechts: Das ist mein Gesetz, dem mußt du gehorchen, ich verkaufe dich dem königlichen Volk, das mir Geld gibt für dein Leben und für dein Sterben, rühre die Trommel, und juble dem königlichen Volk, das für die Menschen so viel zahlt. [Pestalozzi spielt hier auf das Söldnertum, den sog. Reislauf, an.] Heil ihm, dem hohen Geschlecht, das bei den Königen anfragt: Wie teuer ist das Menschengeschlecht feil? Heil ihm und Jubel und Dank, es leitet seine Goldbäche in den Schoß der männerfeiltragenden Könige, damit sie, auf ihren Thronen gesichert, der männerbedürftigen Insel [England] unser Geschlecht forthin feiltragen, und der alternde Weltteil [Europa] bleibe, was er ist: ein morsches, seinem Zusammenstürzen unaufhaltsam entgegeneilendes großes Gebäude; daß er bleibe was er ist, rechtlos, entzweit, unbehelflich und unbeholfen, und kein Volk auf Erden werde, was das königliche ist, das die Meere beherrscht und das feste Land gängelt. Es ist geschehen: In der Weihe der Tierkraft, die die entheiligte Macht angebetet, ist der Erdkreis verwildert.
Wenn du einen Stein findest, der an der Sonne glänzt, so spricht dein Gewaltiger: Du und deine Kinder sollen wohnen in der ewigen Nacht, dein Leben lang sollst du unter der Erde suchen den glänzenden Stein.
In der Tiefe der Erde und in der schaurigen Nacht ewiger Dünste vergißt die unrechtleidende Mutter der ewig mangelnden Sonne und des nie gesehenen Tageslichts, sie lobt den Herrn, der ihr Brot sendet in die Gewölbe der Nacht, sie dankt ihm in der tötenden Luft, die sie atmet, für ein Glas stärkenden Trank; sie drückt den sterbenden Erben ihrer kurzen Tage, den sie kaum sieht, mit innerer Wonne an ihr Herz, und freut sich in täglicher Pflichttreue des Steins, den sie findet und ihn hinaufsendet dem Herrn, der die Sonne sieht und alle Wonnen des Tages genießt.
Ist sie nicht ein Engel in den Gewölben der Nacht? Aber das Menschengeschlecht ist nicht dieser Engel!
An den Ketten der Macht, die kein Recht kennt gegen sich selber, sinkt der Mensch wieder zu aller Unbehelflichkeit und zu aller Gefühllosigkeit seines verdorbenen Naturstands hinab; dann nähert sich die Auflösung der Staaten durch das Allgemeinwerden der inneren Gefühle des Sansculottismus. Ehe dieses geschehen, werden die Könige auf ihren Thronen hart wie die eiserne Eiche, tiefes Entsetzen umgibt ihre Kronen wie die tote Natur in den Abgründen strauchloser Gebirge, ehelose Mönche und freudenlose Hagestolze werden dann die letzten Stützen der Staaten, bis auch diese sinken und die Völker sich im Elend der Anarchie, zu dem sie durch den Mutwillen der Rechtlosigkeit gebildet und erzogen worden, auflösen wie die Leichname der Menschen im Grab.
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Die Staaten blühen und verderben wie der Mensch, sie sind nichts als der Mensch selber, wie er öffentlich blüht und öffentlich verdirbt, wie er vereinigt seine Kraft braucht zu seinem Wohl und zu seinem Verderben.
Ich will zur Vollendung des Bildes der Menschen einige Züge der nahenden Auflösung der Staaten entwerfen. Die öffentliche Verwaltung spricht dann dem Geist aller Verfassungen Hohn, unter denen die Menschen ein selbständiges, von der willkürlichen Gewalt nicht gekränktes, vom Gesetz wider die Macht geschütztes Leben führen könnten. Das Gefühl des Volkes wird dann in der Nutzung seines Eigentums, in seinem häuslichen Leben, in der rechtlichen Verwaltung seiner Dorf- und Stadt-Befugnisse ohne Not, wider Recht und wider die Übung väterlicher Sitten, gekränkt. Allenthalben wird dann das Mittel über den Zweck, der Schein über das Wesen, die Gewalt über die Treue, die List über die Rechtschaffenheit, die Glückseligkeit über das Recht, Empfindelei über die Vernunft, Kunst über die Wahrheit und der Dienst über das Verdienst erhoben.
In dieser Richtung der menschlichen Gefühle wird dann der Rang notwendig der einzige Maßstab der Achtung, und die Menschen erscheinen in diesem Zeitpunkt allgemein ohne schlichte Menschenstellung, ohne schlichten Menschensinn, zugeschnitten für eine Dienstform, für einen Dienstlärm und für einen Dienstglanz, der wider die Natur ist und der inneren Veredelung meines Geschlechts unübersteigliche Hindernisse in den Weg legt. Die schlüpfrige Sittlichkeit reicher, behaglicher Menschen vereinigt sich dann mit den Ansprüchen der Macht, die erwerbenden Stände, in dem Fall, wo sie den Anmaßungen des Reichtums und der Gewalt im Wege stehen, allemal für Gesindel zu taxieren, und in dem Fall, wo sie diesen Anmaßungen nicht im Weg stehen, sie als Maschinen zu gebrauchen. Das Glück des Lebens und des Wallens auf Erden wird dann in die Kunst des Aufwartens auf Erden verwandelt, und die Selbstkraft des Volkes, die nach einem dauernden rechtlichen Wohlstand strebt, geht dann in den trügenden Schimmer einer fundamentlosen Beruhigung bei allem, wie es nun einmal im gesellschaftlichen Zustand ist, über. Und wie die innere Kraft des Menschen, sich selber und seinem Geschlecht wahrhaft selbständig und rechtlich zu nützen, aufgelöst wird, so tritt dann das öffentliche Bedürfnis ein, die Welt durch einen unverhältnismäßig großen Dienststand, wo nicht zu versorgen, [so] doch in Ordnung zu halten.
Aber das, was bei einer solchen Erhöhung des Dienststandes und des Dienstgeistes herauskommt und herauskommen kann, ist nichts weniger als gesellschaftliche Ordnung. Es ist im Gegenteil eine künstliche Anwendung der Schlechtheit des Volkes zugunsten einer täuschenden Staatsform, der das Wesen aller gesellschaftlich guten Ordnung vollkommen mangelt.
Du findest denn allenthalben im Lande Beamte, die an Ort und Stelle zu Strickreutern [abschätzig für „Polizist“] tauglich wären, die aber gleichwohl imstande sind, das Verderben, das ihre Derbheit und ihre Arglist über das Land bringen, mit der Larve ihrer Diensttreue und ihrer Dienstkunst und oft gar noch ihrer Empfindsamkeit zu überkleistern.
Das Mark des Landes, der Mittelstand, wird denn allgemein verunglimpft, hintangesetzt und gedrückt.
Das Mißvergnügen schleicht sich in die Herzen von Menschen, die die einzigen im Lande sind, durch die es noch möglich wäre, die alte bürgerliche Tugend wiederzubeleben und den ersten Quellen des Verderbens im Lande wahrhaft Einhalt zu tun. Indessen wird Wahrheit und Recht in diesem Zeitpunkt nicht sogleich mit Gewalt, beides wird aber durch Arglist und durch sogenannte Sitte (Etikette) erstickt. Es schleicht dann eine Philosophie des Unrechts und der Lügen im Gewand des Anstands, der Weisheit und der Ordnung umher.
Die Verführerin eilt der unbefangenen Gutmütigkeit als die Unschuld selber in die Arme, sie erscheint allenthalben mit dem Anstrich des Edelmuts, der Rechtlichkeit und der Tugend, selber ihre Bedächtlichkeit hat gefallenden Anstand. Wo du auch immer hinsiehst, sie stellt alles um dich her in Schatten.
Du mußt sie lieben, bis du ihre Politik berührst, hier aber steht ihre Vernunft, ihr Edelmut und selber ihre Lebensart still wie der Fuß eines Pferdes, das plötzlich vor einem Wild scheu wird.
Ich will einige Züge ihres Benehmens in diesem Zeitpunkt entwerfen.
Wenn du von den Freiheiten deines Standes, deiner Stadt, mit der Unschuld deiner Ahnen mit ihr redest, so wird sie die Grundsätze, die auf der Natur der menschlichen Seele ruhen, als exzentrisch, und wenn sie auf Vernunftschlüssen ruhen, als idealisch verwerfen.
Wenn du deine Gesichtspunkte auf Geschichte und Erfahrung gründest, so wird sie dir sagen, Geschichte und Erfahrung passen nicht auf deinen Fall, und wenn sie nicht ableugnen kann, daß sie darauf passen, so wird sie dir einwenden, deine Grundsätze streiten mit den höheren Gesichtspunkten der Philosophie und der Staatskunst und wohl auch, wenn du ein Mensch danach bist, der Religion.
Also wird sie mit dir aber nur reden, wenn du als ein Fremder und ohne ein Interesse gegen ihr Unrecht vor ihr stehst; wenn du aber als ihr Untertan vor ihr erscheinst, so ist ihr Benehmen schon anders.
Dich entfernende Hoheit strahlt dann auf ihrer Stirn, glühender Argwohn in ihren Augen, und drückende Verbissenheit herrscht auf ihrer Lippe. Wenn du als solcher ein Recht begehrst, so hast du Unrecht, weil du Ansprüche machst; du bist undankbar, weil du klagst, frech, weil du bittest. Sie wird deine ernste Sorge für das Wohl des Landes für bübische Einmischung in Sachen, die dich nichts angehen, erklären; weises Forschen nach den Fundamenten des gesellschaftlichen Rechts mit oberflächlichem Geschwätz über Sachen, die du nicht verstehst, und bescheidene Behauptung des gesellschaftlichen Rechts mit der unruhigen Zudringlichkeit einer gesetzlosen Neuerungssucht verwechseln.
Jede Besorgnis für das Recht des Volkes wird sie dir als Gespensterseherei, und jede Aufmerksamkeit auf das Benehmen der Macht, wo nicht als Klubisten-Tand [Der politische Klub der Jakobiner hatte in Frankreich die Diktatur errichtet. Die Kritiker der damaligen Zustände wurden oft als Klubisten verdächtigt], doch als Mißtrauen in ihre Güte aufnehmen, sie wird die Ruhe der Regierung mit der Ruhe des Staates und deine Pflicht gegen den letzteren mit deinen Attentionen gegen die erstere verwechseln.
Wenn du es wagst, der Ehrfurcht zu nahe zu treten, mit der sie für die Palliative [Notbehelf] ihrer Staatskunst Anbetung fordert, so wird sie dich, wo nicht des Sansculottismus, doch sicher einer gefährlichen Neigung zu Grundsätzen, die zu demselben führen, comme il faut, bezichtigen. Ebenso, wenn du den Aristokratismus auf Grundsätzen gebaut wissen willst, die mit der Menschennatur und mit dem Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung übereinstimmen, so entgehst du ihrer Nachrede, daß du ein Demokrat bist, unmöglich.
Freund der Wahrheit, denke nicht, daß es in diesem Zeitpunkt anders sein könne, die politischen Halbköpfe und Viertelsherzen desselben vermögen es nicht, irgendeine einfache Wahrheit und noch weniger den ganzen Sinn eines einfachen Mannes zu ertragen.
Sie vermögen es nicht einmal, die Festigkeit eines einzigen Grundsatzes als desjenigen des Machiavellismus, oder vielmehr ihres Halbmachiavellismus, zu ertragen. Wahrheit und Recht ist in ihren Köpfen allgemein den Bedürfnissen ihrer Routine und allen Elendigkeiten, diese Routine in alle Ewigkeit zu erhalten, untergeordnet.
Selbst die Religion ist in ihrer Hand nichts anderes als ein elendes Dienstmittel ihrer Schiefköpfigkeit und ihrer Herzlosigkeit und ein Lückenbüßer ihrer elenden Polizei und ihrer Staatsmängel.
„Eine jede Seele sei untertan der obrigkeitlichen Gewalt“ [Römerbrief 13,1], dieser wahre Ausdruck der Gesinnungen der Unschuld und Rechtschaffenheit, diesen reinen Sinn Jesu Christi, der seinem Vater und aller Ordnung der Welt gehorsam war bis zum Tode des Kreuzes, diese hohe Lehre der Sittlichkeit wird dann außer Verbindung mit dem wesentlichen Geist des Christentums dahin gemißbraucht, die Masse der gesellschaftlichen Menschheit als solche zu bereden, daß sie gegen die Willkür der Macht kein gesellschaftliches Recht habe.
Die Stelle: „Fürchte dich nicht vor denen, die nur den Leib töten können“, wird dann nimmermehr dahin erklärt, als ob du auch in Behauptung deines bürgerlichen Rechts als ein standhafter Mann zu handeln und der Wahrheit gegen jedes Unrecht Zeugnis zu geben, schuldig seist. Sie werden dir nicht sagen, daß du auch als Bürger Gott mehr gehorsamen mußt als den Menschen [Vgl. Matthäus 10, 28, Apostelgesch. 5, 29].
Sie werden dir nicht einmal das Benehmen Jesu Christi gegen die geistlichen und weltlichen Vorgesetzten seines Landes als ein Beispiel eines wahrhaft christlichen Betragens gegen heuchlerische und gewalttätige Landesbeamte anpreisen. Die Priester stehen in diesem Zeitpunkt in jedem Streit der Macht gegen das Volk auf der Seite der ersten, und sie können nicht anders, sie stehen in ihrem Dienst, sie essen in demselben denn immer ganz das Brot der Macht und nicht mehr das Brot des Volkes; und was man auch immer mit vieler Höflichkeit dagegen einzuwenden beliebt, so bleibt, so lange die Welt steht, das Sprichwort: „Wes Brot ich esse, des Lied ich singe“, bei allen Menschen wahr, die gerne essen.
Wir müssen es ihnen also auf jeden Fall verzeihen, aber wir müssen es auf jeden Fall auch wissen. Ihr Benehmen ist dem Wesen des gesellschaftlichen Rechts um so gefährlicher, wenn sie in den Augenblicken, in denen sie zur Untergrabung deiner gesellschaftlichen Kraft alles mögliche beitragen, zugleich Menschlichkeit und Mitleiden für dich predigen.
Das Nonplusultra ihrer Kunst, das Unrecht der Macht in den Schutz ihrer Kutte, oder wenn du lieber willst, in den Schutz ihrer Frömmigkeit zu nehmen, besteht in ihrer Manier, die ersten Fragen des gesellschaftlichen Rechts – das Interesse für die Freiheit selber und die einfachen, aber ersten Gesichtspunkte unseres Forschens über diesen Gegenstand – unseren reichen, behaglichen und unseren nach Behaglichkeit schmachtenden armen und armseligen Zeitmenschen ganz aus den Augen zu rücken, ihnen diese Gesichtspunkte als für ihre Glückseligkeit unbedeutend und sogar für ihre Sittlichkeit gefährlich in die Augen fallen zu machen und dabei den Ansehnlichen unter ihnen den Anteil, den sie an dem göttlichen Recht der Macht selber haben, zu relevieren [als bedeutsam hinstellen] und den Hoffartskitzel, den sie also in ihnen verstärken, durch den Wonnegenuß der Gnade und des Mitleids zu verfeinern, auch tiefen Argwohn und Unwillen gegen jeden Mann rege zu machen, der es wagt, ihr ruchloses Auslöschen der bürgerlichen Tugend durch den Trug einer wahrheitsleeren Sittlichkeit und ihr Verscharren des Rechts in die Mistgrube der Gnade für das zu erklären, was es wirklich ist. Wenn du in diesem Zeitpunkt Gutes tust oder wenigstens das tust, was deine Väter Gutestun hießen, wenn du die Grundsätze der gesellschaftlichen Ordnung wider den Tiersinn der Macht ins Licht setzest und auf das Recht und die gute Ordnung deiner Väter dringst und gegen die Mißbräuche der Macht eiferst, so fürchte dich, denn sie trägt in diesem Zeitpunkt das Schwert zur Beschützung ihrer eigenen tierischen Selbstsucht. Tust du aber Böses oder wenigstens das, was deine Väter Bösestun hießen, und hilfst du ihr dann die Menschheit entadeln, den rechtlichen Freiheitssinn in einen das Innerste der menschlichen Natur entwürdigenden tierischen Dienstsinn umzuwandeln, so wirst du Lob von derselben haben, denn sie ist in diesem Zeitpunkt ein Diener ihrer eigenen Selbstsucht.
Übergang zu dem Wesentlichen meines Buches
Ich hätte also das Bild der Menschen und mit ihm das Bild der nahenden Auflösung der Staaten vollendet. Es ist mir ganz Wahrheit, das heißt: es steht meiner Individualität so und nicht anders vor Augen. Es trägt darum aber auch das Gepräge, das die Natur meiner individuellen Entwicklung selbst gegeben, und steht folglich mit der ganzen Einseitigkeit da, mit welcher einige Gegenstände der Welt im Gang meines Lebens, mit vielem Reiz verwoben, andere mit vielem Ekel umhüllt, einige mit großen Erfahrungen belegt, andere von dem Schatten der Erfahrungslosigkeit verdunkelt, vor meinen Augen erscheinen. Es soll also sein. Mein Bild vom Menschen soll wie mein Buch nichts sein als die Wahrheit, die in mir selbst liegt, sonst wäre sie ein Gewebe von Lügen wider mich selbst und wider meinen Zweck.
Ich ging jetzt weiter und fragte mich: Aber warum ist es also? Warum geht mein Geschlecht im Jammer der Rechtlosigkeit und im Elend innerer Entwürdigung dahin, indessen einzelne Menschen sich zu einer merklichen Höhe bürgerlichen Wohlstands und sittlicher Veredelung erheben. Hier muß ich Licht finden, oder der Eindruck, den der Gang meines Lebens auf mich gemacht hat, bleibt bis an mein Grab ein Chaos vor meinen Augen.
Soviel sah ich bald: Die Umstände machen den Menschen; aber ich sah eben so bald: Der Mensch macht die Umstände, er hat eine Kraft in sich selbst, selbige vielfältig nach seinem Willen zu lenken.
Sowie er dieses tut, nimmt er selbst Anteil an der Bildung seiner selbst und an dem Einfluß der Umstände, die auf ihn wirken. Ich suchte jetzt dieses Gemisch von Zufall und Freiheit, welches das Geschick meines Daseins auf Erden zu sein scheint, mir selbst näher zu entwickeln, und fragte mich zuerst: Wie bin ich das, was ich wirklich bin? Wie kommt der Mensch dahin, daß er wirklich ist, was er ist?
Ich fragte mich: Geht auch ein Kind, wenn es nicht dazu gezogen und angehalten wird, am Morgen früh an seine Arbeit und macht ruhig und zufrieden sein Tagwerk, bis die Sonne sich neigt und die müden Glieder sich nach Ruhe sehnen; und der Bauer, wenn er sonst hätte, was er wollte: Würde er den Tag hinüber und das Jahr hindurch in Holz und Feld schwitzen und frieren, wie er's jetzt tut? Also auch der Kaufmann und der Handwerker: Würden auch diese den Tag über und das Jahr durch also an ihrem Pult und an ihrer Werkbank angeschlossen sitzen, wenn sie nicht sämtlich von Jugend auf mit Zwang dahin gebracht worden wären, in tausend Dingen anders zu empfinden, zu denken und zu handeln, als der Mensch ohne Zwang und Gewalt auf der ganzen Erde sonst allgemein empfindet, denkt und handelt?
Ich müßte mir antworten, alle diese Leute würden, wenn sie sonst hätten, was sie wollten, dieses alles nicht tun, im Gegenteil sie würden in diesem Fall nur dahin trachten, ihre Ruhe zu pflegen, ihren Freuden nachzujagen, sich um niemand als um sich selber zu bekümmern und ihre Tage ohne Mühseligkeit und ohne Leiden und ohne Anstrengung zu durchleben suchen. Also ist der Mensch, was er ist, durch den Zwang und die Mühe, durch die er dahin gebracht wird, in seinen wesentlichsten Angelegenheiten anders zu empfinden, zu denken und zu handeln, als er ohne Zwang und Mühe empfinden, denken und handeln würde. Es ist aber offenbar, wenn der gesellschaftliche Mensch sich ohne diesen Zwang selbst überlassen würde, so würden alle Bande der Welt aufgelöst, und namenloses Elend würde wie ein Engel des Todes über der zerrütteten Erde schweben.
Indessen muß ich mich dennoch, vermöge der ersten Grundgefühle meiner Natur, in dieser Lage notwendig fragen: Muß ich also nicht mein Recht und mein Glück dahingeben, damit die Welt in einer Ordnung bleibe, von der ich im Grunde nicht weiß, ob sie gut oder böse ist.
Aber ich kann es bei mir selbst nicht verhüten, daß ich wirklich nicht zu wissen verlange, ob die Ordnung der Welt, durch die ich bin, was ich bin, gut oder böse sei. Ich kann mich unmöglich überreden, daß die Zwanglosigkeit, die meine Natur begehrt, für mein Geschlecht gut sein könnte, indem sie mich unwidersprechlich dahin führen würde, alles das zu versäumen, wodurch ich allein dahin gelangen kann, also zu leben, daß mich mein Weib lieben, daß mich mein Sohn ehren, daß mir mein Freund trauen, daß der Arme mich segnen und mein Land mir Dank haben könne.
Wenn ich denn aber alles dieses weiß, höre ich dann um deswillen auf, die zwanglose Freiheit meiner tierischen Natur mit der ganzen Gewaltsamkeit meiner ersten tierischen Triebe zu fordern? Ich muß wieder antworten: Nichts weniger! Ich kann auf der einen Seite freilich die Folgen selber nicht tragen, die es auf mich hat, wenn ich den tierischen Trieben meiner Natur gegen meine Überzeugung unterliege.
Auf der anderen Seite ist der Grad der Sinnengewalt, dem ich unterliege, meiner Natur wesentlich.
Ich kann die Grundgefühle meiner tierischen Natur nicht unentkräftet in meinem Busen tragen, ohne mich selig zu fühlen, wenn ich am milden Strahl der Sonne, der Vergangenheit und der Zukunft vergessend, meine Augenblicke träumend durchlebe.
Ich kann nicht mit den Tieren des Feldes die Ähnlichkeit haben, die ich habe, ohne meine Hand mit unbeschränkter Freiheit auszustrecken nach der Frucht des Feldes und des Weinbergs. Ich kann nicht sein wer ich bin und den Vorrat meiner Höhle gern und willig mit einem Mann teilen, der mir nicht half, sie zu sammeln. Und doch muß ich das und tausend Dinge, die dem gleich sind, als Bauer und Bürger, Handwerker usw. nicht bloß können, sondern auch wollen. Und wenn ich mich denn frage: Warum bin ich Bürger, Bauer, Handwerker usw., warum will ich nicht lieber bloß Mensch sein? so finde ich, ich genieße in allen diesen Verhältnissen Vorteile, die ich mir außer denselben nicht verschaffen kann und die meine tierische Natur auch für den ganzen Wert ihrer tierischen Zwanglosigkeit nicht geneigt ist, fahren zu lassen.
Es ist also mitten in den Einschränkungen meiner gesellschaftlichen Bildung dennoch mein tierischer Vorteil, folglich auch mein tierischer Wille, daß die Verhältnisse fortdauern, ohne deren Dasein ich die Vorteile derselben nicht genießen könnte. Wenn also schon die Grundlage meiner gesellschaftlichen Bildung wesentlich eine auf tierischen Zwang gegründete Einschränkung meiner Naturfreiheit und ihrer ganzen Wonne ist, so ist es gleich wahr: Die Erfahrungen meines Lebens führen mich immer mit sicherem Schritt dahin, den Folgen meines tierischen Zwangs durch meinen Willen selber Dauer zu verleihen. Unwissend und ohne Kunde dessen, was ich, durch Zufall und Erfahrung geleitet, aus mir selber machen werde, und ebenso, ohne vorzügliche Sorgfalt für das, was die Kunst meines Geschlechts aus mir machen möchte, setzte mich die Natur mit einer vorzüglichen Kraft auf die Erde, mein tierisches Dasein allenthalben durch mich selbst, ohne Zutun der Kunst meines Geschlechts, sicherstellen zu können.
In der Einfachheit dieser ursprünglichen Grundkraft meiner Natur, in meinem Instinkt, liegt das Wesen meines gesunden tierischen Empfindens, Denkens und Handelns.
Sobald ich aber mehr sein will oder mehr sein muß, als die Natur allgemein aus meinem Geschlecht gemacht hat, so muß ich mich zum Herrn über den einfachen Führer meines ungekünstelten und ungebildeten Daseins [den Instinkt] auf Erden emporheben.
Die Natur kann das nicht für mich tun. Sie kann mich nicht mit dem Gesetz ihrer Allmacht zwingen, daß ich den Kopf nicht in den Lüften trage, daß ich nicht gern am milden Strahl der Sonne der Vergangenheit und der Zukunft vergesse, ebensowenig daß ich ohne mein Zutun und wider meinen Willen ein guter Schneider, ein guter Schuhmacher werde. Wenn sie das könnte und täte, so wäre ich nicht Mensch, die ganze Grundlage, durch die ich mich selber dazu machen muß, mangelte mir dann.
Sie konnte ebensowenig den Grad der tierischen Kraft, den der Mensch in der Unbehilflichkeit der ungebauten Erde unter allen Himmelsstrichen nötig hat, zu der Schwäche erniedrigen, daß es einem jeden Scherenschleifer und einem jeden Fürsten immer gar leicht sein müßte, sich bei allem Eigensinn vor aller Sorge, aller Not und aller Schande zu bewahren. Auch das Dasein unseres Geschlechts würde in Gefahr gesetzt, wenn die Verirrungen unserer Selbstsucht im gesellschaftlichen Leben nicht in den starken Gefühlen unserer Selbsterhaltung ein Gegengewicht fänden.
Das ist so wahr, daß selbst die Dorfschulzen die Welt schon zur Wüste gemacht hätten, wenn die Gewaltsamkeit, mit der sie in den Rauchwinkeln ihrer Schenkstuben sich einer Allgewalt anmaßen, nicht in der Stärke der ersten Grundgefühle unserer Natur ein allgemeines und sicheres Gegengewicht finden würde.
Was die Schulzen mit den Schenkstuben, das probieren Könige mit dem Zepter, Eroberer mit dem Schwert, Pinsel mit Schwatzen, Pfaffen mit Klöstern, Edelleute mit Schlössern, Obrigkeiten mit Kammern, kurz ein jeder mit der Eigenheit der physischen Kraft, die in seiner Hand ist.
Das Unrecht der Welt endet daher allenthalben nur durch Gewalt.
Tierischer Unsinn weicht keinem Recht, und gesellschaftlicher Unsinn ist nichts anderes als gesellschaftlich verstärkter und gesellschaftlich organisierter tierischer Unsinn. Sollte um deswillen Wahrheit und Recht meinem Geschlecht gar nichts sein?
Sollte es unbedingt wahr sein, daß alle Vorfälle des Lebens für dasselbe allgemein nur Zauberauftritte seien, die ihm den inneren Unterschied aller Dinge mit einem undurchdringlichen Nebel umhüllen?
Nein, auch dieses ist nicht so, wenn schon Wahrheit und Recht dem Menschen nicht von selbst in die Hand fallen, so ist es um deswillen doch nicht wahr, daß er Wahrheit und Recht gar nicht in seine Hand bringen kann.
Nein, das Modewort unserer Zeit: „Was nutzt alles Forschen nach Wahrheit und Recht, es kommt doch nichts dabei heraus“, ist nicht Wahrheit, es ist nur ein Stoßseufzer unserer Verlegenheit und unserer Abneigung gegen Wahrheit und Recht, insofern sie uns nicht dient.
Auch wenn wir uns nur ein wenig umsehen, wer von jeher die Leute gewesen, die dieses Modewort unserer Zeit am meisten im Munde geführt haben, so zeigt sich allgemein, daß die meisten von ihnen sicher ihren Tisch ändern müßten, wenn man von dem, was sie notieren, enregistrieren, kontrollieren, ausfertigen, besiegeln, beloben, befehlen und predigen, etwas in der Nähe untersuchen dürfte, ob es weiß oder schwarz ist.
Aber solche Menschen sind insoweit alle zu den Lügen ihres Tiersinns eigens gestempelt. Ihre Stimme entscheidet deswegen in Rücksicht auf die Kraft des Menschengeschlechts für Wahrheit und Recht gar nichts.
Wir kennen ihr Lirumlarum, wir wissen, was ihr Dudeldumdei will.
Ehrliche Leute rufen so wenig in den Haufen „Ihr seid alle Narren“, als „Ihr seid alle Kanaillen“.
Aber das Menschengeschlecht ist in Sachen, die seinen Tisch ändern könnten, nicht ehrlich, selten ist es der Mensch. In Rücksicht auf die Kraft des Menschengeschlechts für Wahrheit und Recht, ist soviel wahr:
Wir sehen alle Tage Leute, die jeden Vorfall des Lebens, der sie nahe berührt, mit offenen ruhigen Sinnen, wie er wirklich ist, ins Auge fassen. Wir sehen aber freilich auch solche, die täglich in den wesentlichsten Angelegenheiten ihres Lebens wie im Rausch handeln und mit zerstreuten Sinnen und mit einem unruhigen zerrütteten Inneren beinahe alles, was weiß ist, wirklich für schwarz und, was schwarz ist, wirklich für weiß ansehen. Aber die einen sind so wenig allgemein mit ihrem offenen Kopf als die anderen mit ihrem Brett vor der Stirne auf die Welt gekommen.
Wahrheit und Recht ist für unser Geschlecht, insofern es bloß tierisch handelt, bloß physische Kraft ist, freilich gar nichts. Wahrheit und Recht ist ihm nur etwas, insofern es sich etwas daraus macht, insofern es nicht bloß tierisch handelt, nicht bloß physische Kraft ist. Die Frage, warum mein Geschlecht also im Jammer der Rechtlosigkeit und im Elend innerer Zerrüttung dahin gehe, indessen einzelne Menschen sich zu einer merklichen Höhe bürgerlicher Glückseligkeit und innerer Veredelung erheben, schien mir jetzt sich also aufzulösen: Der Mensch ist rechtlos und zerrüttet, weil er sich aus Wahrheit und Recht nichts macht.Aber er findet Wahrheit, wenn er Wahrheit sucht. Er hat ein Recht, wenn er eines will. Der Mensch ist also durch seinen Willen sehend, aber auch durch seinen Willen blind. Er ist durch seinen Willen frei und durch seinen Willen Sklav'. Er ist durch seinen Willen redlich und durch seinen Willen ein Schurke. Dieser Gesichtspunkt veranlaßte folgendes Gespräch:
Die innere Gleichheit der menschlichen Verirrungen
Er: Hat der Mensch den festen und reinen Willen, durch den er zur Wahrheit und zum Recht zu gelangen vermag, wenn er empfindet, denkt und handelt, wie er ohne allen Zwang und Gewalt immer tut?
Ich: Das ist nicht möglich.
Er: Warum?
Ich: Weil er in diesem Fall in seinem Empfinden, Denken und Handeln ganz von dem Punkt ausgeht, auf welchem mein Geschlecht in wirklicher Unempfänglichkeit für Wahrheit und Recht bloß tierisch dahingeht.
Er: Wohin muß aber diese Beschaffenheit meiner selbst mich in allen Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens hinführen?
Ich: Zur Untreue am gesellschaftlichen Recht.
Er: Worin besteht diese Untreue?
Ich: In der Unredlichkeit, die Entsagung des Rechts der bluttriefenden Freiheit der Naturverwilderung nur zu heucheln, im Grunde aber mitten in der bürgerlichen Gesellschaft das gewalttätige, blutdürstige Raubtier zu bleiben, das der Mensch im tierischen Verderben seiner Naturverwilderung im Walde ist.
Er: Wie äußert der Mensch diese Untreue auf dem Thron?
Ich: Durch Neigung zur Tyrannei.
Er: Gesteht aber der Mensch auf dem Thron diese Neigung zur Tyrannei?
Ich: Nichts weniger.
Er: Wie heißt er dieselbe?
Ich: Festigkeit in der Erhaltung seiner hoheitlichen, seiner Souveränitäts-, seiner Kronrechte und wie die hohen Namen alle heißen.
Er: Wie äußert der Mensch diese Untreue unter dem Strohdach?
Ich: Durch Neigung zur Anarchie, zur Standesauflösung, zum Sansculottismus.
Er: Aber gesteht er unter dem Strohdach seine Neigung zur Anarchie und zur Standesauflösung?
Ich: Nichts weniger.
Er: Wie heißt er dieselbe?
Ich: Sorgfalt für Menschenrechte, für Freiheit, für Gleichheit, und wie die schönen Namen alle heißen.
Er: Wie äußert der Patrizier diese Untreue am gesellschaftlichen Recht?
Ich: Durch Neigung zur Oligarchie.
Er: Gesteht aber der Patrizier diese Neigung zur Oligarchie?
Ich: Nichts weniger.
Er: Wie heißt er dieselbe?
Ich: Neigung zur Aristokratie.
Er: Und wenn das böse Leben der Oligarchie den zum Blendwerk dargeworfenen Namen Aristokratie auch bei der blinden Menge gebrandmarkt hat, wie heißt er dann seine Untreue am gesellschaftlichen Recht?
Ich: Wie es kommt, bald landesherrliche Sorgfalt, bald landesherrliche Treue.
Er: Wie äußert der Edelmann diese Untreue am gesellschaftlichen Recht?
Ich: Durch Verfeinerung aller Heillosigkeiten unter dem Strohdach, durch Wild- und Jagdverschwendung und durch Tracasserien [Scherereien, Schikanen] seiner Amtleute mit seinen Wirtshäusern, Mühlen, mit seinem Maß und Gewicht, kurz: mit allen Eigenheiten der amtlichen Manier in Behandlung der herrschaftlichen Einkünfte.
Er: Gesteht aber der Edelmann in diesem Fall, daß er ein so heilloser Mensch ist, wie sein verdorbener Bauer?
Ich: Nichts weniger.
Er: Wie heißt er seine Heillosigkeit?
Ich: Standesmäßige Aufführung.
Er: Gesteht aber sein Amtmann diese Untreue am gesellschaftlichen Recht?
Ich: Gott behüte!
Er: Wie redet er von derselben?
Ich: Als von seiner großen Treue und Sorgfalt in der Verwaltung der herrschaftlichen Gefälle, die sich alle auf heitere, klare Rechte, auf vormundschaftliche Rechte, auf Schirmrechte, auf Lehensrechte, Kanzleirechte, Zollrechte, Wegrechte, Zehntrechte, Fronrechte, Lieferungsrechte, Jagdrechte, Fischrechte, Waidrechte usw. gründen und alle vollkommen in der Ordnung seien, daß auch kein Mensch im geringsten daran zu zweifeln habe.
Er: Und der Kaufmann und der Handwerker, wie äußern diese ihre Neigung zum gesellschaftlichen Unrecht?
Ich: Durch Vorliebe zu Monopolen.
Er: Was ist ein Monopol?
Ich: Ich denke soviel als eine Bemächtigung, irgendeine Sache mit gesellschaftlich unrechtmäßiger Beschränkung seiner Nebenmenschen benutzen zu dürfen.
Er: Also wäre ein Monopolist so ziemlich ein in der bürgerlichen Gesellschaft privilegiertes Naturtier?
Ich: Ich denke nicht viel anders.
Er: Und die Zyklopen, die mit ihrer Keule totschlugen, was in der Nähe ihrer Höhlen zu weiden wagte, wären also die ersten Monopolisten?
Ich: Ja! aber doch privilegierten diese dennoch sich selber und waren also in ihrer eigenen Sache selber Richter, die neueren gehen doch nicht so völlig via facti zu Werke, sie lassen wohl auch ganz nah an ihrem Wege leben, was lebt, und mögen zu Zeiten, wenn sie bei guter Laune sind, es noch gar wohl leiden, wenn sich etwa ein braver Mann bei ihnen um ein Stück Brot meldet, das macht doch einen großen Unterschied zwischen ihnen und den einäugigen Menschenfressern.
Er: Es macht einen Unterschied, aber wir wollen ihn nicht zu genau entwickeln. Wie äußert sich die Untreue an dem gesellschaftlichen Recht bei den Gelehrten?
Ich: Durch Streit und Zank, vorzüglich aber durch das Hungergewäsch ihrer unbehelflichen Seelen.
Er: Wie heißen sie ihren Streit und Zank?
Ich: Eifer für Wahrheit und Recht.
Er: Und das Hungergewäsch ihrer unbehelflichen Seelen?
Ich: Geistesprodukt.
Er: Und die Geistlichen, wie äußern diese ihre Untreue am gesellschaftlichen Recht?
Ich: Durch Schlaf- und Herrschsucht, durch Einmischung und durch ihre alleruntertänigste Untertänigkeit.
Er: Wie heißen sie ihre Schlafsucht?
Ich: Ruhe in Gott.
Er: Und ihre Herrschsucht?
Ich: Königliches Priestertum.
Er: Und ihre Einmischung?
Ich: Heilige Pflichttreue.
Er: Und ihre alleruntertänigste Untertänigkeit?
Ich: Nachfolge eines Mannes, der zwar freilich der Ordnung der Welt bis in den Tod gehorsam war, aber seinen Rücken dennoch nie vor Unrecht, Anmaßungen und Heuchelei bog.
Er: Sind aber diese Anmaßungen der Untreue unseres Geschlechts an Wahrheit und Recht allgemein etwas anderes, als Folgen des Übergewichts unserer tierischen Neigung, mitten in der bürgerlichen Gesellschaft also zu leben, wie der Mensch ohne allen Zwang und Gewalt immer lebt?
Ich: Sie sind allgemein nichts anderes als Folgen der Heillosigkeit im Gebrauch jeder gesellschaftlichen Kraft zu diesem Zweck; daher ist die Neigung des Königs zur Tyrannei und die Neigung des Bauern zur Anarchie in ihrem Wesen die nämliche Sache, daher spricht der Oligarch und der Sansculott aus einem Munde, daher sind die Heillosigkeiten des adeligen Landlebens bloße Verfeinerungen der Heillosigkeiten unter dem Strohdach, und ebenso die Tracasserien des Amtmanns mit den Tracasserien des Geistlichen, und hinwieder die monopolischen Großsprechereien der Kaufleute mit den monopolischen Gewalttätigkeiten und den Innungsarmseligkeiten der gelehrten Republik eine und eben dieselbe Sache.
Erste Darlegung meines wesentlichsten Gesichtspunkts
Es ward mir immer heiterer: Der Mensch, oder vielmehr ich selbst stelle mir Wahrheit und Recht wesentlich ungleich vor, wenn ich empfinde, denke und handle, wie der Mensch ohne Zwang und Gewalt immer empfindet, denkt und handelt – oder wenn ich empfinde, denke und handle, wie der Mensch durch die Kunst und den Zwang des bürgerlichen Lebens zu empfinden, zu denken und zu handeln lernt – oder endlich, wenn ich empfinde, denke und handle, wie ich soll, wenn ich meine innere Unabhängigkeit von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Ansprüchen als das Fundament meines Urteils über Wahrheit und Recht anerkenne.
Es schien mir heller: Wahrheit und Recht kommen mir in einem ungleichen Licht vor, wenn ich meinen Instinkt oder wenn ich meine bürgerlichen Anmaßungen oder wenn ich die Übereinstimmung mit dem Edelsten, Besten, das ich zu erkennen vermag, in mir selbst zum Fundament meines Urteils über Wahrheit und Recht anerkenne. Ich glaubte jetzt, ich müßte den Aufschluß der Widersprüche, die in meiner Natur zu liegen scheinen, in diesem wesentlichen Unterschied der Vorstellungsart von Wahrheit und Recht, deren meine Natur fähig ist, suchen.
Nähere Bestimmung dieses wesentlichen Gesichtspunkts
Ich nahm also an, der Mensch, oder vielmehr ich selbst stelle mir die Welt auf drei verschiedene Arten vor und deswegen sei die Vorstellung von Wahrheit und Recht in mir selbst im Gefolge dieser dreifachen Gesichtspunkte wesentlich verschieden; ich erschaffe mir durch einen jeden derselben in mir selbst eine für denselben ausschließend passende Vorstellung von Wahrheit und Recht.
Also habe ich in mir selbst eine tierische Wahrheit, das ist: Ich habe in mir selbst eine Kraft, alle Dinge dieser Welt als ein für mich selbst bestehendes Tier anzusehen.
Ich habe eine gesellschaftliche Wahrheit, das ist: Ich habe eine Kraft, alle Dinge dieser Welt als ein mit seinem Nebenmenschen in Vertrag und Verkommnis stehendes Geschöpf anzusehen.
Ich habe eine sittliche Wahrheit, das ist: Ich habe eine Kraft, alle Dinge dieser Welt unabhängig von meinen tierischen Bedürfnissen und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen gänzlich nur in dem Gesichtspunkt, was selbige zu meiner inneren Veredelung beitragen, ins Auge zu fassen.
Also habe ich hinwieder ein tierisches Recht, das ist: Es entspringt aus der Art und Weise, wie ich alle Dinge dieser Welt als ein für mich selbst bestehendes Tier ansehe, ein allgemeines, unwillkürliches und einfaches Bedürfnis, auf dieselben zufolge dieses Gesichtspunkts einen tierischen Anspruch zu machen.
Ich habe ein gesellschaftliches Recht, das ist: Es entspringt aus der Art und Weise, wie ich alle Dinge dieser Welt als ein in Verkommnissen und Vertrag stehendes Geschöpf ansehe, ein allgemeines, unwillkürliches und einfaches Gefühl, wie ich auf alle diese Dinge im Gefolge dieses Gesichtspunkts Ansprüche machen darf und Ansprüche machen soll.
Ich habe ein sittliches Recht, das ist: Es entspringt aus der Art und Weise, wie ich alle Dinge dieser Welt unabhängig von meinen tierischen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Verhältnissen ins Auge fasse, ein allgemeines, unwillkürliches und einfaches Gefühl, daß ich alle diese Dinge gänzlich nur nach dem Maßstab ihres Einflusses auf meine innere Veredelung begehren oder verwerfen soll.
So wie meine Vorstellungen von Wahrheit und Recht in mir selbst eine Folge meines tierischen Instinkts oder meiner gesellschaftlichen Ansprüche oder meiner sittlichen Kraft sind, also bin ich in mir selbst ein dreifach verschiedenes, ein tierisches, ein gesellschaftliches und ein sittliches Wesen; und ebenso finde ich in diesem dreifachen Unterschied meiner selbst gegen mich selbst, gegen andere, und gegen alles, was ist, den Grund, warum ich mir bei gewissen Ansprüchen, die ich in mir selbst nähre, vorstelle, sie gründen sich auf ein Naturrecht, bei anderen, sie gründen sich auf ein gesellschaftliches, und wieder bei anderen, sie gründen sich auf ein sittliches Recht.
Und die Frage: Was ist Naturrecht – was ist gesellschaftliches Recht – was ist sittliches Recht? schien mir jetzt nichts anderes sagen zu wollen als: Was macht die dreifach verschiedene Vorstellungsart von Wahrheit und Recht, deren meine Natur fähig ist, in jedem Fall aus mir selber?
Was bin ich, wenn die Welt meiner sinnlichen Begierlichkeit ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Zustand, ins Auge fällt?
Was bin ich, wenn die Welt meiner sinnlichen Begierlichkeit mit Rücksicht auf diesen Zustand, ins Auge fällt?
Was bin ich, wenn selbige mir bloß in Rücksicht auf meine innere Veredelung ins Auge fällt?
Ich nahm also für wahr an, der erste Zustand sei der Naturstand, der zweite der gesellschaftliche, und der dritte der sittliche, und faßte nun den Menschen in diesen dreifachen verschiedenen Gesichtspunkten ins Auge.