Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans, 1799
PSW 13, S. 1-32
Freund! Ich erwache abermals aus meinem Traum, sehe abermals mein Werk zernichtet und meine schwindende Kraft unnütz verschwendet. Aber so schwach, so unglücklich mein Versuch war, so wird es jedem menschenfreundlichen Herzen wohltun, sich einige Augenblicke ob demselben zu verweilen und die Gründe zu überlegen, die mich überzeugen, daß eine glückliche Nachwelt den Faden meiner Wünsche sicher da wieder anknüpfen wird, wo ich ihn lassen mußte.
Ich sah die ganze Revolution von ihrem Ursprung an für eine einfache Folge der verwahrlosten Menschennatur an und achtete ihr Verderben (ihre Schrecken) für eine unausweichliche Notwendigkeit, um die verwilderten Menschen zur Besonnenheit über ihre wesentlichsten Angelegenheiten zurück zu lenken. Ohne Glauben an das Äußere der politischen Form, die sich die Masse solcher Menschen selber würde geben können, hielt ich einige durch sie zur Tagesordnung gebrachte Begriffe und rege gemachte Interessen für schicklich, hie und da etwas für die Menschheit wahrhaft Gutes anzuknüpfen. Also brachte ich auch meine alten Volkserziehungswünsche, soviel ich konnte, in Umlauf und legte sie vorzüglich mit dem ganzen Umfang, in dem ich sie denke, in den Schoß Legrands (damals einer der Direktoren der Schweiz) . Er nahm nicht nur Interesse dafür, sondern urteilte mit mir, die Republik bedürfe der Umschaffung des Erziehungswesens unausweichlich, und war mit mir einig: die größtmögliche Wirkung der Volksbildung könnte durch die vollendete Erziehung einer merklichen Anzahl Individuen aus den ärmsten Kindern im Lande erzielt werden, wenn diese Kinder durch ihre Erziehung nicht aus ihrem Kreis gehoben, sondern durch dieselbe vielmehr fester an denselben angeknüpft würden. Ich beschränkte meine Wünsche auf diesen Gesichtspunkt. Legrand begünstigte ihn auf alle Weise. Er fand ihn so wichtig, daß er einmal zu mir sagte: Wenn ich auch von meinem Posten abtrete, so geschieht es nicht, bis du deine Laufbahn angetreten.
Da ich meinen Plan von der öffentlichen Erziehung der Armen im dritten und vierten Teil von "Lienhard und Gertrud" (erste Ausgabe)[gemeint sind die 1781, 1783, 1785 und 1787 erschienenen vier Teile der ersten Fassung von "Lienhard und Gertrud] umständlich dargelegt, so wiederhole ich seinen Inhalt nicht. Ich legte ihn mit dem ganzen Enthusiasmus sich nährender [im gedruckten Original heißt es irrtümlich "nähernder] Hoffnungen dem Minister Stapfer vor. Er begünstigte ihn mit der Wärme eines edlen, die Bedürfnisse der Volksbildung aus den wesentlichsten und höchsten Gesichtspunkten umfassenden Mannes. Eben dies tat auch der Minister des Inneren Rengger.
Meine Absicht war, zu meinem Zweck im Zürichgebiet oder Aargau ein Lokal zu wählen, das durch Vereinigung der Lokalvorteile, der Industrie, der Landkultur und der äußeren Erziehungsmittel mir den Weg sowohl zur Ausdehnung meiner Anstalt als zur Vollendung ihrer inneren Zwecke erleichterte. Aber das Unglück von Unterwalden (im September 1798) entschied über das Lokal, das ich wählen mußte. Die Regierung sah es als dringend an, diesem Distrikt wieder aufzuhelfen, und bat mich, für einmal den Versuch meiner Unternehmung an einem Ort zu machen, dem wahrlich alles mangelte, was den glücklichen Erfolg derselben auf einige Weise befördern könnte.
Ich ging gern. Ich hoffte, zu der Unschuld des Landes einen Ersatz seiner Mängel und in seinem Elend ein Fundament seiner Dankbarkeit zu finden. Mein Eifer, einmal an den großen Traum meines Lebens Hand anlegen zu können, hätte mich dahin gebracht, in den höchsten Alpen, ich möchte sagen, ohne Feuer und Wasser anzufangen, wenn man mich nur einmal hätte anfangen lassen.
Die Regierung wies mir zwar das neue Gebäude der Klosterfrauen (Ursulinerinnen) [hier irrt der Protestant Pestalozzi, es waren Kapuzinerinnen] in Stans zur Wohnung an. Allein dieses war, als ich schon ankam, teils noch nicht vollendet, teils zu dem Zwecke eines Waisenhauses einer beträchtlichen Anzahl Kinder keineswegs eingerichtet. Es mußte daher vor allem aus in brauchbaren Stand gestellt werden. Dazu ließ die Regierung die nötigen Anstalten treffen, und Rengger betrieb die Angelegenheiten mit Aufwand, Kraft und Tätigkeit. Überhaupt ließ es mir die Regierung an Geld zu den nötigen Einrichtungen der Sache nicht fehlen. Bei allem Willen und aller Unterstützung jedoch forderten diese Vorbereitungsanstalten wenigstens Zeit. Aber gerade diese fand sich bei der Notwendigkeit, die Menge teils verwahrloster Kinder, teils durch die vorhergehenden blutigen Ereignisse verwaister Kinder schnell zu versorgen, am wenigsten.
Außer dem nötigen Geld mangelte es übrigens an allem, und die Kinder drängten sich herzu, ehe weder Küche noch Zimmer noch Betten für sie in Ordnung sein konnten. Das verwirrte den Anfang der Sache unglaublich. Ich war in den ersten Wochen in einem Zimmer eingeschlossen, das keine 24 Schuh ins Gevierte hatte. Der Dunstkreis war ungesund, schlechtes Wetter schlug noch dazu, und der Mauerstaub, der alle Gänge füllte, vollendete das Unbehagliche des Anfangs. Ich mußte im Anfang die armen Kinder wegen Mangel an Betten des Nachts zum Teil heimschicken. Diese alle kamen dann am Morgen mit Ungeziefer beladen zurück. Die meisten dieser Kinder waren, da sie eintraten, in dem Zustand, den die äußerste Zurücksetzung der Menschennatur allgemein zu seiner notwendigen Folge haben muß. Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, daß sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln des Mißtrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt; andere vom Elend erdrückt, duldsam, aber mißtrauisch, lieblos und furchtsam. Zwischen hinein einige Zärtlinge, die zum Teil ehemals in einem gemächlichen Zustand lebten; diese waren voll Ansprüche, hielten zusammen, warfen auf die Bettel- und Hausarmenkinder Verachtung, fanden sich in dieser neuen Gleichheit nicht wohl, und die Besorgung der Armen, wie sie war, war mit ihren alten Genießungen nicht übereinstimmend, folglich ihren Wünschen nicht entsprechend. Träge Untätigkeit, Mangel an Übung der Geistesanlagen und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein. Unter zehn Kindern konnte kaum eins das ABC. Von anderem Schulunterricht oder wesentlichen Bildungsmitteln der Erziehung war noch weniger die Rede.
Der gänzliche Mangel an Schulbildung war indessen gerade das, was mich am wenigsten beunruhigte; den Kräften der menschlichen Natur, die Gott auch in die ärmsten und vernachlässigtesten Kinder legte, vertrauend, hatte mich nicht nur frühere Erfahrung schon längst belehrt, daß diese Natur mitten im Schlamm der Roheit, der Verwilderung und der Zerrüttung die herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten entfaltet, sondern ich sah auch bei meinen Kindern mitten in ihrer Roheit diese lebendige Naturkraft allenthalben hervorbrechen. Ich wußte, wie sehr die Not und die Bedürfnisse des Lebens selbst dazu beitragen, die wesentlichsten Verhältnisse der Dinge dem Menschen anschaulich zu machen, gesunden Sinn und Mutterwitz zu entwickeln und Kräfte anzuregen, die zwar in dieser Tiefe des Daseins mit Unrat bedeckt zu sein scheinen, die aber, vom Schlamme dieser Umgebungen gereinigt, in hellem Glanz strahlen. Das wollte ich tun. Aus diesem Schlamm wollte ich sie herausheben und in einfache, aber reine häusliche Umgebungen und Verhältnisse versetzen. Ich war gewiß, es brauchte nur dieses und sie würden als höherer Sinn und höhere Tatkraft erscheinen und sich als Tüchtigkeit zu allem erproben, was nur immer den Geist befriedigen und das Herz in seiner innersten Neigung ansprechen kann.
Ich sah also meine Wünsche erfüllt, und war überzeugt, mein Herz werde den Zustand meiner Kinder so schnell ändern, als die Frühlingssonne den erstarrten Boden des Winters. Ich irrte mich nicht; ehe die Frühlingssonne den Schnee unserer Berge schmelzte, kannte man meine Kinder nicht mehr.
Aber ich will mir nicht voreilen. Freund, ich will dich dem Wachstum meiner Pflanze zuschauen machen, wie ich oft am Abend meinem Kürbis zuschaute, der schnell an meinem Gebäude aufschoß, und dir auch den Wurm nicht verschweigen, der oft an den Blättern dieses Kürbisses, und nicht selten auch an seinem Herzen nagte.
Außer einer Haushälterin allein, ohne Gehilfen, weder für den Unterricht der Kinder noch für ihre häusliche Besorgung, trat ich unter sie und eröffnete meine Anstalt. Ich wollte es allein, und ich mußte es schlechterdings, wenn mein Zweck erreicht werden sollte. Auf Gottes Erdboden zeigte sich niemand, der in meine Gesichtspunkte für den Unterricht und die Führung der Kinder hätte eintreten wollen. Auch kannte ich damals beinahe niemand, der es auch nur hätte können. Je gelehrter und gebildeter die meisten Menschen waren, mit denen eine Verbindung möglich gewesen, desto weniger verstanden sie mich und desto unfähiger zeigten sie sich, die Anfangspunkte auch nur theoretisch festzuhalten, auf die ich zurückzugehen suchte. Der ganze Gang ihrer Ansichten über die Einrichtungen, über die Bedürfnisse der Unternehmung usw. waren meinen Ansichten durchaus fremd. Am meisten aber widerstrebte ihnen der Gedanke und die Möglichkeit seiner Ausführung, keine künstliche Hilfsmittel, sondern bloß die die Kinder umgebende Natur, die täglichen Bedürfnisse und die immer rege Tätigkeit derselben selbst als Bildungsmittel derselben zu benutzen. Und doch war es eben dieser Gedanke, auf den ich die ganze Ausführung meines Unternehmens gründete. Er war auch der Mittelpunkt, an den sich eine Menge anderer Gesichtspunkte anreihte und gleichsam daraus entwickelte.
Gebildete Schulleute konnten mir also nicht helfen. Mit rohen und ungebildeten war natürlich noch weniger auszurichten. Ich hatte keinen bestimmten und sicheren Faden, den ich einem Gehilfen hätte an die Hand geben, und ebensowenig eine Tatsache, einen Gegenstand der Anschauung, an den ich meine Idee und meinen Gang hätte versinnlichen können. Ob ich also wollte oder nicht, ich mußte erst eine Tatsache durch mich selbst aufstellen und durch das, was ich tat und vornahm, das Wesen meiner Ansichten klar machen, ehe ich auf fremde Unterstützung in dieser Hinsicht rechnen durfte. Es konnte mir in dieser Stellung im wesentlichen kein Mensch helfen. Ich mußte mir selbst helfen.
Meine Überzeugung war mit meinem Zweck eins. Ich wollte eigentlich durch meinen Versuch beweisen, daß die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müsse nachgeahmt werden, und daß die letztere nur durch die Nachahmung der ersteren für das Menschengeschlecht einen Wert hat. Schulunterricht ohne Umfassung des ganzen Geistes, den die Menschenerziehung bedarf, und ohne auf das ganze Leben der häuslichen Verhältnisse gebaut, führt in meinen Augen nicht weiter als zu einer künstlichen Verschrumpfungsmethode unseres Geschlechts. Jede gute Menschenerziehung fordert, daß das Mutterauge in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit in seinem Auge, auf seinem Munde und seiner Stirn lese. Sie forderte wesentlich, daß die Kraft des Erziehers reine und durch das Dasein des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft sei. Hierauf baute ich. Daß mein Herz an meinen Kindern hänge, daß ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sei, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend, in jedem Augenblick auf meiner Stirn sehen und auf meinen Lippen ahnden.
Der Mensch will so gerne das Gute, das Kind hat so gerne ein offenes Ohr dafür; aber es will es nicht für dich, Lehrer, es will es nicht für dich, Erzieher, es will es für sich selber. Das Gute, zu dem du es hinführen sollst, darf kein Einfall deiner Laune und deiner Leidenschaft, es muß der Natur der Sache nach an sich gut sein und dem Kind als gut in die Augen fallen. Es muß die Notwendigkeit deines Willens nach seiner Lage und seinen Bedürfnissen fühlen, ehe es dasselbe will. Alles, was es lieb macht, das will es. Alles, was ihm Ehre bringt, das will es. Alles, was große Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht "ich kann es", das will es. Aber dieser Wille wird nicht durch Worte, sondern durch die allseitige Besorgung des Kindes und durch die Gefühle und Kräfte, die durch diese allseitige Besorgung in ihm rege gemacht werden, erzeugt. Die Worte geben nicht die Sache selbst, sondern nur eine deutliche Einsicht, das Bewußtsein von ihr.
Vor allem aus wollte und mußte ich also das Zutrauen der Kinder und ihre Anhänglichkeit zu gewinnen suchen. Gelang mir dieses, so erwartete ich zuversichtlich alles Übrige von selbst. Freund, denke dir aber meine Lage, die Stimmung des Volks und der Kinder, und fühle dann, welche Hindernisse ich dabei zu überwinden hatte.
Das unglückliche Land hatte durch Feuer und Schwert alle Schrecknisse des Krieges erfahren. Das Volk verabscheute größtenteils die neue Verfassung. Es war erbittert gegen die Regierung und hielt selbst ihre Hilfe für verdächtig. Durch seinen von Natur melancholischen Charakter hing es, allem Fremden als Neuerung abgeneigt, mit bitterer und mißtrauischer Hartnäckigkeit an dem ganzen Umfang seines alten, auch noch so elenden Daseins. Ich stand unter ihnen als ein Geschöpf der neuen verhaßten Ordnung. Zwar nicht als ihr Werkzeug, aber als ein Mittel in der Hand von Menschen, die sie sich auf der einen Seite im Zusammenhang mit ihrem Unglück dachten und von denen sie auf der anderen Seite im Ganzen ihrer sich vielfach durchkreuzenden Ansichten, Wünsche und Vorurteile unmöglich befriedigt werden konnten.
Diese politische Mißstimmung war dann noch durch eine ebenso starke religiöse Mißstimmung verstärkt. Man sah mich als einen Ketzer an, der bei einigem Guten, das er den Kindern tue, ihr Seelenheil in Gefahr bringe. Diese Leute hatten noch nie einen Reformierten in irgendeinem öffentlichen Dienst, will geschweigen als Erzieher und Lehrer ihrer Kinder, in ihrer Mitte wohnen und in Tätigkeit gesehen, und der Zeitpunkt begünstigte das religiöse Mißtrauen im innigsten Zusammenhang mit dem politischen Zittern, Zagen und zum Teil Heucheln, das damals mehr als je, solange Stans steht, an der Tagesordnung war.
Denke dir, Freund, diese Stimmung des Volks und dann meine so wenig imponierende Kraft und meine Lage. Denke dir, wie vielem ich persönlich, beinahe öffentlich, ausgesetzt sein mußte und wieviel Gutmütigkeit es unter diesen Umständen, selbst bei diesem Volke, bedurfte, um ungehindert meinen Gang fortgehen zu können.
Indessen, so drückend und stoßend die Hilflosigkeit, in der ich mich befand, war, so war sie von einer anderen Seite dem Inneren meiner Zwecke günstig. Sie nötigte mich, meinen Kindern alles in allem zu sein. Ich war von Morgen bis Abend soviel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand. Jede Hilfe, jede Handbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Aug' ruhte auf ihrem Aug'. Meine Tränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stans, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige. Ich hatte nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Letzte, der ins Bett ging, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen, sie wollten es so. Alle Augenblicke mit Gefahren einer gedoppelten Ansteckung umgeben, besorgte ich die beinahe unbesiegbare Unreinlichkeit ihrer Kleider und ihrer Personen. Dadurch aber war es denn freilich auch allein möglich, daß sich die Kinder allmählich und einige innigst und so weit an mich anschlossen, daß sie dem, was sie Dummes und Verächtliches selbst von ihren Eltern und Freunden gegen mich hörten, widersprachen. Sie fühlten, daß mir Unrecht geschah, und ich möchte sagen, sie liebten mich doppelt dafür. Aber was hilft's, wenn die Küchlein in ihrem Nest ihre Mutter lieben, wenn der Raubvogel, der ihnen allen den Tod droht, täglich mit seiner Gewalt ob ihrem Nest schwebt!
Auch war die erste Wirkung dieser Grundsätze und dieses Tuns nichts weniger als allgemein befriedigend und konnte es nicht sein. Die Kinder glaubten nicht so leicht an meine Liebe. Des Müßiggangs, eines zügellosen Lebens, aller Verwilderung und ihrer unregelmäßigen Genüsse gewohnt und von der Hoffnung getäuscht, im Kloster nach Kloster Weise gefüttert zu werden und müßig bleiben zu können, beklagten sich bald mehrere ob der langen Zeit und wollten nicht bleiben. Mehrere redeten von einem Schulfieber, das die Kinder befallen, wenn sie den ganzen Tag lernen sollten. Diese Mißstimmung der ersten Monate wurde noch vorzüglich dadurch befördert, daß die Abänderung der ganzen Lebensart, die schlechte Witterung und die feuchte Kälte der Klostergänge zusammenschlug, mehrere Kinder krank zu machen. Es riß bald allgemein ein mich beunruhigender Husten ein, und ein Faulfieber, das in der ganzen Gegend herrschte, legte bald mehrere Kinder ins Bett. Dieses Fieber griff immer mit Erbrechen an; aber auch die Abänderung der Speisen, ohne Fieberanfall, veranlaßte oft Erbrechen. Man schrieb es allgemein ihrer schlechten Beschaffenheit zu, was, wie der Erfolg offenbar zeigte, eine Folge der berührten vereinigten Umstände war. Kein einziges starb jedoch.
Und es wurde in der Folge vollends heiter, daß das Übelbefinden vieler Kinder zwar von der Nahrung herkam, aber für ihre Gesundheit wirklich wohltätig war. Die Erfahrung war merkwürdig. Die Kinder hatten im Anfang gar viel Hafergrütze genossen. Das Volk schrieb allgemein den langen eingerissenen Husten diesem Nahrungsmittel zu. Jetzt zeigte es sich, daß es wahr war, aber nicht in dem Sinn, in welchem das Volk von dem Haberschlürf als einem elenden Nahrungsmittel redete; ich schrieb ihr selber das öftere Erbrechen meiner Kinder zu; aber sie veranlaßte diese Wirkung nicht als schlechtes Nahrungsmittel, sondern als Arznei. Die Beschaffenheit der Kinder war durch vorhergehende schlechte Beschaffenheit ihrer Nahrung tief verdorben. Die wenigen, die gesund waren, trüheten (nahmen an Gewicht zu, wurden kräftiger) von Anfang, aber nun auch die Verdorbenen. Sobald der Frühling da war, blühten die Kinder allgemein und auffallend; nicht nur ihr Wuchs, sondern auch ihre Farbe änderte sich sichtbar, schnell und auf eine Art, wie Menschen nur nach glücklich gemachten Kuren zunehmen. Das ist so wahr, daß Geistliche und Vorgesetzte, die sie später sahen, sich allgemein äußerten, sie kennten die Kinder nicht mehr, so habe sich ihr Aussehen gebessert.
Der krankhafte Zustand mehrerer dauerte indessen ziemlich lange und ward durch Einwirkung der Eltern noch verschlimmert. "Du gutes Kind, wie elend siehst du aus, ich vermag dich noch immer so gut zu erhalten, als du's hier hast, komm du heim." So sprachen viele Mütter, die mit ihren Kindern von Haus zu Haus bettelnd herumzogen, laut vor allen Kindern, sobald sie in die Stube kamen. Der Sonntag war mir über diesen Zeitpunkt ein schrecklicher Tag. Da kamen solche Mütter, Väter, Bruder, Schwester zu ganzen Haufen, zogen meine Kinder auf der Straße und in dem Haus in alle Winkel, redeten meistens mit nassen Augen mit ihnen, dann weinten meine Kinder auch und wurden heimwehig. Bei Monaten war bald kein Sonntag, da nicht mehrere weggelockt wurden; aber immer kamen doch wieder andere. Es war bald wie ein Taubenhaus, darin bald eine ein-, bald eine ausflog.
Man kann sich die Folgen dieses wechselnden Ein-und-Ausfliegens in einer solchen keimenden Anstalt denken. Eltern und Kinder meinten bald, persönlich mir eine Gnade zu erweisen, wenn sie blieben; und ihrer viele fragten bei den Kapuzinern und anderswo nach, ob ich doch auch gar nichts anders zu erhalten wisse, daß mir am Behalten dieser Kinder so viel läge. Diese Leute nahmen allgemein an, ich unterziehe mich nur aus Armut dieser Mühe, und diese Voraussetzung gab ihrem Benehmen gegen mich natürlich eine große Nonchalance. Einige forderten mir sogar Almosen, wenn sie die Kinder dalassen müßten, und sagten, es gehe ihnen jetzt gar viel ab, weil sie dieselben beim Betteln nicht mehr bei sich hätten. Andere sagten mit dem Hut auf dem Kopf, sie wollen's noch ein paar Tage probieren, andere wollten mir Bedingnisse vorschreiben, wie oft ich sie zu ihnen heimlassen müßte.
So gingen Monate hin, ehe ich die Freude hatte, daß ein Vater oder eine Mutter mir mit einem heiteren dankvollen Auge die Hand drückte. Die Kinder kamen früher zu sich selber. Ich habe in diesem Zeitpunkt mehrere weinen gesehen, daß ihre Eltern kamen und gingen, ohne mich zu grüßen oder zu behüten (ohne den üblichen Abschiedsgruß "Behüt dich Gott" auszusprechen). Viele fühlten sich glücklich, und was auch ihre Mütter zu ihnen sagten, antworteten sie ihnen: "Ich habe es besser als zu Haus." Wenn ich einzeln mit ihnen redete, so erzählten sie mir gern, wie unglücklich sie wären; die einen, wie sie täglich in Zank und Streit leben müßten, wie sie nie keinen ruhigen, freudigen Augenblick hätten; die andern, wie sie oft tagelang keine Suppe, kein Brot zu sehen bekämen; wieder andere, wie sie das Jahr durch in kein Bett gekommen, noch andere, wie sie von einer Stiefmutter verfolgt und bald täglich mit Unrecht geschlagen würden. Und doch liefen eben diese Kinder den Morgen darauf mit den Müttern wieder fort.
Einige hingegen, nicht wenige, sahen bald, daß sie bei mir etwas lernen und etwas werden könnten, und blieben in der Anhänglichkeit und dem Eifer, den sie von Anfang zeigten, standhaft. Es ging nicht lange, so zeigten diese eine so innige Anhänglichkeit und eine so herzliche Zuneigung, daß viele aus Eifersucht nachahmten, was sie nicht fühlten.
Sichtbar waren die, welche entliefen, immer die schlechtesten und unfähigsten. Auch war ich sicher, man lockte mir die Kinder nur dann heim, wenn sie von Ungeziefer und von ihren Hudeln befreit waren. Denn offenbar traten viele mit der bestimmten Absicht ein, sich reinigen und sich kleiden zu lassen und dann wieder zu gehen.
Aber endlich setzte ihre eigene Überzeugung der Lieblosigkeit ihres Eintretens ein Ziel. Die Anstalt wuchs immer an, so daß ich 1799 bei achtzig Kinder hatte. Die meisten dieser Kinder hatten gute und einige ausgezeichnete Anlagen. Das Lernen war ihnen meistens ganz neu, und sobald einige sahen, daß sie es zu etwas bringen, so ward ihr Eifer unermüdet. Kinder, die in ihrem Leben kein Buch in der Hand gehabt, kaum das Vaterunser und Ave Maria auswendig konnten, kamen in wenigen Wochen dahin, daß sie mit dem größten Interesse vom frühen Morgen bis an den späten Abend fast unablässig lernten. Sie gaben mir selbst nach dem Nachtessen, insonderheit im Anfang, wenn ich sie fragte: "Kinder, wollt ihr jetzt lieber schlafen, oder lernen?" gewöhnlich zur Antwort: "lernen". Das erkaltete freilich später, da sie früher aufstehen mußten. Aber der erste Eifer gab dem Ganzen seine Richtung und dem Lernen einen Erfolg, der meine Erwartungen selber weit übertraf.
Indessen hatte ich's dennoch unaussprechlich schwer. Eine gute Organisation des Unterrichts zu treffen, war noch unmöglich. Die Verwilderung der Einzelnen und die Verwirrung des Ganzen war mit allem Zutrauen und mit allem Eifer noch nicht gehoben. Ich mußte für die Ordnung des Ganges im ganzen selbst noch ein höheres Fundament suchen, und dasselbe gleichsam hervorbringen. Ehe dieses Fundament da war, konnte sogar weder der Unterricht noch die Ökonomie und das Lernen der Anstalt gehörig organisiert werden. Ich wollte auch das nicht. Beides sollte statt eines vorgefaßten Planes viel mehr aus meinem Verhältnis mit den Kindern hervorgehen. Ich suchte auch darin höhere Grundsätze und bildende Kräfte. Es sollte das Erzeugnis des höheren Geistes der Anstalt und der harmonischen Aufmerksamkeit und Tätigkeit der Kinder selbst werden und aus ihrem Dasein, ihren Bedürfnissen und ihrem gemeinschaftlichen Zusammenhang unmittelbar hervorgehen. Es war überhaupt weder das ökonomische noch irgendein anderes Äußeres, von dem ich in meinem Gang ausgehen und womit ich den Anfang machen konnte und sollte, meine Kinder aus dem Schlamm und der Roheit ihrer Umgebungen, durch den sie in ihrem Inneren selbst gesunken und verwildert waren, herauszuheben. Es war so wenig möglich, gleich anfangs durch Steifigkeit den Zwang einer äußeren Ordnung und Ordentlichkeit oder durch ein Einpredigen von Regeln und Vorschriften ihr Inneres zu veredeln, daß ich bei der Zügellosigkeit und dem Verderben ihrer diesfälligen Stimmung sie vielmehr gerade dadurch von mir entfernt und ihre vorhandene wilde Naturkraft unmittelbar gegen meine Zwecke gerichtet hätte. Notwendig mußte ich erst ihr Inneres selbst und eine rechtliche und sittliche Gemütsstimmung in ihnen wecken und beleben, um sie dadurch auch für das Äußere tätig, aufmerksam, geneigt, gehorsam zu machen. Ich konnte nicht anders, ich mußte auf den erhabenen Grundsatz Jesu Christi bauen: "Macht erst das Inwendige rein, damit auch das Äußere rein werde" - und wenn je, so hat sich dieser Grundsatz in meinem Gang unwidersprechlich erprobet.
Mein wesentlicher Gesichtspunkt ging jetzt zuallererst darauf, die Kinder durch die ersten Gefühle ihres Beisammenseins und bei der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu Geschwistern zu machen, das Haus in den einfachen Geist einer großen Haushaltung zusammenzuschmelzen und auf der Basis eines solchen Verhältnisses und der aus ihm hervorgehenden Stimmung das rechtliche und sittliche Gefühl allgemein zu beleben.
Ich erreichte diesen Zweck mit ziemlichem Glück. Man sah in kurzem bei siebzig so verwilderte Bettelkinder mit einem Frieden, mit einer Liebe, mit einer Aufmerksamkeit und Herzlichkeit untereinander leben, die in wenigen kleinen Haushaltungen zwischen Geschwistern stattfindet.
Meine diesfällige Handlungsweise ging von dem Grundsatz aus: Suche deine Kinder zuerst weitherzig zu machen und Liebe und Wohltätigkeit ihnen durch die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse ihren Empfindungen, ihrer Erfahrung und ihrem Tun nahezulegen, sie dadurch in ihrem Inneren zu gründen und zu sichern, dann ihnen viele Fertigkeiten anzugewöhnen, um dieses Wohlwollen in ihrem Kreise sicher und ausgebreitet ausüben zu können. Endlich und zuletzt komme mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern: Knüpfe diese an die täglichen häuslichen Auftritte und Umgebungen an und sorge dafür, daß sie gänzlich darauf gegründet seien, um deinen Kindern klarer zu machen, was in ihnen und um sie vorgeht, um eine rechtliche und sittliche Ansicht ihres Lebens und ihrer Verhältnisse mit ihnen zu erzeugen. Aber wenn du Nächte durchwachen müßtest, um mit zwei Worten zu sagen, was andere mit zwanzig erklären, so laß dich deine schlaflosen Nächte nicht dauern [bedauern, bereuen].
Ich habe meinen Kindern unendlich wenig erklärt; ich habe sie weder Moral noch Religion gelehrt; aber wenn sie still waren, daß man eines jeden Atemzug hörte, dann fragte ich sie: "Werdet ihr nicht vernünftiger und braver, wenn ihr so seid, als wenn ihr lärmt?" Wenn sie mir an meinen Hals fielen und mich Vater hießen, fragte ich sie: "Kinder, dürft ihr eurem Vater heucheln? Ist es recht, mich zu küssen und hinter meinem Rücken zu tun, was mich kränkt?" Wenn von dem Elend des Landes die Rede war und sie froh waren und sich glücklich fühlten, dann sagte ich zu ihnen: "Ist Gott nicht gut, der das Menschenherz mitleidig erschaffen?" Auch fragte ich sie zu Zeiten: "Ist es nicht ein Unterschied zwischen einer Obrigkeit, die die Armen erzieht, daß sie sich für ihr ganzes Leben selber helfen können, und einer, die sie entweder sich selbst überläßt oder sie mit Bettelbrot und in Spitälern erhält, ohne ihrem Elend wirklich abzuhelfen und ihrem Laster und Müßiggang ein wirkliches Ende zu machen?" Viel und oft schilderte ich ihnen das Glück einer stillen, friedlichen Haushaltung, die durch Überlegung und Fleiß zu einem sicheren Brot und in die Lage gekommen, unwissenden, unerzogenen und unglücklichen Menschen zu raten und zu helfen. An meinen Busen hingelehnt, fragte ich manche der gefühlvollsten schon in den ersten Monaten: "Wolltest du nicht auch gern wie ich im Kreis armer Unglücklicher leben, sie erziehen, sie zu gebildeten Menschen machen?" Gott, wie sich ihre Gefühle erhoben, wie Tränen in ihren Augen waren, wenn sie mir antworteten: "Jesus Maria! wenn ich es auch dahin bringen könnte."
Über alles erhob sie die Aussicht, nicht ewig elend zu bleiben, sondern einst unter ihren Mitmenschen mit gebildeten Kenntnissen und Fertigkeiten zu erscheinen, ihnen nützlich werden zu können und ihre Achtung zu genießen. Sie fühlten, daß ich sie weiter bringe als andere Kinder; sie erkannten den inneren Zusammenhang meiner Führung mit ihrem künftigen Leben lebhaft, und eine glückliche Zukunft stellte sich ihrer Einbildung als erreichbar und sicher dar. Darum ward ihnen die Anstrengung bald leicht. Ihre Wünsche und ihre Hoffnungen waren mit dem Zweck derselben harmonisch. Freund, Tugend entkeimt aus dieser Übereinstimmung, wie die junge Pflanze aus der Übereinstimmung des Bodens mit der Natur und den Bedürfnissen ihrer zartesten Fasern. Ich habe eine innere Kraft in den Kindern aufwachsen sehen, deren Allgemeinheit meine Erwartung weit übertraf und deren Äußerungen mich oft mehr (im Original heißt es "so sehr" im Sinne von "ebenso sehr") in Erstaunen setzten als rührten.
Da Altdorf (Altdorf, der Hauptort des Kantons Uri, war am 5. April 1799 vollständig abgebrannt) verbrannte, versammelte ich sie um mich her und sagte zu ihnen: "Altdorf ist verbrannt, vielleicht sind in diesem Augenblick hundert Kinder ohne Obdach, ohne Nahrung, ohne Kleidung, wollet ihr nicht unsere gute Obrigkeit bitten, daß sie etwa 20 dieser Kinder in unser Haus aufnehme?" Ich sehe die Rührung, mit der ihr "ach ja, ach mein Gott ja" begleitet war, noch jetzt vor meinen Augen. "Aber, Kinder", sagte ich dann "denkt dem nach, was ihr begehrt. Unser Haus hat nicht Geld soviel, als es will, es ist nicht sicher, daß wir um dieser armen Kinder willen mehr als vorher bekommen. Ihr könnt also in die Lage kommen, um dieser Kinder willen mehr für euren Unterricht arbeiten zu müssen, weniger zu essen zu bekommen und sogar eure Kleider mit ihnen teilen zu müssen. Sagt also nicht, daß ihr diese Kinder wünscht, als wenn ihr euch alles dieses um ihrer Not willen auch gern und aufrichtig gefallen lassen wollt." Ich sagte dies mit aller Stärke, die mir möglich war, ich ließ sie selber wiederholen, was ich gesagt hatte, um mich sicher zu stellen, daß sie deutlich verstehen, wohin ihr Anerbieten führe, aber sie blieben standhaft und wiederholten: "Ja, ja, wenn wir auch schlechter zu essen bekommen und mehr arbeiten und unsere Kleider mit ihnen teilen müssen, so freut es uns doch, wenn sie kommen." Da einige emigrierte Bündner mit einer stillen Träne mir einige Taler für sie in die Hand drückten, ließ ich die Männer nicht gehen. Ich rief den Kindern und sagte: "Kinder, diese Männer sind aus ihrer Heimat entflohen und wissen vielleicht morgen nicht, wo sie selber ein Obdach und Auskommen finden, und doch geben sie in ihrer eigenen Not euch diese Gabe; kommt, dankt ihnen." Die Rührung der Kinder erregte lautes Schluchzen bei den Männern.
So war es, daß ich belebte Gefühle jeder Tugend dem Reden von dieser Tugend vorhergehen ließ; denn ich achtete es für böse, mit Kindern von irgendeiner Sache zu reden, von der sie nicht auch wissen, was sie sagen. An diese Gefühle knüpfte ich ferner Übungen der Selbstüberwindung, um dadurch denselben unmittelbare Anwendung und Haltung im Leben zu geben.
Eine organisierte Disziplin der Anstalt war freilich in dieser Rücksicht ebensowenig möglich. Auch sie sollte aus dem von Stufe zu Stufe sich ergebenden Bedürfnisse hervorgehen.
Stille als Mittel die Tätigkeit zu erzielen, ist vielleicht das erste Geheimnis einer solchen Anstalt. Die Stille, die ich forderte, wenn ich da war und lehrte, war mir ein großes Mittel zu meinem Ziel, und ebenso die Festhaltung auf der körperlichen Stellung, in der sie da sitzen mußten. Mit der Stille brachte ich es dahin, daß in dem Augenblick, wo ich es forderte, auch beim Nachsprechen aller Kinder, jeder Mißlaut fühlbar war, daß ich ferner auch mit leiser heiserer Stimme lehren konnte und kein Laut gehört ward, ohne den, den ich vorsprach und die Kinder nachsprechen mußten. Freilich war es nicht immer also.
Ich forderte unter anderem zum Scherz, daß sie während dem Nachsprechen dessen, was ich vorsagte, ihr Auge auf den großen Finger halten sollten. Es ist unglaublich, was die Festhaltung solcher Kleinigkeiten dem Erzieher für Fundamente zu großen Zwecken gibt. Ein verwildertes Mädchen, das sich angewöhnt, stundenlang Leib und Kopf gerade zu tragen und die Augen nicht herumschweifen zu lassen, erhält bloß dadurch schon einen Vorschritt zur sittlichen Bildung, die ohne Erfahrung niemand glauben würde. Diese Erfahrungen aber haben mich gelehrt, daß die Angewöhnungen an die bloße Attitüde eines tugendhaften Lebens unendlich mehr zur wirklichen Erziehung tugendhafter Fertigkeiten beitragen als alle Lehren und Predigten, die ohne Ausbildung dieser Fertigkeiten gelassen werden.
Auch war die Gemütsstimmung meiner Kinder durch Befolgung dieses Grundsatzes offenbar heiterer, ruhiger und zu allem Edlen und Guten bereiteter, als man dieses bei der ganzen Leerheit ihrer Köpfe in allen Begriffen des Guten hätte vermuten sollen. Diese Leerheit hinderte mich wenig, sie genierte mich kaum. Im Gegenteil, ich fand sie bei dem einfachen Gang meiner Handlungsweise mir wirklich vorteilhaft und hatte wirklich unvergleichlich weniger Mühe, ganz unwissenden Kindern einfache Begriffe beizubringen, als denen, die schon dieses und das krumme Zeug im Kopf hatten. Auch waren sie für die Einfachheit reiner Gefühle unendlich weniger verhärtet als die Ersteren.
Wenn sich indessen Härte und Roheit bei den Kindern zeigte, so war ich streng und gebrauchte körperliche Züchtigungen. Lieber Freund, der pädagogische Grundsatz, mit bloßen Worten sich des Geistes und Herzens einer Schar Kinder zu bemächtigen und so den Eindruck körperlicher Strafen nicht zu bedürfen, ist freilich ausführbar bei glücklichen Kindern und in glücklichen Lagen; aber im Gemisch meiner ungleichen Bettelkinder, bei ihrem Alter, bei ihren eingewurzelten Gewohnheiten und bei dem Bedürfnis, durch einfache Mittel sicher und schnell auf alle zu wirken, bei allem zu einem Ziel zu kommen, war der Eindruck körperlicher Strafen wesentlich, und die Sorge, dadurch das Vertrauen der Kinder zu verlieren, ist ganz unrichtig. Es sind nicht einzelne seltene Handlungen, welche die Gemütsstimmung und Denkungsweise der Kinder bestimmen, es ist die Masse der täglich und stündlich wiederholten und vor ihren Augen stehenden Wahrheit deiner Gemütsbeschaffenheit und des Grades deiner Neigung oder Abneigung gegen sie selber, was ihre Gefühle gegen dich entscheidend bestimmt, und so, wie dieses geschehen, wird jeder Eindruck der einzelnen Handlungen durch das feste Dasein dieser allgemeinen Herzensstimmung der Kinder bestimmt.
Vater- und Mutterstrafen machen daher selten einen schlimmen Eindruck. Ganz anders ist es mit den Strafen der Schul- und anderen Lehrer, die nicht Tag und Nacht in ganz reinen Verhältnissen mit den Kindern leben und eine Haushaltung mit ihnen ausmachen. Diesen mangelt das Fundament von tausend das Herz der Kinder anziehenden und festhaltenden Umständen, deren Mangel sie den Kindern fremd und für sie zu ganz anderen Menschen macht, als ihnen diejenigen sind, die durch den ganzen reinen Umfang dieses Verhältnisses mit ihnen verknüpft sind.
Keine meiner Strafen erregte Starrsinn; ach, sie freuten sich, wenn ich ihnen einen Augenblick darauf die Hand bot und sie wieder küßte. Wonnevoll zeigten sie mir, daß sie zufrieden und über meine Ohrfeigen froh waren. Das Stärkste, das ich hierüber erfahren, war dieses: Eines meiner liebsten Kinder mißbrauchte die Sicherheit meiner Liebe und drohte einem anderen mit Unrecht. Das empörte mich, ich gab ihm mit harter Hand meinen Unwillen zu fühlen. Das Kind schien vor Wehmut zu vergehen und weinte eine Viertelstunde ununterbrochen, und sobald ich zur Türe hinaus war, stand es wieder auf, ging zu dem Kind, das es verklagt hatte, bat es um Verzeihung und dankte ihm, daß es sein wüstes Betragen gegen es angezeigt. Freund, es war keine Komödie, das Kind hat vorher nichts ähnliches gesehen.
Lieber Freund, meine Ohrfeigen konnten darum keinen bösen Eindruck auf meine Kinder machen, weil ich den ganzen Tag mit meiner ganzen reinen Zuneigung unter ihnen stand und mich ihnen aufopferte. Sie mißdeuteten meine Handlungen nicht, weil sie mein Herz nicht mißkennen konnten, wohl aber die Eltern, Freunde, besuchende Fremde und Pädagogen. Auch das war natürlich. Ich achtete aber der ganzen Welt nicht, wenn mich nur meine Kinder verstanden. Ich tat aber auch alles, sie in allem, was ihre Aufmerksamkeit rege machen, oder ihre Leidenschaften reizen konnte, deutlich, klar einsehen zu machen, warum ich handle, wie ich handle. Dies, Freund, führt mich auf den ganzen Umfang des sittlichen Tuns in einem wahrhaft häuslichen Erziehungsverhältnis zurück.
Der Umfang der sittlichen Elementarbildung beruht überhaupt auf den drei Gesichtspunkten, der Erzielung einer sittlichen Gemütsstimmung durch reine Gefühle, sittlicher Übungen durch Selbstüberwindung und Anstrengung in dem, was recht und gut ist, und endlich der Bewirkung einer sittlichen Ansicht durch das Nachdenken und Vergleichen der Rechts- und Sittlichkeitsverhältnisse, in denen das Kind schon durch sein Dasein und seine Umgebungen steht.
Ich habe dich bisher, lieber Freund, auf einiges in meinem Gange in Hinsicht der zwei ersten Gesichtspunkte aufmerksam gemacht. Mein Gang, die Vorstellungen und Begriffe von Recht und Pflicht bei meinen Kindern zu erzeugen, war ebenso einfach und gründete sich, wie in beiden anderen Fällen, ganz auf die täglichen Anschauungen und Erfahrungen ihres Kreises. Wenn sie z.B. redeten und Getümmel war, so durfte ich mich nur auf ihr eigenes Gefühl berufen, ob es möglich sei, also zu lehren. Aber ich werde es in meinem Leben nicht vergessen, wie ich ihr Rechts- und Billigkeitsgefühl allgemein stark und ohne Steifheit gefunden und wie reines Wohlwollen dieses Gefühl erhöhte und sicherte.
Ich wandte mich in jedem Vorfall des Hauses an sie selber und an dieses Gefühl. Ich fragte sie meistens in einer stillen Abendstunde um ihr freies Urteil. Wenn man z.B. im Dorf sagte, sie haben nicht genug zu essen, sagte ich ihnen: "Kinder, sagt es mir selber, seid ihr nicht besser gehalten, als ihr es zu Hause wart? Denkt nach und sagt selber: Wäre es auch gut, wenn ihr auf eine Art unterhalten würdet, daß ihr es mit Fleiß und Arbeit nicht dahin bringen könntet, das forthin kaufen und zahlen zu können, was ihr euch täglich zu genießen gewöhnt habt. Oder mangelt euch die Notdurft? Sagt selber, meint ihr, ich könne mehr an euch tun mit Vernunft und Billigkeit? Wollt ihr selber, daß mit dem Geld, das ich habe, nur 30 oder 40 Kinder erhalten werden könnten, da ich, wie ihr es jetzt seht, 70 bis 80 erhalten kann. Wäre es recht?" Ebenso handelte ich, da man im Dorf sagte, ich gehe zu hart mit ihnen um. Sobald ich es hörte, sagte ich ihnen: "Kinder, ihr wisst, wie lieb ihr mir seid, aber sagt mir selber, wollt ihr, daß ich euch nicht mehr abstrafe? Kann ich ohne Ohrfeigen machen, daß ihr euch abgewöhnt, was so lange in euch eingewurzelt ist? Sinnt ihr ohne Ohrfeigen daran, wenn ich etwas zu euch sage?" Du hast gesehen, Freund, wie sie unter deinen Augen "behüt mir Gott d' Ohrfeigen" riefen und mit welcher Herzlichkeit sie mich baten, ihnen nicht zu schonen, wenn sie fehlten.
Ich konnte wegen ihrer Menge vieles nicht dulden, das in einer kleinen Haushaltung leicht geduldet werden kann; aber ich zeigte ihnen in jedem Fall den Unterschied heiter und berief mich dann immer auf sie selber, ob dieses oder jenes unter Umständen, wie sie selber sehen, möglich oder zu leiden wäre. Ich sprach zwar das Wort Freiheit und Gleichheit nie unter ihnen aus, aber ich setzte sie in allem, was ihr Recht war, so ganz in Freiheit mit mir und à leur aise, daß ein täglich freier und heitereres Atmen einen Blick und Augen erzeugte, die nach meiner Erfahrung nur bei einer sehr liberalen Erziehung sich also erzeugen. Aber ich war entfernt, das Blitzen dieses Auges zu täuschen. Ich suchte täglich festere Kraft zur häuslichen Selbständigkeit in ihnen zu erzielen, ohne daß die Engelsaugen sich so oft in Krötenhöhlen verwandeln. Aber mir waren diese Engelsaugen hoher Lebensgenuß. Auch duldete ich keine gerunzelte Stirn; ich rieb sie ihnen selber glatt, dann lächelten sie und scheuten sich untereinander selber, Runzeln zu haben.
Ihre Menge gab mir jeden Tag Gelegenheit unter ihnen, ihnen anschaulich zu machen, was schön und was häßlich, was recht und was unrecht ist. Beides war täglich gleich ansteckend, und in eben dem Grade, in welchem die größere Anzahl Kinder die Gefahr groß machte, durch das vielseitige Böse, das sich die Einzelnen durch Unordnung, durch uneingesehene und ungekannte Fehler zu Schulden kommen ließen, das Innere der Anstalt tief in seinem Wesen zu verheeren, ebenso gab diese Menge täglich einen Überfluß von Berührungspunkten und Anlässen, das Gute, das Sittliche [im handschriftlichen Original heißt es "das Seltene"] lebendiger zu entwickeln und fester zu gründen, als es unter Wenigen möglich ist. Auch hierüber redete ich offen mit meinen Kindern. Ich werde in meinem Leben den Eindruck nicht vergessen, den es auf sie machte, da ich bei einer eingeschlichenen Unordnung einmal zu ihnen sagte: "Kinder, es ist bei uns wie in einer jeden anderen Haushaltung. Wo immer viel Kinder sind, da bringt die tägliche Verwirrung und Not, die aus jeder Unordnung entsteht, auch bald die schwächste und schlechteste Mutter dahin, daß sie vernünftiger mit ihren Kindern umgehen und Ordnung und Rechttun unter ihnen erzwingen muß. Wahrlich so geht es gerade hier zu. Wenn ich auch noch so gern wie ein schwacher Tropf an euch handeln und euch bei euren Fehlern durch die Finger sehen wollte, so kann ich nicht, weil eurer zu viel da sind. Da eurer so viele sind und jedes unter euch die Fehler und die schlechten Sachen, die es sich angewöhnt, treiben könnte, so würdet ihr siebzigfach von aller Art Bösen angesteckt und vielleicht siebzigfach schlechter werden, als ihr zu Hause nicht hättet werden können. Es ist immer der Fall, daß man in einer solchen Haushaltung einige Sachen nicht dulden kann, deren böse Folgen in einer kleinen nicht auffallen und nicht drückend werden. Aber, wenn ihr euch der Ordnung, die unter solchen Umständen notwendig ist, nicht unterziehen würdet, so könnte das Haus nicht bestehen und ihr würdet alle in euer altes Elend zurücksinken. Denkt selber, euer sorgloses Essen, eure besseren Kleider wären dann selbst ein Mittel, euch elender zu machen, als ihr bei Hunger und Mangel nie hättet werden können. Kinder, in der Welt lernt der Mensch nur aus Not oder Überzeugung. Wenn er sich nicht mit Vernunft leiten lassen will und doch außer aller Not ist, so wird er abscheulich. Denkt, wenn ihr so, einsmal außer alle Not gesetzt, euch der Sorglosigkeit und dem Mutwillen überlassen und das, was wahr und gut ist, keinen Eindruck mehr auf euch machen lassen wolltet, was aus euch werden müßte. Ihr hattet daheim immer doch jemand, der zu euch sah, und weil ihr wenige wart, leicht zu euch sehen konnte. Und dann wirkt die Not und die Armut selber viel Gutes. Sie zwingt uns in hundert Fällen zur Vernunft, wenn wir auch nicht gern wollten. Aber es ist auch umgekehrt: Wenn ihr aus Überzeugung Recht tut, wie ihr ehemals aus Not einiges Gutes nicht habt unterlassen dürfen, so könnt ihr es auch dann unendlich weiter bringen, als es euch zu Hause immer möglich gewesen wäre. Wenn ihr freiwillig diesem nachstrebt, was jetzt und einst euer Wohl ausmacht, so habt ihr denn untereinander auch siebzigfache Aufmunterung, und seht dann dasselbe siebzigfach unter euch leben und lebendig dastehen."
So redete ich oft mit ihnen, ganz unbekümmert, ob ein jedes alle Worte verstehe; aber ich stellte mich sicher, daß der Eindruck des Ganzen über alle verbreitet war.
Auch die Vorstellung lebhafter Bilder von dem Zustand, in den sie in späteren Tagen kommen mußten, machte großen Eindruck. Ich zeigte ihnen bei jeder Art Fehler, wohin sie führen, fragte sie selber: "Kennst du nicht Menschen, die wegen ihrer bösen Zunge, wegen ihren frechen, ehrabschneiderischen Reden allen Menschen zum Abscheu sind? Möchtest du dich in deinen alten Tagen, deinen Nachbarn, deinen Hausgenossen und selbst den Kindern so zum Abscheu und zum Ekel machen?" So führte ich ihre eigenen Erfahrungen an zum sinnlichen Anschauen des äußersten Verderbens, wohin Fehler uns führen, ebenso auch zu lebhaften Vorstellungen von den Folgen alles Guten, hauptsächlich aber zum deutlichen Bewußtsein der so ungleichen Folgen einer guten und einer verwahrlosten Erziehung. "Kennst du nicht Menschen, die nur darum unglücklich sind, weil sie in der Jugend nicht zum Nachdenken und Überlegen gewöhnt worden sind? Kennst du nicht Leute, die drei- und viermal mehr verdienen könnten, wenn sie nur schreiben und lesen könnten, und kommt dir's nicht übers Herz, durch deine Schuld im Alter ohne einen Notpfennig zu sein und vielleicht deinen eigenen Kindern oder den Almosen zur Last zu fallen, wenn du jetzt etwas zu lernen versäumtest?"
Auch folgende Gesichtspunkte machten tiefen Eindruck auf die Kinder. "Kennst du etwas Größeres und Schöneres, als den Armen zu raten und dem Leidenden aus seiner Not, aus seinem Elend zu helfen? Aber kannst du das, wenn du nichts verstehst, mußt du nicht mit dem besten Herzen um deiner Unwissenheit willen selber alles gehen lassen, wie es geht? Aber so wie du viel weißt, kannst du viel raten, und so, wie du viel verstehst, kannst du vielen Menschen aus ihrer Not helfen."
Überhaupt habe ich gefunden, daß große, viel umfassende Begriffe zur ersten Entwicklung weiser Gesinnungen und standhafter Entschlossenheit wesentlich und unersetzbar sind. Solche großen, das Ganze unserer Anlagen und unserer Verhältnisse umfassenden Sätze, wenn sie mit reiner Psychologie, d.i. mit Einfachheit, Liebe und ruhiger Kraft in die Seele des Menschen gelegt werden, führen ihn vermöge ihrer Natur notwendig zu einer wohlwollenden und für Wahrheit und Recht empfänglichen Gemütsstimmung, in welcher hundert und hundert diesen großen Wahrheiten untergeordnete Sätze ihnen dann von selbst auffallen und sich tief in ihrem Erkenntnisvermögen fest gründen, wenn sie auch nie dahin kommen, diese Wahrheit wörtlich auszusprechen. Dieses wörtliche Aussprechen der Wahrheiten, deren man sich bedient und nach denen man handelt, ist für das Menschengeschlecht bei weitem nicht so allgemein dienstlich, als wir es uns in unserem schon seit Jahrhunderten von der Christenlehre und den Predigten zu einem so weitläufigen als oberflächlichen Rede und Antwort geben gewöhnten und seit einem Menschenalter von sich nennenden Aufklärern noch tiefer in die armseligste Redseligkeit hineingezogenen erschlafften Zeitalter uns vorstellen.
Vorzüglich glaube ich, daß die erste Epoche des Nachdenkens bei den Kindern durch einen wortreichen, und mit der Geistesbeschaffenheit des Lernenden und seinen äußeren Verhältnissen unpassenden Unterricht verwirrt werde. Nach meiner Erfahrung hängt alles davon ab, daß jeder Lehrsatz ihnen durch das Bewußtsein intuitiver, an Realverhältnisse angeketteter Erfahrung sich selber als wahr darstelle. Die Wahrheit ohne einen solchen Hintergrund ist für sie ein bloßes, ihnen meistens noch unangemessenes und für sie lästiges Spielwerk. Gewiß ist: Die Wahrheit und Rechtsfähigkeit des Menschen ist ihrem Wesen nach ein hoher, reiner, allgemeiner Sinn, der durch die Einfachheit wortleerer und umfassender großer Ansichten, Bestrebungen und Gefühle eine Nahrung finden kann, die ihm einen für Wahrheit und Recht sehr festen und sehr sicheren Takt geben, ohne daß er sehr viel äußere Zeichen seiner gebildeten inneren Kraft besitzt.
Und auch das ist wahr: Solche den Menschen einfach zu einem tief entwickelten und wortleeren Wahrheits- und Rechtsgefühl führende Hauptsätze der menschlichen Erkenntnis haben dadurch gegen die wichtigsten und verderblichsten Folgen aller Art von Vorurteilen ein reines Gegengewicht in ihrem Inneren. In solchen Menschen kann um ihrer Vorurteile willen nie ein so verkehrter böser Same des Unterrichts entkeimen, und die Vorurteile, und sogar die Unwissenheit und der Aberglaube selbst, so wenig sie an sich gut sind, können in ihnen gar nicht sein und werden, was sie lieblosen und rechtlosen Schwätzern von Religion und Recht ewig sind und ewig bleiben werden. Solche Hauptsätze der menschlichen Erkenntnis sind wie reines Gold, gegen welches die ihnen untergeordneten und von ihnen abhängenden Wahrheiten als bloße Scheidemünze anzusehen sind. Ich kann mich nicht enthalten, solche im Meer tausendfacher, aber kleiner Tropfenwahrheiten schwimmende und versunkene Menschen kommen mir immer wie ein alter Krämer vor, der im Zusammenlesen kleiner Kreuzervorteile endlich reich geworden und sich zuletzt einen solchen Respekt, nicht bloß für das Kreuzersammeln, sondern für die Kreuzer selbst angewöhnt, daß ihm auf die gleiche Weise angst wird, wenn ein Kreuzer oder ein Louisdor verloren gehen könnte.
Wo die Harmonie der Seelenkräfte und ihrer Neigungen durch den stillen Gang der menschlichen Pflichtübung gegründet ist, wo die höheren Reize rein genossener Menschenverhältnisse belebt und durch Festhaltung hoher einfacher Wahrheiten gesichert sind, so laß dann ruhig einzelne Vorurteile in der Masse dieser noch so beschränkten, aber realen Erleuchtung stehen, sie werden im Übergewicht der reinen Entwicklung und Veredlung deiner Natur dastehen, wie wenn sie nicht da wären, und leicht von selbst vergehen, wie der Schatten im Licht, wenn die entwickelte Kraft solcher Menschen sie auf diesen Punkt führt.
Die eigentlichen Vorteile der menschlichen Kenntnisse und des Wissens bestehen für das Menschengeschlecht in der Sicherheit der Fundamente, von denen sie ausgehen und auf denen sie ruhen. Der Mensch, der viel weiß, muß mehr und künstlicher als jeder andere zur Einigkeit seiner selbst mit sich selbst, zur Harmonie seines Wissens mit seinen Verhältnissen und zur Gleichförmigkeit in der Entwicklung aller seiner Seelenkräfte geführt werden. Ist dies nicht, so wird sein Wissen in ihm selber ein Irrlicht, das Zerrüttung in sein Innerstes bringt und ihn äußerlich der wesentlichen Lebensgenießungen beraubt, die ein einfacher, gerader, mit sich selbst einstimmiger Sinn dem unentwickeltsten und gemeinsten Menschen gewährt. Dies, lieber Freund, sind die Gesichtspunkte, um deren willen ich es für so wichtig achte, daß diese Harmonie der Seelenkräfte, zu der unsere Natur und unsere ersten Verhältnisse hinführen, nicht durch die Irrtümer der menschlichen Kunst [gemeint: "des menschlichenEingreifens] verdorben werden.
Ich habe dir nun, Freund, meine Ansichten über den häuslichen Geist einer Schulanstalt und meinen Versuch zur Lösung seines Problems dargestellt. Ich will dich auch noch mit einigen wesentlichen Gesichtspunkten meines Unterrichtsganges und mit dem Lernen der Kinder bekannt machen.
Ich kannte keine Ordnung, keine Methode, keine Kunst, die nicht auf den einfachen Folgen der Überzeugung meiner Liebe gegen meine Kinder ruhen sollten. Ich wollte keine kennen. Auf diese Weise unterordnete ich auch das Lernen der Kinder dem höheren Gesichtspunkte, ihren besseren Sinn allgemein anzuregen und das Naturverhältnis, in dem sie untereinander und unter meiner Besorgung lebten, mit voller Kraft auf sie wirken zu lassen.
Ich hatte zwar Gedikes Lesebuch (Das "Kinderbuch zur ersten Übung im Lesen ohne ABC und Buchstabiren" von Friedrich Gedike ist 1791 in erster und 1798 in einer zweiter Auflage in Berlin erschienen) aber sein Gebrauch war mir so wenig wesentlich als der anderer Schulbücher, denn ich sah das erste Lernen eines solchen gemischten Haufens von Kindern von ungleichem Alter überhaupt vorzüglich für ein Mittel an, das Ganze zu einer mit meinem Zweck harmonischen Stimmung zu vereinigen. Ich begriff die Unmöglichkeit ganz wohl, in der Form einer vollendeten guten Schulanstalt zu lehren. Überhaupt achtete ich das Lernen als Wortsache in Rücksicht auf die Worte, die sie lernen mußten, und selbst auf die Begriffe, die sie bezeichneten, für ziemlich unwichtig.
Ich ging eigentlich darauf aus, das Lernen mit dem Arbeiten, die Unterrichts- mit der Industrieanstalt zu verbinden und beides ineinander zu schmelzen. Allein ich konnte diesen Versuch um so weniger realisieren, da ich dafür noch gar nicht, weder in der Rücksicht des Personals noch der Arbeiten noch der dazu nötigen Maschinen, eingerichtet war. Kurze Zeit vor der Auflösung erst hatten einige Kinder mit Spinnen angefangen. Und auch das war mir klar, daß, ehe von einer solchen Zusammenschmelzung die Rede sein konnte, erst die Elementarbildung des Lernens und des Arbeitens in ihrer reinen Sonderung und Selbständigkeit aufgestellt und die besondere Natur und Bedürfnisse eines jeden dieser Fächer klar gemacht sein mußten.
Indessen betrachtete ich schon in diesem Anfangspunkt die Arbeitsamkeit mehr im Gesichtspunkt der körperlichen Übung zur Arbeit und Verdienstfähigkeit als in Rücksicht auf den Gewinn der Arbeit. Und ebenso sah ich das eigentlich so geheißene Lernen ebenso allgemein als Übung der Seelenkräfte an und hielt besonders dafür, die Übung der Aufmerksamkeit, der Bedachtsamkeit und der festen Erinnerungskraft müsse der Kunstübung zu urteilen und zu schließen vorhergehen und die ersteren müssen festgegründet sein, ehe die letzteren vor der Gefahr bewahrt werden können, durch die Fertigkeiten äußerer, wörtlicher Erleichterungsmittel zur Oberflächlichkeit und zum anmaßlichen, täuschenden Urteilen geführt zu werden, welches ich für das Menschenglück und die menschliche Bestimmung für viel gefährlicher achte, als eine Unwissenheit in hundert Dingen, die aber mit einer festen anschauenden Erkenntnis seiner wesentlichen nächsten Verhältnisse und durch ein einfaches reines, aber fest entwickeltes Kraftgefühl gesichert ist. Ich glaube im Gegenteil, die für das Menschengeschlecht segensreichsten Erkenntnisse gehen allgemein von diesem Gesichtspunkt aus und finden sich am reinsten in der wissenschaftlich beschränktesten Menschenklasse.
Von diesen Grundsätzen geleitet, suchte ich also gerade im Anfang nicht so fest, daß meine Kinder im Buchstabieren, Lesen und Schreiben weit kommen, als daß sie durch diese Übungen ihre Seelenkräfte allgemein so vielseitig und so wirksam entwickeln als nur möglich. Ich machte sie auswendig buchstabieren, ehe sie das ABC kannten, und die ganze Stube konnte die schwersten Wörter auswendig buchstabieren, ohne noch einen Buchstaben zu kennen. Man denke sich den Grad der Fassungskraft, den dieses bei solchen Kindern voraussetzt.
Ich folgte im Anfang bei den Worten, die ich sie also buchstabieren lehrte, Gedikes Leseübung. Später aber fand ich für die allgemeine und erste Übung der Kräfte noch weit zuträglicher das ganze Alphabet fünffach nach allen Vokalen zusammenzusetzen, und die Kinder also die einfache Übung aller Silben vollkommen auswendig zu lehren. Ich werde die Reihenordnung und Grundlage des Lesens und Schreibens drucken lassen. (Pestalozzis "Anweisung, Buchstabiren und Lesen zu lehren, nebst Beylagen" erschien 1801 in Zürich und Bern bei Gessner). Alle Konsonanten laufen durch alle Vokale vorwärts und zurück: ab, ba, ec, ce, di, id, fo, of, gu, ug, usw. Dann verfolgte ich die Methode mit drei Buchstaben: bud, dub, bic, cib, fag, gaf, goh, hog. Schon in dieser Verbindung kommen für die Aussprache und das Gedächtnis äußerst schwere Tonfügungen vor, wie z.B. ig, igm, ek, ekp, lug, ulg, quast, staqu, ev, evk.
Jede zwei Reihen der Buchstaben müssen von den Kindern vollkommen gelernt sein, ehe man zu einer neuen fortschreitet. In der dritten Reihe folgen Zusammensetzungen und Verbindungen von vier und fünf Buchstaben, z.B. dud, dude, rek, reken, erk, erken. Von da aus hänge ich dann die von dieser einfachen Urgrundlage ausgehenden Worte an ihre Fundamente an, z.B. eph, ephra, ephraim, buc, buce, bucephal, qua, quak, quaken, aphor, aphoris, aphorismus, mu, muni, munici, municipal, municipalität, ul, ult, ultra, ultram, ultramon, ultramontanisch. Man würde es kaum vermuten, wie leicht und wie richtig die Kinder lesen lernen, wenn sie die Urfügungen des Lesens ihrem Gedächtnis allgemein eingeprägt haben und ihre Organe zur leichten Aussprechung derselben gewohnt sind. Sie müssen dann auf dem Papier die doppelten, dreifachen, und vierfachen Buchstabenreihen, wie sie zusammenstehen, nicht mehr buchstabieren, sondern dieselben auf einmal ins Auge fassen und aussprechen. Aber ich zeigte ihnen jede Reihenfolge erst dann auf dem Papier, wenn sie dieselben vollkommen auswendig buchstabieren konnten, und zwar zuerst geschrieben und dann hernach gedruckt, weil mit den Übungen, schreiben zu lernen, eine Art Repetition des Buchstabierens verbunden werden kann, die von doppeltem Nutzen ist.
Wenn sie die geschriebenen Reihen der Urfügungen lesen, so lesen sie in ein paar Tagen auch die gedruckten und wieder in ein paar Tagen dieselben auch mit lateinischen Buchstaben.
Im Schreiben war meine Methode, sehr lange bei drei vier Buchstaben, welche die Grundzüge vieler anderer enthalten, stehenzubleiben und Worte aus diesen zu formen und zusammenzusetzen, ehe sie einen anderen versuchen durften. Sobald sie m und a konnten, so mußten sie man schreiben und das so lange, bis sie das Wort in vollkommen gerader Linie und die Buchstaben mit Richtigkeit geschrieben hatten. So ging ich immer, wie sie einen neuen Buchstaben mehr konnten, zu einem Wort hinüber, das dieselben in Verbindung mit denen, die sie schon konnten, enthielt. So schrieben sie Worte auf einen gewissen Grad vollkommen, ehe sie noch den dritten Teil vom ABC schreiben konnten. Wenn Kinder auf diese Weise nur drei Buchstaben auf einen merklichen Grad richtig und fertig schreiben, so lernen sie die übrigen mit großer Leichtigkeit.
Ich hatte flüchtig mit ihnen die Bruchstücke der Geographie und Naturhistorie, die Gedikes Lesebuch enthält, durchgemacht. Noch ohne einen Buchstaben zu kennen, sprachen sie ganze Reihen Ländernamen richtig auswendig aus und zeigten in den Anfangsbegriffen der Naturhistorie einen solchen Bonsens, das Ganze, was sie aus der Erfahrung im Tier- und Pflanzenreich kannten, an die Kunstworte, die die allgemeinen Begriffe ihrer Erfahrungen enthielten, anzuschließen, daß ich vollkommen überzeugt war, ich hätte mit meiner einfachen Manier und bei meiner Fertigkeit, in jedem Fach allgemein und schnell aus ihnen herauszulocken, was sie durch ihren Erfahrungskreis in diesem Fach selber haben wissen können, mit ihnen einen bestimmten Kurs vollenden können, der einerseits das Ganze derjenigen Kenntnisse umfaßt hätte, die der Masse der Menschen wesentlich dienlich, anderseits jedem in irgendeinem Fach vorzügliche Talente besitzenden Kind genugsame Vorkenntnisse verschafft haben würde, um sich selber den weiteren individuellen Fortgang seiner Kultur zu erleichtern, ohne das Ganze aus dem einfachen Geist der Beschränkung herauszuheben, die ihre Lage im allgemeinen bedarf und deren psychologisch menschliche Festhaltung ich selber für das vorzüglichste Mittel achte, die Talente der Menschen richtig unterscheiden und der wahren Auszeichnung real und mit Kraft forthelfen zu können. (Mit seinen 175 Wörtern belegt dieser Satz eindrücklich, wie Pestalozzi immer wieder beim Schreiben von seiner Gedankenfülle fortgerissen wird und den Leser aus dem Auge verliert. Es finden sich bei ihm Sätze, die noch um gut 100 Wörter länger sind. Diese stilistische Unart ist sicher einer der Gründe, weshalb Pestalozzi oft so mühselig zu lesen ist.)
Überall war mein Grundsatz, das Unbedeutendste, so die Kinder lernten, zur Vollkommenheit zu bringen und nie in nichts zurückzugehen, sie kein Wort, das sie einmal gelernt hatten, vergessen, keinen einzigen Buchstaben, den sie wohl geschrieben, jemals wieder schlechter schreiben zu lassen. Ich war mit den langsamsten geduldig; aber wenn eines etwas schlechter machte, als es dasselbe schon gemacht hatte, war ich streng.
Die Menge und Ungleichheit der Kinder erleichterten meinen Gang. So wie das ältere und fähigere Geschwister unter dem Auge der Mutter den kleineren Geschwistern leicht alles zeigt, was es kann, und sich froh und groß fühlt, wenn es also die Mutterstelle vertritt, so freuten sich meine Kinder, das, was sie konnten, die anderen zu lehren. Ihr Ehrgefühl erwachte, und sie lernten selber doppelt, indem sie das, was sie wiederholten, andere nachsprechen machten. So hatte ich schnell unter meinen Kindern selbst Gehilfen und Mitarbeiter. Ich machte sie in den ersten Tagen einige sehr schwere Wörter auswendig buchstabieren, und so wie eines das Wort konnte, nahm es sogleich etliche, die es noch nicht konnten, zu sich und lehrte dieselben. So bildete ich mir von Anfang Gehilfen.
Ich hatte in kurzem unter meinen Kindern Mitarbeiter, die in den Fertigkeiten, die Schwächeren das, so diese noch nicht konnten, zu lehren, mit der Anstalt immer vorgerückt und für die Augenblicksbedürfnisse der Anstalt ohne Zweideutigkeit brauchbarer und vielseitig brauchbarer geworden wären als angestellte Lehrer.
Ich lernte selber mit ihnen. Das Ganze der Anstalt ruhte auf einer so kunstlosen Einfalt, daß ich keinen Lehrer gefunden hätte, dem es nicht zu schlecht gewesen wäre, so wie ich zu lehren und zu lernen. Mein Zweck dabei war, die Vereinfachung aller Lehrmittel so weit zu treiben, daß jeder gemeine Mensch leicht dahin zu bringen sein könne, seine Kinder zu lehren und allmählich die Schulen nach und nach für die ersten Elemente beinahe überflüssig zu machen. Wie die Mutter die erste Nährerin des Physischen ihres Kindes ist, so soll sie auch von Gottes wegen seine erste geistige Nährerin sein. Und ich achte die Übel, die durch das zu frühe Schulen und alles das, was an den Kindern außer der Wohnstube gekünstelt wird, erzeugt worden sind, sehr groß. Jener Zeitpunkt nähert sich, sobald wir die Unterrichtsmittel so vereinfachen werden, daß jede Mutter ohne fremde Hilfe selber lehren und dadurch zugleich immer selbst lernend fortschreiten kann. Meine Erfahrung bestätigt hierin mein Urteil. Ich sah in meinem Kreise Kinder emporwachsen, die darin meine Bahn verfolgt hatten. Auch bin ich mehr als je überzeugt: Sobald die Lehranstalten jemals mit Kraft und Psychologie mit Arbeitsanstalten verbunden werden, so wird notwendig ein Geschlecht entstehen, das einerseits durch Erfahrung lernt, daß das bisherige Lernen nicht den zehnten Teil der Zeit und Kraftanwendung bedürfe, die gewöhnlich darauf verwendet wird, andererseits, daß dieser Unterricht der Zeit, der Kräfte und der Hilfsmittel halber mit den häuslichen Bedürfnissen so in Übereinstimmung gebracht werden könne, daß die gemeinen Eltern allenthalben sich selbst oder jemand von ihren gewöhnlichen Hausgenossen dazu geschickt zu machen suchen werden, welches durch die Vereinfachung der Lehrmethode und durch die steigende Anzahl vollendet geschulter Menschen immer leichter werden wird.
Für die Herannäherung dieses wünschbaren Zeitpunkts sind zwei meiner Erfahrungen sehr wichtig. Erstens daß es möglich und leicht ist, eine sehr starke Anzahl Kinder, selbst von sehr ungleichem Alter, auf einmal in Masse zu lehren und sehr weit zu bringen; zweitens, daß diese Masse in sehr vielem mitten in ihrer Arbeit unterrichtet werden kann. Es versteht sich, daß diese Unterrichtsart Gedächtniswerk scheinen und, seiner äußeren Form nach, auch wirklich als Gedächtniswerk getrieben werden muß.
Aber das Gedächtnis, das durch psychologisch gut gereihte Erkenntnisse fortschreitet, setzt an sich selbst die anderen Seelenkräfte in Bewegung. Das Gedächtnis, das schwere Buchstaben komponiert, belebt die Einbildungskraft; das Gedächtnis, das Zahlenreihen verfolgt, heftet den Geist an ihre inneren Verhältnisse; das Gedächtnis, das sich vielumfassende Wahrheiten einprägt, bereitet den Geist zur Aufmerksamkeit auf das Einfache und Vielumfassende vor. Das Gedächtnis, das Gesang und Lieder umfaßt, entwickelt in der Seele Sinn für Harmonie und hohe Gefühle. Also gibt es eine Kunst, die Kinder auch bloß durch Gedächtnis zu jeder Art von Geistesübung allgemein und sicher vorzubereiten.
Das Resultat dieser Übungen erzeugte bei meinen Kindern allgemein nicht bloß eine steigende Bedächtlichkeit, sondern offenbar ein das Ganze der Seelenkräfte umfassendes Wachstum derselben und brachte allgemein eine Gemütsstimmung hervor, in der ich die Fundamente der Menschenweisheit vielseitig und sicher entwickelt sah.
Du sahst, Freund, wie die Leichtsinnigsten in Tränen zerflossen, wie der Mut der Unschuld sich entwickelte, wie die innere Erhebung der Verständigsten sich belebte. Aber irre dich darum nicht. Träume dir noch kein vollendetes Werk. Augenblicke der höchsten Erhebung wechselten mit Stunden der Unordnung, des Verdrusses und der Sorgen. Auch war ich nichts weniger als immer mir selbst gleich. Du kennst mich, wenn Bosheit und Hohn mich umschweben. Wie der Wurm sich leicht in schnell wachsende Pflanzen hineinwirft, also nagte schleichende Bosheit tief an den Wurzeln meines Werks.
Das Lästigste war: Menschen, die einen Augenblick ins Unermeßliche meiner Last hineinguckten und hie und da etwas sahen, das sie in ihrer Stube und in ihrer Küche ordentlicher hatten oder das nicht so war wie in einem Institut, das mit Hunderttausenden fundiert ist, benahmen sich dann in ihrer Weisheit, mir Rat und Weisung zu geben, und wenn ich einen Leist, den sie für ihre Füße brauchten, für meine nicht passend fand, so glaubten sie mich unfähig, weisen und guten Rat anzunehmen, und gingen wohl so weit, sich einander zuzuflüstern, es sei mit diesem Menschen nichts anzufangen, er habe einen Sparren im Kopf.
Freund, kannst Du's glauben, die größte Herzlichkeit für mein Werk fand ich bei den Kapuzinern und Klosterfrauen. Tätiges Interesse an der Sache nahmen wenige, außer Trutmann (Ignaz Truttmann von Arth (1752 - 1821), Landschreiber des Kantons Schwyz, war gemeinsam mit Pfarrer Businger Regierungskommissar für die Leitung des Armenhauses in Stans.) Die, von denen ich am meisten hoffte, waren so sehr in politische Verbindungen und Interessen vergraben, daß diese Kleinigkeit ihnen bei ihrem großen Wirkungskreis nicht bedeutend sein konnte.
Das waren meine Träume; ich mußte Stans verlassen, da ich jetzt so nahe an ihrer Erfüllung zu sein geglaubt habe.