Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts
von dem Verfasser Lienhard und Gertrud
Zürich bei Heinrich Gessner, 1797, PSW 12, S. 1-221
Siehe dazu: Siehe dazu die Analyse der „Nachforschungen“ von Arthur Brühlmeier
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Zuschrift an einen edlen Mann, den ich aus Ehrfurcht nicht nenne, der es aber zu fühlen vermag, daß ich ihn, nur ihn im Auge hatte.
Herr! Zwei Männer in einem Lande suchten Wahrheit fürs Volk. Der eine, Hochgeboren, durchwachte seine Nächte und opferte seine Tage, dem Land, in dem er herrschte, Gutes zu tun. Er erreichte sein Ziel. Sein Land war durch seine Weisheit gesegnet. Lob und Ehre krönten sein Haupt. Seine Edlen trauten auf ihn. Und das Volk gehorchte ihm schweigend.
Der andere, ein Müdling (Anmerkung Pestalozzi: Müdling ist ein Provinzialausdruck, der einen Mann bezeichnet, der in irgendeiner Anstrengung seines Lebens ohne Erfolg ermüdet worden.), erreichte sein Ziel nicht. Jede seiner Bemühungen scheiterte. Er diente seinem Land nicht. Unglück, Leiden und Irrtum bogen sein Haupt. Sie entrissen seiner Wahrheit jede Kraft und seinem Dasein jeden Einfluß. Die Edlen im Land kennen ihn nicht. Und das Volk spottet seiner.
Welcher von beiden, meinst du, Herr! hat die Wahrheit fürs Volk wirklich gefunden? Die Welt wird augenblicklich antworten: Der Müdling ist ein Träumer, und die Wahrheit ist auf der Seite des Hochgeborenen. Aber dieser urteilte nicht also. Da er von dem unablässigen Forschen des Müdlings nach Wahrheit fürs Volk hörte, ging er in seine Hütte, und fragte ihn: Was hast du gesehen? Da erzählte dieser dem Edlen den Gang seines Lebens, und der Edle entwickelte jenem den Zustand vieler Verhältnisse, die dieser nicht kannte. Der Müdling ließ dem Edlen Gerechtigkeit widerfahren, und der Edle gönnte den Erfahrungen des Müdlings seine Aufmerksamkeit. Stiller Ernst war auf der Stirne von beiden, als sie schieden, und auf beider Lippen lagen die Worte: Wir meinten es beide gut, und wir irrten beide.
Die Widersprüche, die in der menschlichen Natur zu liegen scheinen, wirkten vielleicht auf wenige Sterbliche so gewaltsam als auf einen Menschen, dessen Lage und Umstände auf eine seltene Art zusammentrafen, die Gefühle eines zwanglosen und ungebogenen Naturlebens mitten durch eine nicht anspruchslose, aber äußerst gehemmte und in einem hohen Grad unbefriedigende Tätigkeit bis an sein nahendes Alter lebhaft zu erhalten.
Jetzt sitze ich endend und ermüdet nieder und freue mich, wiewohl gekränkt und in meinem Innersten verwundet, des Kindersinns, mit dem ich mich selbst frage:
Was bin ich, und was ist das Menschengeschlecht?
Was habe ich getan? und was tut das Menschengeschlecht?
Ich will wissen, was der Gang meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was der Gang des Lebens, wie er ist, aus dem Menschengeschlecht macht.
Ich will wissen, von was für Fundamenten mein Tun und Lassen und von was für Gesichtspunkten meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen und unter den Umständen, unter denen ich lebe, eigentlich ausgehen müssen.
Ich will wissen, von was für Fundamenten das Tun und Lassen meines Geschlechts und welchen Gesichtspunkten seine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen und unter den Umständen, unter denen es lebt, eigentlich ausgehen müssen.
Der Gang meiner Untersuchung kann seiner Natur nach keine andere Richtung nehmen, als diejenige, die die Natur meiner individuellen Entwicklung selbst gegeben; ich kann also in derselben in keinem Stück von irgendeinem bestimmten philosophischen Grundsatz ausgehen, ich muß sogar von dem Punkt der Erleuchtung, auf welchem unser Jahrhundert über diesen Gegenstand steht, keine Notiz nehmen. Ich kann und soll hier eigentlich nichts wissen und nichts suchen als die Wahrheit, die in mir selbst liegt, das ist, die einfachen Resultate, zu welchen die Erfahrungen meines Lebens mich hingeführt haben. Aber eben darum werden diese Nachforschungen einem großen Teil meines Geschlechts einen ihrer Art und Weise, die Sachen dieser Welt anzusehen, nahestehenden Aufschluß über ihre wesentlichsten Angelegenheiten erteilen.
Vom Thron bis zur Lehmhütte nimmt die Geschäftswelt, wie ich, weder von der Philosophie der Vorzeit noch von derjenigen der Gegenwart irgendeine Kunde; aber das Unrecht der Menschen und ihre Torheiten führen allenthalben eben die Erfahrungen, eben die Gefühle und eben die Leiden herbei, die meiner individuellen Anschauungsart der Dinge die Richtung gegeben, die sie genommen.
Ich bin überzeugt, der größte Teil der lebenden Menschen trägt die Fundamente meiner Wahrheit und meiner Irrtümer, mit meinen Gefühlen belebt, in seinem Busen, und die Welt im Großen steht den Gesichtspunkten nahe, von denen meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen. Ich bin überzeugt, meine Wahrheit ist Volkswahrheit, und mein Irrtum ist Volksirrtum. Das Volk spricht freilich die Grundsätze nicht aus, bei denen ich hier stehe, aber auch ich sprach dieselben nicht aus, da sie schon längst zu sicheren Gefühlen in mir gereift waren. Ich trug die Frage: Was bin ich? jahrelang schwankend im Busen, bis mir endlich nach langem und langem Suchen folgende Sätze den Faden zu enthalten schienen, an welchem ich den Pfad der Natur in jeder Entwicklung des Menschengeschlechts mit Sicherheit nachspüren und ihn von seinem Anfang an, bis zu seiner Vollendung, verfolgen könnte.
Die Grundlage meiner Nachforschungen
Der Mensch kommt durch die Unbehilflichkeit seines tierischen Zustands zu Einsichten.
Seine Einsichten führen ihn zum Erwerb.
Der Erwerb zum Besitzstand.
Der Besitzstand zum gesellschaftlichen Zustand.
Der gesellschaftliche Zustand zum Eigentum, zur Macht und zur Ehre.
Ehre und Macht zur Unterwerfung, zur Beherrschung.
Unterwerfung und Beherrschung zum Adel, zum Dienste und zur Krone.
Alle diese Verhältnisse rufen einen gesetzlichen Rechtszustand herbei.
Das gesetzliche Recht ruft der bürgerlichen Freiheit.
Der Mangel dieses Rechts führt die Tyrannei und die Sklaverei herbei, das ist: einen Zustand, in welchem die Menschen ohne gegenseitig bindende Gesetze dennoch gesellschaftlich vereinigt leben.
Ich folge dem Gang der Natur weiter; ich finde in mir selbst ein Wohlwollen, bei dessen Dasein Erwerb, Ehre, Eigentum und Macht mich in meinem Innersten veredeln und durch dessen Mangel alle diese Vorzüge meines gesellschaftlichen Daseins auf Erden mich in meinem Innersten entwürdigen.
Ich forsche der Natur dieses Wohlwollens nach und finde dasselbe in seinem Wesen sinnlich und tierisch; aber ich erkenne auch eine Kraft in mir selbst, dasselbe in meinem Innersten zu veredeln, und heiße dieses also veredelte Wohlwollen Liebe.
Aber auch die Liebe gefahret, durch mein Lechzen nach eigener Behaglichkeit sich in meinem Innersten zu verlieren; wenn dieses geschehen, so finde ich mich in mir selbst verödet und wüst: Dann suche ich mich durch die Kraft meines Ahndungsvermögens über die Grenzen alles hier möglichen Forschens und Wissens zu der Quelle meines Daseins zu erheben und bei ihr Handbietung und Hilfe gegen die Übel und Schwächen meiner Natur zu suchen.
Ich frage mich jetzt, ist die Reihe dieser Vorstellungen richtig? Geht die Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts diesen Weg? – und faße dann jeden Hauptbegriff dieser Sätze einzeln ins Auge.
Die Kenntnisse, das Wissen des Menschen
Der Mensch labt sich an der Quelle seines Wissens mit reinem Wasser, und wenn er sich weiter wagt, wenn er die großen Wellen der ewigen Meere durchbricht und über ihre unergründlichen Tiefen daher schwimmt, so erhebt sich sein Herz im schwellenden Busen. Einer trinkt dann auch wohl in der Brandung am Felsengestade giftigen Schaum; einer wagt sich in Untiefen, die er nicht kennt; ein anderer in den Strom, wo er Gebirge mit sich in seinen Schlund reißt. Sie gehen alle dem Tod entgegen; aber das Grab der Menschheit sind die weiten Ebenen, wo eingezwungene Wasser zum stehenden Sumpf werden; du findest in ihrem weiten Raum keine Stelle zum Trinken, keine zum Schwimmen, keine zum Baden, aber du sinkst mit jedem Schritt in ihren unergründlichen Kot.
Die menschliche Erkenntnis entspringt aus der Unbehilflichkeit unserer Natur in ihrer tierischen Freiheit, diese führt unser Geschlecht zur Vereinigung seiner Kräfte, und der erste Zweck dieser Vereinigung ist, die Genüsse des Lebens, die unsere Natur fordert, uns selber leichter, sicherer und befriedigender verschaffen zu können, als dieses uns ohne Vereinigung unserer Kräfte mit anderen möglich wäre.
Der ursprüngliche Zweck des menschlichen Wissens ist seiner Natur nach mit dem Zweck der menschlichen Vereinigung der nämliche; aber es ist nichts desto weniger gewiß, daß die gesellschaftliche Menschheit sich durch ihr Wissen immer mehr von diesem Zweck entfernt, daß unsere Kenntnisse immer mehr auf einer schwärmenden Neigung beruhen, uns den Kopf mit fremden, uns gar nicht mehr berührenden Gegenständen anzufüllen. Daher eine Menge Menschen mit den ausgebreitetsten Kenntnissen dennoch in ihren wesentlichsten Angelegenheiten handeln, als wenn sie nichts wüßten, und, verführt durch die Ausartung ihrer Kenntnisse, dahin kommen, Träumer, Bettler und Schurken zu werden.
Gott sprach zum Menschen in Eden: Du sollst die Früchte des Baumes der Erkenntnis nicht mit tierischer Roheit an dich reißen; tust du es, so wird deine Erkenntnis eine unversiegliche Quelle des Todes für dich sein; wirst du dich aber, deiner Pflicht getreu, zum ruhigen Beschauen seiner Früchte erheben, so wirst du glücklich leben auf Erden; ich selber will mit dir in deinen Gefilden wohnen. Aber der Tiersinn des Menschen wand sich wie eine Schlange um den Baum der Erkenntnis und sagte zum lüsternen Geschlecht: Warum solltest du sehen, was wahr und was gut ist, und nicht mit aller Macht, die in deiner Hand ist, danach greifen? Da riß seine tierische Begierlichkeit mit weibischer Schwäche die verbotene Frucht von den Ästen des Baumes. Jetzt war seine Unschuld dahin, die Scham blieb ihm übrig. Er suchte jetzt Feigenblätter gegen die Wahrheit seiner Natur und ein Recht gegen seinen Verführer. – So war es im Anfang, und so ist es immer. [Anklang an das 1. Buch Moses, Kap. 3, der auch zeigt, in welcher Weise Pestalozzi die Geschichte vom Sündenfall deutet.]
Erwerb
Er entspringt, wie die Erkenntnis, aus der Unbehilflichkeit meines Geschlechts im Verderben seines Naturstands. Diese führt uns durch die Vereinigung unserer Kräfte zu den unzähligen Einrichtungen, Verträgen, Verkommnissen und Gesetzen, durch welche wir im gesellschaftlichen Zustand den Endzweck zu erzielen suchen, uns untereinander unsere Lebensgenüsse leichter, sicherer und befriedigender machen zu können. Der Erwerb geht also ebenfalls von meiner Selbstsorge aus und soll mich, seiner Natur und seinem Zweck gemäß, einfach und gerade zur Befriedigung meiner selbst in meinen nächsten Verhältnissen hinführen.
Das Recht des Erwerbs ruht daher auf dem Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung. Aber der Mensch dehnt im gesellschaftlichen Zustand das Recht des Erwerbs weit über den Zweck dieser Vereinigung aus; daher gibt ihm derselbe bald allgemein die verschobene Richtung, daß er den Zweck desselben nicht erzielt, wohl aber durch die Schwerfälligkeit seiner Anstrengung die wonnevolle Behaglichkeit des Naturlebens in sich selbst auslöscht und die wohlwollende Gemütsstimmung ganz verliert, die das wesentliche Kennzeichen seiner inneren Befriedigung und seiner Kraft ist, seine Nebenmenschen in irgendeiner Sache durch sich selbst freundlich und froh befriedigen zu können.
Eigentum – Besitzstand
Sein Zweck und sein Recht muß ebenfalls von meiner Selbstsorge ausgehen und mich zur Befriedigung meiner selbst in meinen nächsten Verhältnissen hinführen. Aber der gesellschaftliche Mensch genießt dieses Recht und erkennt diesen Zweck nicht; im Gegenteil, das Eigentum ist in seiner Hand Pandoras Büchse geworden [nach Hesiod verwirrte Zeus das Menschengeschlecht durch die Erschaffung des ersten Weibes Pandora, die aus einer Büchse Unheil als Rache für den Feuerraub des Prometheus verstreute], aus der alle Übel der Erde entsprangen. Es ist durch die Nahrung, die es der Selbstsucht unserer tierischen Natur gibt, das große Hindernis des gesellschaftlichen Zwecks geworden und hat den Menschen bald allgemein dahin gebracht, daß er dasselbe entweder wie ein beladener Esel auf wundem Rücken herumträgt oder wie ein spielendes Kind als ein nichtiges Ding versplittert. Eine ursprüngliche Rechtmäßigkeit des Besitzstandes oder eine Möglichkeit den ursprünglich rechtmäßigen von dem ursprünglich unrechtmäßigen Besitzstand zu sondern, vermag ich mir nicht zu denken. [Überall schimmert die innere Auseinandersetzung mit Rousseau durch, so auch hier, wo sich Pestalozzi gegen dessen These im ‚Gesellschaftsvertrag’ wendet, die Besitzergreifung eines Stücks Boden sei rechtens, wenn es zuvor unbebaut war und lediglich dem eigenen Unterhalt dient.]
Der Besitzstand ist geheiligt, weil wir gesellschaftlich vereinigt sind, und wir sind gesellschaftlich vereinigt, weil der Besitzstand geheiligt ist. Welchen Ursprung er auch immer gehabt habe, das geht uns weiter nichts an, wir müssen ihn respektieren, weil er ist und größtenteils wie er ist, oder unsere Bande alle auflösen. – Aber wie er gebraucht wird und wie er gebraucht werden dürfe, das geht uns unendlich viel an. Je größer das gesellschaftliche Eigentum, je mehr ist es mit den Rechten vieler anderer, die auf eine nähere oder entferntere Art daran Teil haben, belastet und kann folglich dem Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung nur insoweit ein Genüge leisten, als die an demselben teilnehmenden Mitnutznießer derselben, in ihren Rechten gesichert, sich durch dasselbe einen befriedigenden Ersatz ihrer Naturrechte verschaffen können. Die Beschränkung der Nutznießung des Eigentums muß daher nach dem Grad seiner Ausdehnung immer steigen, und nach dem Grad seiner Einschränkung muß die Nutznießung immer abnehmen. Die Natur führt uns allgemein auf diese Bahn. Der Mann mit beschränktem Vermögen zieht, mit gleicher Tätigkeit und mit gleichen Kenntnissen, Nutzen aus denselben, dem sich der große Reichtum nie nähern kann.
Auch ruht dieser Grundsatz ganz und gar nicht auf willkürlichen Voraussetzungen, sondern auf der Natur der gesellschaftlichen Rechtmäßigkeit des Besitzstands selber. Wenn dieser nicht als der fortdauernde Genuß aller Folgen meiner bloß tierischen Kraft soll angesehen werden, so muß seine Benutzung notwendig so weit in gesetzliche Schranken gelenkt werden, daß es dem untergeordneten Nutznießer des großen Besitzstands immer möglich bleibt, im gesellschaftlichen Zustand durch diese Nutznießung diejenige Befriedigung zu finden, um derentwillen er das bürgerliche Joch beruhigt am Hals trägt. Hier schlägt also natürlich die Frage ein: Was ist in einem Staat das Verhältnis der Eigentümer gegen die Nichteigentümer? Des Besitzstandes gegen die Menschen, die keinen Teil an der Welt haben? Gehört diesen unseren Mitmenschen, die, mit gleichen Naturrechten wie wir geboren, uns, den Besitzern der Erde, mit gleichen Ansprüchen ins Angesicht sehen – gehört diesen Staatsbürgern, die jede Last der gesellschaftlichen Vereinigung siebenfach tragen, keine ihre Natur befriedigende Stellung in unserer Mitte? Fürchtet euch nicht, Besitzer der Erde, es ist hierin wahrlich mehr um Grundsätze als um Almosen, mehr um Rechtsgefühl als um Spitäler, mehr um Selbständigkeit als um Gnaden zu tun.
Aber wenn ich frage: Kennst du, Welt, diesen Grundsatz? findet der Mensch, der keinen Teil an der Welt hat, in den bestehenden Einrichtungen der Staaten einen wirklichen Ersatz aller Naturansprüche? findet er in denselben sichere Bildung und Mittel sich dieselbe verschaffen zu können? Wenn ich das und dergleichen frage, so kann ich mir nicht verhehlen, das erleuchtete Jahrhundert kennt diesen Grundsatz nicht; je aufgeklärter unsere Zeiten werden, je weniger lassen die Staaten solche Fragen an sich kommen. Unsere Gesetzgebungen haben sich zu einer solchen Höhe geschwungen, daß es ihnen unmöglich ist, an die Menschen zu denken. Sie besorgen den Staat und machen alle Kronen glänzend. Indessen ist der, so keinen Teil an der Welt hat, zum voraus von ihnen vergessen. Man steckt ihn aber unter das Militär oder erlaubt ihm, sich selber darunter zu stecken. Zu Zeiten macht man auch eine Lotterie, darin ein jeder sein Glück mit wenigen Kreuzern probieren kann.
Gewiß ist es, daß der große Besitzstand in der Welt nicht einmal in einem realen Verhältnis mit dem kleinen belastet ist und daß man die Reichen ihre Fonds täglich mehr auf eine Art anhäufen läßt, die die Welt mit elenden, tief verdorbenen Menschen voll macht. Auch das ist wahr, wenn die Folgen dieses Volksverderbens sichtbar werden, so wirft man immer mehr die Schuld auf diejenigen, die verdorben worden sind, und nicht auf diejenigen, die verdorben haben und immer fortfahren, mit ihrem Vorteil tausend Umstände zu veranstalten, unter welchen das Volk notwendig schlecht werden muß. Man sieht ihnen nach; im Gefühl dessen, was sie sich unterstehen dürfen, werfen sie ein Beati possidentes [glückliche Besitzer] zu ihrer Rechtfertigung hin und schicken die anderen mit einem habeant sibi [mögen sie es haben!] vor die Türe.
Gesellschaftlicher Zustand
Bis die Macht das Wort ausspricht, sie wolle, daß der gesellschaftliche Zustand als ein nur auf ihrer List, auf ihrer Gewalt, und auf ihrem Glück ruhender Zustand angesehen werde, nimmt der Mensch allgemein an, sie wolle, daß dieser Zustand als gesellschaftlich rechtmäßig angesehen werde, und handelt auf der ganzen Erde, wie er ohne diese Voraussetzung nicht handeln würde und nicht handeln könnte.
Er legt mit der trägen Gutmütigkeit seiner sinnlichen Natur das Unrecht, aus welchem der Besitzstand und die bestehende Gewalt entsprungen sein mag, allenthalben gerne in ewige Vergessenheit und begnügt sich mit der schwankenden Hoffnung, daß das fernere Beieinanderwohnen der Staatsbürger vor Gewalttätigkeit und Unrecht gesichert werde. Sowohl das Eigentum als der gesellschaftliche Zustand wird durch den Anspruch an Rechtmäßigkeit etwas, das er vorher und in seinem Ursprung nicht war, nämlich ein auf einem stillen, aber wahren Vertrag ruhender Besitzstand, dessen erste Bedingung ist, alles Unrecht ihres Ursprungs zu vergessen, aber dasselbe für die Zukunft unmöglich zu machen. Wenn es also schon wahr ist, daß die Staaten sich nicht durch einen gesellschaftlichen Vertrag gebildet, so ist dennoch auch wahr, daß die Menschen nicht ohne den Geist eines solchen Vertrags in der bürgerlichen Gesellschaft leben und daß Recht und Gerechtigkeit, auf welche alle Staaten ihre Einrichtungen zu gründen sich rühmen, nichts anderes sind als ein lautes Anerkennen des allgemeinen Bestehens eines solchen Vertrags, der ihre Verwalter zu dem Wesen desselben, zu Recht und Gerechtigkeit als zu ihrer Pflicht, hinlenkt.
Indessen sagen die Erfahrungen aller Zeiten, daß der Mann am Platz jeden Verein zwischen sich und seinen Untergebenen zuerst zu seinen Gunsten motivieren, stilisieren, zu Zeiten auch radieren und variieren läßt und dann noch das wenige, was nach allen diesem den Untergebenen noch dienen könnte, als der Herrschaft lästige Eingriffe erklärt, die als bloße Gnadensachen gar nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Befinden der Herrschaft erklärt werden müssen.
Allenthalben wendet der Mensch im Besitz der Macht alles Mögliche an, um ohne wirkliche Anerkennung des Gesellschaftsrechts in der bürgerlichen Gesellschaft doch Meister zu sein. Die Ursachen davon liegen so tief in unserer tierischen Natur, daß wir uns darüber gar nicht verwundern sollen.
Alles gesellschaftliche Unrecht ist in seinem Wesen immer eine Folge des freien Spielraums, den meine tierische Natur im gesellschaftlichen Zustand gegen den Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung findet. Alle Maßregeln der gesellschaftlichen Ordnung sind daher nichts anderes als gesellschaftliche Einrichtungen, diesen Spielraum meiner tierischen Natur zugunsten des gesellschaftlichen Zwecks einzuschränken; und der gesellschaftliche Vertrag selber ist nichts anderes als der sichere Wille gesellschaftlich vereinter Menschen, der diese Einschränkung zugunsten des gesellschaftlichen Zwecks gebietet. Der Geist dieses Vertrags soll mich sichern, das nicht zu entbehren, was ich vermöge meiner Natur im gesellschaftlichen Zustand immer wollen muß, und das nicht zu leiden, was ich in demselben nicht wollen kann.
Macht
Die Macht kann dem Vertrauen, das die gutmütige Schwäche meines Geschlechts allenthalben in sie setzt, als Macht nicht entsprechen. Wenn ich in ihrem Besitz Löwenkräfte in meinen Gebeinen fühle, was soll mir das Recht der kleinen Tiere und der kindische Wahn, sie haben mich zum Löwen gemacht? Gehen ihre Scharen zugrunde, ich bin der Löwe, meine Zähne und meine Klauen sind mein! Also denke ich im Besitz der Macht, nicht weil ich ein Narr bin oder ein Sonderling oder ein vorzüglich ungerechter Mann, ich denke also, weil ich den Kopf gern in den Lüften trage und am milden Strahl der Sonne gern der Vergangenheit und der Zukunft vergesse.
Aber muß sich der Mensch der Macht in diesem Sinne unterwerfen, muß er ihre Ansprüche, die einfache Folge ihrer tierischen Begierlichkeit sind, als solche anerkennen?
Er tut es.
Soweit die Erde rechtlos ist, hat sie auch den Begriff und die Vorstellung von ihrem Recht verloren.
Der Mensch steht in dieser Lage vor dem Bild seines eigenen Rechts wie ein Verschnittener vor dem Bild der Göttin, die er bedient; er hat sie gesehen, denkt an sich selber, schüttelt den Kopf und geht von ihr weg zu seinem Reistopf. Aber ist eine solche Unterwerfung unter den Tiersinn der Macht, Pflicht der Menschen? – Als man Jesus Christus dieses fragte, nahm er einen Pfennig und sagte: Wes ist das Bild und die Überschrift? Sollte er mit diesen Worten mehr gesagt haben als, der Mensch müsse sich, vermöge seiner Natur, notwendig dem unterwerfen, der Gewalt über ihn hat; sollte er damit mehr gesagt haben als, die Pflicht der Menschen in dieser Lage sei seine Not und was Gott und ihr gutes Herz weiter aus dieser Not herauszubringen vermögen.
Einmal eine gesellschaftliche Pflicht, das ist eine Folge des gesellschaftlichen Rechts, kann eine solche Unterwerfung nicht sein. Der Mensch tut in der bürgerlichen Gesellschaft nicht einseitig auf sein Naturrecht Verzicht; die Macht tut es wie der Mensch. Wenn nun diese ihr Wort bricht und ihrerseits das bluttriefende Recht der Naturverwilderung aufstellt, so tritt sie mit diesem Schritt unwidersprechlich in den Naturstand und probiert ihre Tierkraft außer allen Schranken des Rechts; was soll dann das Volk, was ist sein unwillkürliches allgemeines Wollen in dieser Lage? Im Innersten seines Gefühls ist sein Vertrag mit der Macht gebrochen; woher soll ihm jetzt das bindende Gefühl seiner Pflicht kommen? Durch was für Mittel muß es in seine Seele hineingebracht werden? Die Macht habe nicht bloß Gewalt, sondern auch ein Recht gegen das allgemeine unwillkürliche Naturwollen des Volkes. Entweder schüttelt das Volk beim Fühlen des allgemeinen Unrechts wie der Verschnittene den Kopf, oder es erwachen in ihm die lebhaften Gefühle der Selbsterhaltung.
Ein dritter Fall ist möglich: Ein Mensch, aber nicht ein Volk, höher als sein Geschlecht, entweicht dem Unrecht einer solchen gesellschaftlichen Zerrüttung und stirbt in lauter Verehrung von Pflichten, die höher sind als die gesellschaftlichen, ihnen zum Zeugnis einen Tod, der wenigen Sterblichen zu sterben vergönnt ist. Aber die gesellschaftliche Menschheit ist auf der ganzen Erde fern von dieser Höhe; und das gesellschaftliche Recht nimmt von ihr keine Kunde. Das menschliche Geschlecht teilt sich beim Leiden des äußersten Unrechts nur in zwei Teile; entweder greift es nach seinen Erdäpfeln oder nach seiner Keule.
Das ist nicht meine, das ist die Meinung meiner Natur, deren hohen ewigen Gang die Meinungen der Zeit weder viel fördern noch viel hindern.
Möge deine Gesetzgebung noch so eine weißgetünchte verkleisterte Wand sein, möge der Tiersinn der Macht sich hinter ihrem Blendwerk auch noch so menschlich gebärden, ewig unterwirft sich der Mensch mit wahrem freiem Willen nie einer Ordnung, die irgend jemand das Recht gibt, ihm in den Verirrungen seines Tiersinns die Haut über die Ohren herabzuziehen. Das Verhältnis der Menschen im Staat gegeneinander ist ein bloß tierisches Verhältnis. Der Mensch als Geschlecht, als Volk, unterwirft sich dem Staat gar nicht als ein sittliches Wesen; er tritt nichts weniger als deswegen in die bürgerliche Gesellschaft, damit er Gott dienen und seinen Nächsten lieben könne. Er tritt in die bürgerliche Gesellschaft, seines Lebens froh zu werden und alles das zu genießen, was er als ein sinnliches, tierisches Wesen unumgänglich genießen muß, um seine Tage froh und befriedigt auf dieser Erde zu durchleben.
Das gesellschaftliche Recht ist daher ganz und gar kein sittliches Recht, sondern eine bloße Modifikation des tierischen. Inzwischen liegt der Macht freilich alles daran, daß ich ein sittlicher Mensch sei und sie nie in den Fall komme, daß mein Tiersinn sich an dem ihrigen reibe. Sie leitet es deswegen auf der ganzen Erde dahin, dem Menschengeschlecht das Verhältnis zwischen ihr und dem Volk als ein sittliches in die Augen fallen zu machen. Aber die Neigung der Macht, sich für ein sittliches Verhältnis auszugeben, ändert die wahre Lage ihres Verhältnisses gegen das Volk nicht, und wenn das Personale der Macht diese Neigung, von innerer Unsittlichkeit gereizt, nur für den eigenen Vorteil nährt und sie nur zum Deckmantel ihrer bürgerlichen Gesetzlosigkeit und ihres gesellschaftlichen Unrechts braucht, so tut sie hierin nichts anderes, als was der Wolf und der Fuchs, wenn sie könnten, auch tun würden, um das Schaf und die Henne zu einem unbedingten Zutrauen zu bewegen. Indessen tut die Henne wohl, wenn sie des Nachts auf den Bäumen schläft, und das Schaf, wenn es trotz allem was der Wolf sagt, sich an den Hirten hält.
Wahr ist indessen doch auch, wenn die Macht durch persönlichen Edelmut freiwillig oder durch die Weisheit der Gesetze gezwungen in den Schranken einer gesetzlichen Rechtlichkeit feststeht, so ist ihre diesfällige Meinung, wenn sie sich schon auf Irrtum gründet, in diesem Fall dem Staat oft ganz unschädlich, sie kann ihm unter gewissen Umständen sogar vorteilhaft sein. Wenn sie aber, aus welchen Ursachen es auch immer sein mag, dahin versunken ist, Volksdummheit und Volkssittlichkeit in ihren Begriffen miteinander zu verwechseln und beide als Polster ihrer tierischen Behaglichkeit und als Mittel anzusehen, sich selbst im Besitz jedes gesellschaftlichen Unrechts so weit zu sichern, daß sie weder durch die Kraft der Gesetze noch durch diejenige des Volkes im Genuß derselben beeinträchtigt werden, sondern in Sardanapalischer Sorglosigkeit [unter Sardanapal 678 – 626 v.Chr. begann der Zerfall des assyrischen Reiches] jede noch so unrechtmäßige Handlungsweise ohne einige Gefahr forthin als rechtmäßig behaupten kann – in diesem Fall ist dann die Neigung der Macht, ihr Verhältnis gegen das Volk als ein sittliches Verhältnis in die Augen fallen zu machen, gewiß nicht unschädlich und noch weniger wahrhaft nützlich.
Indessen wird sie in jedem, so auch in diesem Fall dich allemal mit der Miene der Unschuld fragen: Wie sollte ein Staat bestehen können, dessen Gesetzgebung nicht auf Sittlichkeit gegründet ist? Sie sollte zwar freilich diese Frage nicht tun, um den Verirrungen ihres eigenen Tiersinns einen Anstrich zu geben. Aber es begegnet ihr in diesem Fall, was dem Menschen überhaupt begegnet, wann er seinen Leidenschaften unterliegt. Sie kommt mit sich selbst in Widerspruch und glaubt auf der einen Seite wirklich, der Staat müsse auf Sittlichkeit gegründet sein, auf der anderen Seite führt sie ihre Bürger selber zu hundert und hundert Verhältnissen, Umständen und Genüssen, die alle Fundamente der Sittlichkeit in unserem Geschlecht auslöschen und im Gegenteil dem Tiersinn des Volkes eine gesellschaftliche Verhärtung, Schlauheit und Verwegenheit erteilen, daß das Zwischenspiel der mitten durch alle diese Umstände angepriesenen Sittlichkeit selbst zu dem frommen Betrug nicht mehr dienen kann, zu dem es eigentlich bestimmt ist. Wann es also der Macht schon zu verzeihen ist, daß sie das Verhältnis des Volkes gegen sich selbst als ein sittliches ansehe und anpreise, so darf ein Gesetzgeber sich von diesem Irrtum nicht täuschen lassen, er darf weder den König noch das Volk sittlich glauben und muß die Rechte und Pflichten aller Stände im Staat also bestimmen, daß der allgemeine Tiersinn unserer Natur bei dem ersten Bürger wie bei dem letzten nicht zum Nachteil der anderen in seiner bürgerlichen Lage Nahrung und Begünstigung finde.
So sehr also die Macht wünscht, daß ich ein sittlicher Mensch sei, so darf sie es als Macht nicht von mir fordern.
Die Macht darf nur insoweit von mir fordern, daß ich ein sittlicher Mensch sei, als sie selbst sittlich, das ist, als sie nicht Macht ist, nicht als Macht handelt. Sie darf es nur insoweit von mir fordern, als sie in der Göttlichkeit ihrer Kraft lebt und wallt, nicht daß ihr gedient werde, sondern daß sie diene und ihr Leben gebe zur Erlösung für viele. Das ist der Stein in der Krone der Fürsten, der ihr Recht göttlich macht. Wo er glänzt, da kniet das Volk und begehrt kein Recht, aber wo er mangelt und falsch ist, da hat es ein Recht nötig. Die Macht, als Macht, ist auf der ganzen Erde gesetzlos, und die gesetzlose Macht ist wie das Schlagen der Welle im Sturm, die selber vergeht, indem sie eine andere verschlingt. Wer will das Recht dieser Welle, dieses Verschlingens, dieses Vergehens ansprechen?
Herr, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
Ehre
Wenn der Wilde in seine Haut wie in ein hölzernes Brett schneidet, wenn er sich Farben anstreicht, die schlechter sind als er selber, wenn er sich Nase und Ohren durchsticht, damit etwas an ihm hänge, das glänzt, so tut er mit allen diesem weniger und macht sich weniger Plage, als der Europäer zu gleichem Zweck. Der Schmuckkasten der Otaheitin [Bewohnerin Tahitis] ist von dem Schmuckkasten des europäischen Weibs nicht sehr verschieden, und der Beinorden des Südländers ist mit allen Orden unseres Weltteils die nämliche Sache.
Allenthalben führt der Trieb zur Auszeichnung den tierischen Menschen dahin, daß er die Schleppe seines Kleides und einen Ring an der Nase mehr achtet als sich selber und für Branntwein, Glaskorallen und Bänder sein eigenes Geschlecht für einen jeden totschlägt, der dahin gekommen, um Mord und Unterdrückung seines Geschlechts durch Glaskorallen, Branntwein und Orden anzuzetteln und bezahlen zu können.
Unterwerfung
Der Grund der Unterwerfung ist nichts weniger als ein unserem Geschlecht natürlicher Dienstwille; es ist keine Spur eines solchen Willens in unserer tierischen Natur.
Der Grund der Unterwerfung ist Selbstsorge. Das gesellschaftliche Recht kann also die Grundsätze der Unterwerfung auf kein anderes Fundament bauen als auf dasjenige, auf welches unsere Natur sie selber gebaut hat. Auch kann die äußere Form, in welcher der unterworfene Mensch den tierischen Trieben seiner Selbsterhaltung und Selbstversorgung entgegenzustreben genötigt ist, das Wesen seines gesellschaftlichen Rechts auf keine Weise verändern. Er soll durch Unterwerfung nichts weniger als den Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung, den Ersatz seiner Naturansprüche, verlieren, er soll ihn vielmehr durch dieselbe sicherstellen. Er hat, als unterworfener Mann, vorzüglich Anspruch an eine weise Organisation des bürgerlichen Erwerbs, an gesetzliche Sicherstellung der niederen Rechte des untergeordneten Eigentums, an gesicherte und allgemeine Volksbildungsanstalten, an Schutz eines jeden dem Armen möglichen Erwerbs, an gesetzliche Beschränkung der Reichen in jeder gemeinschädlichen Benutzung ihrer Fonds.
Eine andere Frage ist: Genießt der unterworfene Mann in den wirklich bestehenden bürgerlichen Einrichtungen sein gesellschaftliches Recht? Oder ist im Gegenteil wahr, daß die Unterwerfung in den Jahrbüchern des Menschengeschlechts allgemein bloß als ein Zwang- und Notstand zum Vorschein kommt, in welchem die Schwäche unseres Geschlechts, von aller Sicherheit des Rechts soviel als gesetzlich ausgeschlossen und in den wesentlichsten Bedürfnissen des Lebens beeinträchtigt, sich in Lagen versetzt sieht, die ihm nicht einmal erlauben, sein Leben anders, wenn auch nicht mühsam und elend, [so] doch in seinen ersten Gefühlen gekränkt und durch Rechtlosigkeit und Ehrlosigkeit erniedrigt, zu durchserben [= schlecht und recht durchschlagen]. Eben diese Jahrbücher aber sagen dann auch, daß das Menschengeschlecht unter diesen Umständen allgemein neidisch, tückisch, diebisch, niederträchtig, untreu und verräterisch werde, daß sein Innerstes sich gegen jede größere gesellschaftliche Kraft und gegen einen jeden Menschen, der in einer gesellschaftlich besseren Lage ist, empöre.
Die tierische Selbständigkeit, die meine Natur fordert, findet nur in der gesellschaftlichen Selbständigkeit einen befriedigenden Ersatz.
Die Grundgefühle meiner tierischen Natur sind alle wider die Unterwerfung, sie stößt in ihrem Wesen an den gewaltsamen Trieb, in den Angelegenheiten meiner Selbsterhaltung unabhängig und selbständig zu sein oder wenigstens mich unabhängig und selbständig machen zu können, und gegen das mit so vieler Kraft in mir liegende Mißtrauen gegen alles, was diese Selbständigkeit entreißen oder erschweren kann.
Das Gefühl meiner rechtlosen unsicheren Lage im gesellschaftlichen Zustand, tötet alle Grundlagen des menschlichen Geistes, durch welche die Veredelung der Nation allein möglich gemacht wird. Die Geschlechter der Menschen versinken durch bürgerliche Erniedrigung in jedem Staat zur möglichen Schlechtigkeit herab und erheben sich durch gesellschaftliche Selbständigkeit zu jeder bürgerlichen Tugend. Daher der Unterschied zwischen dem Edelmut des ungarischen Adels und der Kriecherei des **schen und **schen; daher der Unterschied zwischen Helvetiens Bergbewohnern und den polnischen Bauern, und ebenso der Unterschied zwischen einem gesetzlich gesicherten Handlungsstand und tief erniedrigten reichen Fabrikknechten, zwischen einem ehrenfesten bürgerlichen Arbeitsstand und ehrlosem Fabrikgesindel.
Beherrschung
Wesentlich von der Regierung verschieden, ist sie eine bloße Folge des Privateigentums, der Privatbedürfnisse und der Privatrechte. Die Regierung hingegen ist eine bestimmte Folge des allgemeinen Eigentums, der allgemeinen Bedürfnisse und Rechte. Sowohl Beherrschung als Regierung müssen den Grund ihres Rechts beiderseits in dem Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung suchen. Die Beherrschung muß ihr Recht mehr als die Regierung auf diesen Zweck, insofern er durch die Bedürfnisse und Neigungen der Individuen im Staat bestimmt wird, gründen. Die Regierung hingegen muß dasselbe mehr als die Beherrschung auf diesen Zweck, insofern er durch die Abstraktion der allgemeinen Bedürfnisse und des allgemeinen Willens bestimmt ist, gründen.
Es liegen aber sowohl in der Natur der herrschaftlichen als der Regierungsrechte so viele Reize gegen diese beiden Grundgesichtspunkte, daß es unmöglich zu erwarten ist, daß dieselben den Menschen, die im Besitz sowohl der einen als der anderen gesellschaftlichen Vorzüge stehen, von selbst auffallen. Sowohl im einen als im anderen Fall ist seine ganz tierische Stellung dagegen, er faßt sie also nicht.
Es ist nicht möglich, es kann im Besitz großer gesellschaftlicher Kräfte nie mein tierischer Wille sein, mich im Gefühl meiner Rechte durch allgemeine oder durch Privatbedürfnisse und Neigungen eingeschränkt und gehemmt zu sehen.
Es kann im Besitz der Macht nie mein tierischer Wille sein, den Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung gegen mich selbst anzuerkennen und im Gefolge dieser Anerkennung nicht anders als gesellschaftlich rechtmäßig zu regieren.
Dieser Wille besteht in einem jeden Staat nur insoweit, als die Weisheit und Kraft der Gesetzgebung die Ansprüche unserer tierischen Natur in den Teilhabern der gesellschaftlichen Vereinigung allgemein mildert, indem sie die ursprünglich ungesellschaftliche und gesellschaftlich unrechtmäßige Ungleichheit aller gesellschaftlichen Kräfte durch eine mit dem Endzweck der gesellschaftlichen Vereinigung übereinstimmende Organisation des Gebrauchs derselben rechtmäßig zu machen und durch Vorsorge für die Menschenrechte derer, die keinen Teil an der Welt haben, den Geist des gesellschaftlichen Vertrags in ein Geschlecht hinein zu bringen sucht, bei welchem die Natur den Hang zu allem gesellschaftlichen Unrecht mit solchem Reiz verwoben. Es ist gewiß, der reine gesellschaftliche Wille besteht in einem jeden Staat nur insoweit, als die Gesetzgebung das ganze Wirrwarr des im namenlosen Chaos des Zufalls, wie in Macbeths Kessel, gekochten Undings unseres Reichtums und unserer Armut, unserer Rechte und unserer Rechtlosigkeit, unserer Ansprüche und unserer Niederträchtigkeiten in eine solche Ordnung zu bringen sucht, die auch der Schwäche unseres Geschlechts die Möglichkeit offen lässt, durch den gesellschaftlichen Zustand wirklich gesellschaftliche Rechte zu erhalten und durch dieselbe unter den Schranken der bürgerlichen Vereinigung wahre Befriedigung zu finden. Freilich geschieht das alles nicht. Unsere Gesetzgebungen lassen der Hexe ihren Kessel, und wir leben in dem Unding, das sie uns gekocht hat wie die Frösche im Sumpf, unbesorgt für die, so der Storch frißt. Der alternde Weltteil hat die Grundsätze der wahren gesellschaftlichen Ordnung wie aus dem Gedächtnis verloren.
Die Masse des Volkes hat keinen Begriff von seinem gesellschaftlichen Recht, also auch keinen gesellschaftlichen Willen; und Verkleisterungsmittel unserer bürgerlichen Entmannung sind weder ein Ersatz des mangelnden bürgerlichen Rechts noch ein Fundament einer wahren gesellschaftlichen Ordnung, und die Gewaltordnung, die die Macht nicht für das Menschengeschlecht, sondern für ihren Dienst einrichtet, ist noch schlimmer als das Unding, das uns die Hexe gekocht hat. Indessen ist das, was geschieht, um deswillen nicht das, was geschehen soll.
Der herrschaftliche Stand ist gar nicht durch seinen Ursprung, sondern nur durch das Gesetz rechtmäßig, das Gesetz aber darf den Grund seiner Rechte weder in den Gewaltgelüsten übergroßer Herren noch in den demütigen Niederträchtigkeiten überschwacher Knechte suchen. Es muß ihn in dem Zweck und dem Wesen der gesellschaftlichen Vereinigung suchen.
Aber die meisten Staaten tummeln sich in den barocken Formen des Unrechts, dem sie die Gestalt des Rechts und der Ordnung, wie dem Esel die Löwenhaut, über die Ohren herumziehen. Wenn wir indessen von Herrschafts wegen Genüsse und Rechte fordern, die den Zustand derer, die sich um unser Eigentum bewerben, um unseres größeren Vorteils willen abhängig, ehrlos und rechtlos machen, so handelten wir, wenn auch die ganze Welt das gleiche tut, hierin nicht nach den Gesetzen des gesellschaftlichen Rechts, sondern nach denjenigen unserer tierischen Selbstsucht, und die Folgen, die diese Handlungsweise dann haben mag, sind in jedem Fall nicht Folgen unserer gesellschaftlichen Rechtlichkeit, sondern des Gegenteils.
Gesellschaftliches Recht
Ich sah unter allen vorstehenden Abschnitten den entscheidenden Einfluß meiner selbstsüchtigen Natur auf das allgemeine Zugrunderichten des gesellschaftlichen Zwecks im gesellschaftlichen Zustand.
Die ersten Bedürfnisse der gesellschaftlichen Menschheit rufen deswegen gebietend einer Kraft, die den Vergehungen meiner Selbstsucht in diesem Zustand allgemein und wirksam Einhalt zu tun imstande sei.
In dem Gefühl dieser Bedürfnisse liegt der Ursprung aller gesetzlichen Einrichtungen unseres Geschlechts.
In der Übereinstimmung dieser Einrichtungen mit dem gesellschaftlichen Zweck liegt das Wesen des gesellschaftlichen Rechts.
Im Mangel dieser Übereinstimmung hingegen liegt das Wesen des gesellschaftlichen Unrechts oder die Quelle der Übereinstimmung derselben, mit dem Gelüsten derer, die das physische Übergewicht der Gewalt, die in ihrer Hand ist, zum Fundament legen und vermöge ihrer Natur nicht anders können und nicht anders wollen, als dieses Übergewicht zum Fundament dieser Einrichtung zu machen.
Der Mensch kann und will als tierisches Geschöpf nicht anders als selbstsüchtig handeln; er ist in dem freien Spielraum seiner Naturtriebe allenthalben zur Gesetzlosigkeit geneigt, und lebt als Tyrann und Sklave nach den gleichen Grundsätzen seiner tierischen Gefühle; und wenn er jetzt im öffentlichen Getümmel des Aufruhrs wütet, so schlich er vorher in trügender Staatsruhe der Rechtlosigkeit wie ein stilles grundfressendes Wasser einher.
Man muß daher das letzte Unglück des Staates nie ohne Rücksicht auf den Einfluß ihres früheren Verderbens ins Auge fassen. Nur Betrüger und Betrogene berühren die Ursachen nicht, wenn von Wirkungen die Rede ist.
Adel
Meine tierische Natur bindet mich durch meine Ehre wie durch mein Gut an mein Kind; ich muß, vermöge derselben, notwendig dahin lenken, jeden Lebensgenuß, den ich in meine Hand gebracht, in der Hand meines Kindes fortdauernd zu machen; also liegt Anspruch an erbliche Ehre in dem Grundgefühl meiner tierischen Natur wie der Anspruch an erbliches Eigentum [Pestalozzi versteht unter „Eigentum“ grundsätzlich nicht flüssiges Kapital, sondern Grundbesitz].
Der Grad der Kultur und des Bedürfnisses, die wesentliche Eigenheit des Besitzstands, kurz: der bestehende Fuß aller Dinge, entscheidet an jedem Ort und in jedem Zeitalter über die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit eines jeden Mittels, unser Geschlecht dem Endzweck der gesellschaftlichen Vereinigung näher zu bringen.
Der Adel war in der Feudalform der Vorzeit als der Mittelpunkt des allgemeinen Besitzstands ein Mittel zu diesem Zweck. Es ist wahr: das Mittel fraß den Zweck, der Adel stellte den Fortschritt des Menschengeschlechts still wie die Priester; er haßte das Recht der Welt wie die Könige; er war selbstsüchtig wie die Reichen und gewalttätig wie die, die Gewalt haben. Aber sein Unrecht lag offen und schreiend vor den Augen der Welt. Es ward ihm selbst zur Last und geriet ihm selbst zum schnellen Verderben, da hingegen das Unrecht der Könige und der Großreichen, in deren Händen das Unrecht, in deren Seelen die Irrtümer des Adels hinüber gegangen [sind], ihnen nicht so leicht selber zur Last fallen und nicht so leicht zum schnellen Verderben gereichen werden.
Die Welt wird große Mühe haben, über das Unrecht und die Ungesellschaftlichkeit unserer Souveränitäts- und Finanzanmaßungen das zu gewinnen, was sie über das Unrecht und Ungesellschaftlichkeit des Feudaleinflusses wirklich gewann. Die Welt, die in der Feudalform der Vorzeit wie in eisernen Banden still stand, ist jetzt durch die Koalition der Gewaltrechte des Throns mit allen Schlüpfrigkeiten des Geldeinflusses zu einer Tontine [Leibrentengesellschaft, bei der die Überlebenden das Vermögen der früher Sterbenden erhielten. Lorenzo Tonti, 1630 – 1695, beutete diese – später verbotene – Form der Versicherung aus.] gemacht worden, wo endlich niemand und nichts bleibt, was es ist und was es war.
Indessen hat die Handlung, die jetzt auf den Trümmern des Adels und durch die Finanzlücken der Höfe ihr allmächtig gewordenes Haupt emporhebt, nirgends als in England einen in das Wesen der Regierung eingewobenen großen Geist, wie das Feudalsystem der Vorzeit einen solchen hatte.
Jetzt ist die Welt in der Hand der Hofjuden, und die Hofjuden in der Hand der Minister, deren Volk einen wesentlichen Kredit hat. Indessen flattert der Besitzstand, vom Boden losgemacht, wie ein verscheuchter Vogel auf demselben herum. Vor Altem saß der Adler in seinem Nest, und wenn er sich ungebührlich hielt, so fand ihn der Jäger, so hoch auch sein Nest war; jetzt glauben die Kabinetter, die kleinen Vögel legen mehr Eier, und zerstören alle große Nester, um das ihrige, das allein hohe, das allein heilige, das allein freie, in das Gold der Welt einzufassen. Aber dieses Gold wird verschwinden, und wir werden nach einigen Erfahrungen, die nahe sind, wieder froh sein, unser Eigentum, wie vor Alters, an Grund und Boden anzuketten. Wenn man indessen die Formen der Vorzeit für den Geist unserer Tage zu eng findet, so werfe man dennoch kein Mittel, das unser Geschlecht einmal wirklich weiter gebracht hat, mit unbedingter Sorglosigkeit weg.
Der Barbar lebt nur unter der willkürlichen Gewalt gesellschaftlich, und welche Form der Besitzstand auch immer in einem Staat haben mag, so ist dieses gewiß: Wenn der Endzweck der gesellschaftlichen Vereinigung in demselben erzielt werden soll, so muß man dem Bürger in demselben immer einen seinem Eigentum verhältnismäßigen gesetzlichen Wert und Einfluß erteilen.
Das Eigentum regiert immer besser als der Mensch. Ich glaube wenigstens, es sei nur durch den Geist von Gesetzen, die diesen Gesichtspunkt zum Fundament haben, möglich, den alternden Weltteil vor der gedoppelten Gefahr zu bewahren: in allen seinen Abteilungen entweder von den Anmaßungen der Krone verschlungen oder den Anmaßungen des Sansculottismus [gesetzloses Revoluzzertum] zerrissen zu werden.
So lebhaft uns auch die Irrtümer und das Unrecht des Adels vor Augen stehen, so sollen wir doch nicht vergessen, daß das Eigentum immer der Fuß unseres gesellschaftlichen Daseins ist und sein muß und daß also Naturkampf zwischen dem Eigentümer und Nichteigentümer im gesellschaftlichen Zustand ewig nicht aufhören kann. Wir dürfen das alte Heiligtum des Pflugs und seinen ewigen Vorzug vor allem Judenwesen ohne Gefahr für die Pflanzschule aller Staatskräfte und für die gute Beschaffenheit des Volkes nicht aus den Augen verlieren. Man mache einen Unterschied zwischen dem Recht des Adels als Eigentümer und den Anmaßungen dieses Standes, die keinen Grund im Recht des Eigentums haben; man überlasse die letzteren dem Zahn der Zeit, der so kraftvoll an ihrem Irrtum nagt, und unterwerfe die ersten den Grundsätzen, ohne welche das Eigentum kein gesellschaftliches Recht sein kann; so scheint mir der Streit gehoben, der, indem er in unseren Tagen ohne Edelmut und ohne großen gesetzgeberischen Geist geführt worden ist, nicht anders konnte, als das Wohlwollen des Menschengeschlechts untereinander weit mehr, als es gut und nützlich gewesen ist, zu stören.
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