Die verwandelten Schafe
Nr. 138 (PSW 11, S.177-179)
Die Herden des größern Viehs vertrieben die schwächeren Schafe aus allen Ebenen bis an die steilen Gebirge.Dahin verjagt, jammerten sie für ihr Leben. Da erbarmte sich Jupiter, der aller Armen Vater ist, ihrer gedrängten Schwäche, schuf ihnen starke Gelenke zum Springen, Hörner, sich in die Felsen zu klammern und eiserne Schenkelgebeine.
Also ward das wilde Gemsgeschlecht, das in glücklichen Höhen sein Gras findet, erschaffen und lebte Jahrhunderte ferne von den gefürchteten Menschen und Herden.
Aber einst gelüstete ein weibliches Gemstier beides, auf den Bergen und in den Tälern zu leben, und bat um ein Herz, das sich nicht mehr vor Menschen und Herden entsetze.
Jupiter erhörte auch diesen Wunsch und machte sie zur Stammutter der elenden Ziegen.
Ich habe einmal gehört, am hohen Indus lebe ein Stamm eines weisen und frommen Volkes, dessen Priester alljährlich ein feierliches Gebet vor dem Altar der Sonne verrichten, darin sie ihre Gottheit bitten, daß sie doch von den Bitten der sterblichen Menschen nur selten eine erhöre, und die Geschichte des Volkes sagt: daß es seine Ruhe und sein Glück vorzüglich dem Gebet dieser Priester und der Stimmung danke, die ihm dieses Gebet einflößt.
Bemerkung über diese Ansicht heidnischer Priester von dem menschlichen Beten. Ich las diesen Abschnitt zweien Menschen vor, davon der eine ein stilles, christliches, frommes und in einem hohen Grad wohltätiges Leben führte, aber in keiner Rücksicht in der Welt und nicht einmal in seinen nächsten Umgebungen viel von sich reden machte, der andere aber als ein eifriger und renommierter Streiter für das Eigentümliche seiner Glaubensmeinungen weit und breit bekannt, und dabei berichtigt war, daß er jedermann, der diese Meinungen nicht in gleichen Silben, Buchstaben und Phrasen wie er ausdrücke, nicht bloß mit entschiedenem Verdacht ins Auge fasse, sondern ihn vielmehr, wo er immer könne und möge, verunglimpfe, verdächtige und sogar, wo er Gelegenheit dazu finde, ihm Steine in den Weg lege oder auch ins Fenster werfe.
Der erste fand in dieser indischen Erzählung eine große Wahrheit für zweierlei Gattungen von Menschen. Erstlich für diejenigen, die das Gebet als eine Art von Sühneopfer für die Schwachheiten und Sünden, die sie täglich wiederholen und täglich wieder abbitten, ansehen, ohne sich weder heute noch morgen im geringsten zu bemühen, selbige im Ernst abzulegen. Und dann zweitens für diejenigen, welche dasselbe dahin mißbrauchen, den Gelüsten ihrer Selbstsucht und Sinnlichkeit eine Art von heiligem Schein zu geben, und sich durch dasselbe im Mittelpunkt ihrer Verirrungen immer mehr zu verstärken und zu verblenden. Der andere aber sagte, er könne nicht anders, er müsse diese Fabel als eine eigentliche Lästerung gegen das Gebet selber ansehen, und es sei seine Pflicht, alle seine Gläubigen vor dem satanischen Gift derselben zu warnen. -- Ich hörte ihm eine Weile ruhig zu; da er aber seinen Kutteln über diesen Gegenstand auf eine wirklich beleidigende Art Luft zu machen fortfuhr, gefiel es mir auch nicht länger, ihm stillschweigend zuzuhören; ich antwortete ihm: lieber, wilder Mensch! Du kennst das Wort nicht, das auch zu dir und deinesgleichen gesagt ist: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet; denn mit welchem Maß ihr meßt, wird euch wieder gemessen werden. -- Ich mußte also sprechen. Die Sache ist wichtig.
Religionsverirrungen, die in sinnliche Verhärtungen des Geistes und des Herzens ausarten, sind dadurch geeignet, in die Angelegenheiten des stillen, christlichen Glaubens und der stillen, christlichen Liebe Gleichgültigkeit, Kaltsinn, Lieblosigkeit, Rechthaberei und Streitsucht zu veranlassen und zu nähren, und ohne allen Widerspruch als Sachen anzusehen, die dem Geist des wahren Christentums im höchsten Grad entgegenstreben, und zu seinem größten Nachteil auf das Menschengeschlecht einwirken.