Pestalozzis Beiträge im "Erinnerer": Wünsche (1766)
Das Jahr 1765, da der "Erinnerer" in Zürich zu erscheinen begann, ist anscheinend das Jahr gewesen, da die persönlichen Beziehungen zwischen Lavater und Pestalozzi einsetzten. Beide waren Mitglieder der Gerwigesellschaft, ohne dass man Näheres davon wüsste. Lavater aber ist offenbar der geistige Initiant der neuen Zeitschrift gewesen; die Beiträge des ersten Jahrgangs stammen allesamt von ihm. Es sind tagebuchähnliche Absätze, Reflexionen über sich selbst, religiöse Betrachtungen und Gedichte, aber auch "Vermischte Fragen an das Publicum", darunter etwa die folgenden: "Ist der ein Neuerer, der Missbräuche einführt, oder der, welcher sie abschaffen will?" "Ist es billich, seine Blätter herunter zu machen, weil man glaubt, der Verfasser davon sey ein Student?" Ein andermal wird recht anschaulich der Tagesablauf eines vornehmen jungen Zürchers an einem Sonntag geschildert, mit zweimaligem Kirchenbesuch, aber auch recht viel geselligem Leerlauf. Im zweiten Band von 1766 diversifiziert sich das Bild, da nun ganz offensichtlich ein eigentliches Teamwork von Verfassern erkennbar wird.
Und nun tritt auch Pestalozzi hervor, in einigen mit P. bezeichneten Beiträgen, "Wünsche" betitelt, die Aufnahme in die Gesamtausgabe gefunden haben. Es sind kurze, aphoristische Skizzen und Einfälle von zumeist kritischer Ausrichtung. "Ein junger Mensch, der in seinem Vaterland eine so kleine Figur macht, wie ich, darf nicht tadeln, nicht verbessern wollen; denn das ist ausser seiner Sphäre. Das sagt man mir fast alle Tage; aber wünschen darf ich doch?" So der Anfang im Ton einer nicht ganz anspruchslosen Bescheidenheit und dem Vorhaben, durch seine Wünsche "gute Besserung" zu erwirken. Wie das in die Wirklichkeit umgesetzt aussieht, entnimmt man etwa der folgenden Reflexion. "Vor etwas Zeit sahe ich Gessners Landschaften. - Gestern las ich seinen Erast. Dass doch Gessner, wünschte ich, anstatt Landschaften zu radieren, mehr Erasten schriebe! denn durch was für eine Art Schriften könnte Menschenliebe und Geschmack an Simplicität und am natürlichen mehr ausgebreitet werden?" Heute urteilt man wohl anders und gewinnt den stimmungsvollen Landschaften des Malerdichters sehr viel mehr ab als dem lehrhaften Schäferspiel mit seinem Helden, der in einem fort tugendhafte Gemeinplätze von sich gibt. Die Meinung des jungen Pestalozzi ist aber charakteristisch für den moralistischen Tenor seiner Zensuren, die sich auch in den anderen Wünschen ausdrückt. "Dass doch etliche Reiche sich bemüheten, die unflätigen Romanen, die an dem Verderben so manches jungen Menschen schuldig sind, aufzukaufen, und sie zu vertilgen." Oder: "Dass doch alle anakreontischen Lieder eines Gleims, eines Lessings und eines Utzens, samt ihres Strafpredigers comischen Erzählungen und allen dergleichen schönen Unflätereyen verboten würden! oder ist es vielleicht noch nicht ausgemacht, dass sie schädlich seyen?" "Eben so wünschte ich auch, dass man mehr auf die Kupferstiche, so in unsern Messen feil sind, Acht gäbe! denn ich habe selbst ein ganzes Pack Französische Kupferstiche auf offenem Laden liegen gesehen, die die allerverfluchtesten Leichtfertigkeiten vorstellen.» Der Leitgedanke dieser "Wünsche" richtet sich also beileibe nicht auf mehr Freiheit, sondern auf mehr staatliche Beaufsichtigung im Sinne einer letztlich recht straffen Kontrolle aller Lebenslust in Kunst und Literatur, von welcher auch Wieland - denn er ist der Autor der «comischen Erzählungen» - nicht ausgenommen wird. Die Anregung, diese Sittenkontrolle strenger wahrzunehmen, streift manchmal die Grenze des Denunziantentums. "Ich wünschte, dass gewisse Gätter auf gewissen Schanzen des Nachts beschlossen würden, damit nicht eine Menge von Personen beyderley Geschlechts, zum höchsten Ärgerniss ehrliebender Bürger, die halbe Nacht mit Schlitten zubrächten. Ich mache mich anheischig, einem jeden Vater, der mich fragen wird, ob seine Söhne und Töchter auch hierunter begriffen seyen, genugthuende Antwort zu ertheilen; ich werde einem jeden von ihnen sagen können, von was für einem Cavalier Servente seine Tochter aufs Eis geführt worden sey." Diese nun schon zudringlicher ja fast voyeuristische Strenge - was ging es ihn schon an, wer sich mit wem beim nächtlichen Schlitteln vergnügte? - bildet, aber doch nur einen Teil solcher Wahrnehmungen. Anderes klingt minder catonisch und konstruktiver. Man sollte, findet er, die Bücher des Dr. Hirzel über den Bauern oder Tissots Anleitung für das Landvolk - gemeint ist dieses Arztes "Avis au peuple sur la santé" (1764) - "ins Kurze" zusammenziehen und dank Zuwendungen reicher Leute dem Landmann zu reduzierten Preisen zugänglich machen. Im Anschluss daran gleich ein zusätzlicher Wunsch. "Dass doch jemand einige Bogen voll einfältiger, guter Grundsätze der Erziehung, die auch für den gemeinsten Bürger oder Bauern verständlich und brauchbar wären, drucken liess; und dass dann einige grossmüthige Personen (mir schweben etliche im Kopf herum, die edeldenkend und vermögend genug wären, das zu thun) verschafften, dass diese sehr wenige Bogen umsonst, oder nur etwa für einen einzigen Schilling an das Publikum überlassen würden; und dass dann alle Geistliche zu Stadt und Land diese gemeinnützigen Bogen austheilten, und beliebten; und dass dann alle Väter und Müter, denen sie in die Hände kommen würden, diesen vernünftigen und christlichen Erziehungsregeln folgten - aber ja, das heisst freylich viel auf einmal gewünscht.» Hier zeichnet sich nun doch etwas Weiteres ab, ein Anliegen grundsätzlicher Art: Volkserziehung durch das Mittel der Volksschriftstellerei, gefördert auch diesmal durch hochherziges Mäzenatentum. Erstmals nimmt in der Publizistik des jungen Pestalozzi dieser Gedanke bestimmte Umrisse an, wobei es ihm vor allem auch darum geht, Stadt und Land gleichermassen zu erfassen. Bei aller Zufälligkeit und Aphoristik eignet den "Wünschen" doch ein bestimmter Duktus, ja eine mit beinahe, missionarischer Überzeugung entwickelte Struktur der Gedankenführung.
"Mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen aus: Stadler, Peter: Pestalozzi. Geschichtliche Biographie. Bd.1: Von der alten Ordnung zur Revolution. 2.Auflage Zürich 1993, S.92-94."
Zum Autor
Name:
Prof. em. P. Stadler
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