Hans Jacob Pestalozzi

Zu den Biographien eines exemplarischen Erziehungsverhältnisses zwischen dem "Schweizer Genius" und seinem Sohn

"Lehrers Kinder, Pfarrers Vieh gedeihen selten oder nie!"

ist eine durchaus bekannte deutsche Spruchweisheit, die es hier zwar nicht zu beweisen gilt, die allerdings mit dieser Lebensgeschichte gewiß neuen Auftrieb erfahren wird. Denn es ist eine längst überlieferte Tatsache (in unserem Jahrhundert insbes. von K. Silber, 1931 aufgegriffen), daß Anna und Johann Heinrich Pestalozzi große Schwierigkeiten bei der Erziehung ihres einzigen Sprößlings gehabt haben. Umso erstaunlicher ist es, daß bei einem Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), der in seinem Nimbus als "Klassiker der Pädagogik" außerordentlich gut dokumentiert ist, bisher kaum Notiz vom einzigen Sohn genommen wurde. Und so stellen sich schon nach allgemeinem Dafürhalten am Ende des Jahrtausends einige, banal formulierte Fragen, wie denn dieser "Schweizer Genius" (Herder) mit seinem eigenen Sohn fertig geworden ist?!

Die 1927 begonnene und umfangreiche Werk- und Briefedition ist im 250. Jubiläumsjahr 1996 durch Nachtragsbände (17B u. 29 bzw. 14) ergänzt und bereichert worden. Kaum ein Schmierzettel, den Pestalozzis Feder zierte, blieb bisher unbearbeitet, aber fast niemand wagte sich an die Aufarbeitung, Textkritik und Dokumentation der Briefe seines Sohnes. Das hat natürlich auch stichhaltige Gründe; denn es gab dafür bis in die Mitte der 90er Jahre nur begrenztes Quellenmaterial. Insgesamt waren etwa vier Dutzend Briefe nachweisbar, die Hans Jacob Pestalozzi an Vater und Mutter adressiert hatte. Zwischenzeitlich sind zwei weitere Briefdokumente aus Privatbesitz aufgetaucht, die Hans Jacob Pestalozzi am 7.Nov. 1791 und am 15.Apr. 1792 an Jeremias L´Orsa (auch Lorsa), den Hofmeister der drei ‚Spitzbuben‘ der seit 1779 verwitweten Franziska Romana von Hallwil (1758-1836), gesandt hatte.

Die derzeitigen Herausgeber der Werk-/Briefausgabe (Pestalozzianum Zürich u. Päd. Institut der Universität Zürich) haben schon vor etlichen Jahren eine Serie von Bänden angekündigt, die endlich das korrespondente Pendant zu den Briefen "von" Pestalozzi bieten könnte. Außer den sog. ‚Brautbriefen‘ (Bde. 1 u. 2. der Briefausg.), die bereits 1946 publiziert wurden, sind inzwischen umfassende editorische Vorarbeiten für die sog. Briefe "an" Pestalozzi geleistet worden, so daß Band 1 demnächst erscheinen dürfte.

Selbst "Elternbriefe aus zwölf Jahrhunderten" (z. B. Hopf, 1985) sind durchaus publizierbar. Wo bleiben allerdings Ende des 20. Jahrhunderts die im weltbekannten Beitrag Ellen Keys "Das Jahrhundert des Kindes" (1900) diesbezüglich formulierte Forderungen und Wünsche nach der Erziehung "vom Kinde aus"?! Die schwedische Lehrerin konstatierte damals:

"Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Verbrechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind." Ähnlich hatte sich einige Generationen zuvor schon Rousseau ausgesprochen: „Ein jeder von uns wird also durch dreierlei Meister gebildet. Der Schüler, bei dem ihre verschiedenen Lehren einander widerstreiten, wird schlecht erzogen und wird niemals mit sich einig sein. Nur derjenige, bei dem sie alle auf denselben Punkt ausgerichtet sind und auf denselben Endzweck zielen, gelangt an sein Ziel und lebt nach ihnen. Dieser ist wohlerzogen." (Emile 1762, 11)

Eine wissenschaftliche Aufarbeitung war längst überfällig. Inzwischen liegt meine zweibändige Publikation vor, die unter dem von Pestalozzi analog gebrauchten Buchtitel "Wie Johann Heinrich seine Kinder lehrt... Lebensgeschichte und Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi" (Keil 1995, Bde. 1. u. 2.) steht.

Im ersten Band (300 S.) wird zunächst die zeitgeschichtliche und familiäre Ausgangslage im Haus der Pestalozzis beschrieben, dann folgt die Erziehungs- und Lebensgeschichte des Hans Jacob im Elternhaus und über weitere Stationen seiner Ausbildung und Lehre, um abschließend "Leben, Wirken und Ableben auf den Neuhof" darzubieten. Dabei steht die Untersuchung unter zwei Hypothesen:

  • "Bei der Erziehung seines einzigen Sohnes folgt Pestalozzi einer Rousseau-Rezeption, die in der willkürlichen Auswahl entlehnter erzieherischer Ansatz- und Zugangsmöglichkeiten besteht. Wegen dieser Erziehungsansprüche gerät er beim "Experimentieren" mit Hans Jacob an vielfache Grenzen zur Erziehungswirklichkeit!"
  • "Pestalozzis Sohn, Hans Jacob, scheitert am "double bind-Syndrom" (Bateson, 1972; inzw. dt. 2.Aufl. 1983) oder an der sog. "Beziehungsfalle"" (Stierlin, Helm: Einl. Zur obigen Publikation).

Eine, in der bisherigen Literatur übermäßig vernachlässigte und gleichzeitig angefochtene Eckkomponente in Biographie und Werk Pestalozzis ist die Inspiration des keineswegs im Rousseauschen Schonraum erzogenen und sich entwickelnden Pestalozzi. Vater und Sohn haben - wie jeder andere auch - jeweils ihre einmalige Lebensgeschichte. Pestalozzis bisher bekannte und vielfältig überlieferte Lebensgeschichte am Ende des Jahrtausends neu aufzuarbeiten, erhält allerdings im Rahmen seines Erziehungsverhältnisses zu seinem Sohn einen neuen Stellenwert. Pestalozzi hat es übrigens 1797 mit seiner Veröffentlichung "Über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" mühsam herausgearbeitet, daß niemand allein - wie er irrtümlich meinte - von allein zwei Komponenten durchs Leben geleitet würde, sondern eine dritte "Natur" spiele neben "Anlage" und "Gesellschaft" hierbei eine entscheidende Rolle mit: Nämlich die "Natur" seiner selbst, der eigene Wille, die Selbstbestimmung, die heutzutage im Inbegriff von (emanzipatorischer, postmoderner) "Selbstverwirklichung" nicht nur in den Vordergrund gerückt, sondern zum Leidwesen des Miteinanders überstrapaziert wird.

Rousseau wird mit seinem "Naturbegriff" auch diesbezüglich der latente Ratgeber für Pestalozzis Inspirationen, die er seiner Gattin begeistert unterbreitet. Der junge Pestalozzi liest in seinen Jugendjahren Rousseaus "Emile" und dessen "Contract social", die im selben Jahr (1762) erscheinen. Gemeinsam mit seiner zukünftigen Braut setzt sich die Rousseau-Verehrung beider auch nach der Trauung fort. Beide bejahen weitestgehend dessen forsche Erfahrungen und oftmals paradox anmutende Ideen. Sie nehmen seine Ausführungen zunächst sowohl als Anleitung und Lebenshilfe nicht nur für die Erziehung ihres einzigen Sohnes, sondern auch als Anhalt für die sogenannte "natürliche" Erziehung in Anspruch. Rousseau hatte seinen "Emile" vielmehr als "Träumerei eines Menschen, der Visionen von der Erziehung" geradezu genoß (Emile 1762/1780, 6), verstanden wissen wollen.

Noch drei Tage vor dem "unfelbaren" Ende der Schwangerschaft (Annas Tagebuchaufzeichnungen) hält sich Pestalozzi außerhalb von Mülligen auf und kehrt am Tag vor der Geburt seines Sohnes voller Selbstvorwürfe und Schuldgefühle nach Hause zurück. Während seine 31-jährige Gattin in den sich lang hinziehenden Wehen liegt und mehrfach zur Ader gelassen wird, verfällt Pestalozzi in Selbstanklagen, die er auch zu Papier bringt. Daß Anna die komplizierte Geburt ihres Kindes überhaupt überlebt hat, grenzt ihren Tagebuchbeschreibungen zufolge an ein (gynäkologisches) Wunder.

Der in der frühen Morgenstunden des 14. August 1770 geborene Sohn erhält nicht zufällig den Vornamen "Jean-Jacques" des Genfer Vorbildes. (Später, im Briefwechsel stets in unterschiedlicher Schreibweise mit "Ja(c)que(s)", "Ja(c)queli" oder "Jaköbli" oder kurz "Jac" auffindbar.( Schon wenige Tage nach der Geburt erbricht sich der Säugling tagelang und kränkelt dahin, so daß schon das Schlimmste befürchtet wird. Erst ganz allmählich erholt er sich, scheint hinreichend zu genesen, bleibt aber weiter anfällig. Trotz einschneidenden Mißerfolge in der Landwirtschaft der Jahre 1770/71 zieht die Familie im Frühjahr 1771 in das noch feuchte Haus, den unfertigen Neuhof, auf dem Birrfeld um.

Im Zusammenhang mit den ersten Erziehungsexperimenten, die der Vater mit seinem dreieinhalbjährigen Sprößling unternimmt und sorgsam dokumentiert, treten erste Anzeichen von epileptischen Anfällen auf, die die Familie nur bedingt zu beunruhigen beginnen. Der Vater plagt das in die erste Trotzphase eintretende Kind unter anderem übermäßig mit Latein und Orthographie, bis der hoffnungslos überforderte Sprößling fiebrige Anfälle bekommt und sich den väterlichen Erziehungsexperimenten kränkelnd entzieht. In der zweiten Februarhälfte 1774 bricht der Vater seine, bis zum 19. Februar aufgezeichneten Experimente ab und beginnt, seine Argumente in einer ersten kritischen Auseinandersetzung mit Rousseau in einem Fazit über "Freiheit und Gehorsam" auszuwerten. So stellt der "erfahrene Praktiker und Jungvater" (Stadler 1988, S. 146) zum Schluß seines Tagebuches "über die Erziehung seines Söhnchens" die konkrete Frage: "Wo liegt der Fehler-? Die Wahrheit ist nicht einseitig.- Freyheit ist ein Gut, und Gehorsam ist es ebenfalls. Wir müssen verbinden, was Rousseau getrennt hat."

Nach dem Zusammenbruch seiner ersten landwirtschaftlichen Unternehmung auf dem Birrfeld kommt es zur Gründung der Armenanstalt auf dem Neuhof. Während Pestalozzi die Neuhofschriften verlegen läßt, lebt Hans Jacob als "Herrenbübchen" auf dem Neuhof unter den Armenkindern. Seine Erziehung verläuft zwischen den Extremen der Vernachlässigung und Überforderung, während der hilfesuchende Pestalozzi Mitte 1778 wieder an Metierwechsel denkt. Nachdem der Städter anfangs Bauer geworden war, wird der vormalige Armenvater nach erneutem Scheitern nun "Schreiber". Pestalozzi publiziert mit Hilfe des Ratsschreibers Isaak Iselin die "Abendstunde eines Einsiedlers (1780), dann den ersten Teil seines Erfolgsromanes „Lienhard und Gertrud" (1781), nimmt vielfältig Kontakt auf und pflegt Umgang mit Basler Freunden um Sarasin.

Schon im Frühjahr 1777 gibt es erste Notizen über Hans Jacobs Schreibfähigkeit im Schulanfängeralter. Eine erste Probe seines Schreibvermögens liefert er selbst. Es ist ein Dreizeiler, den er zur Verlobung seiner Tante väterlicherseits, Anna Barbara (1751-1832), mit Christian Gottlob Große in Leipzig an den Schluß eines Briefes krittelt: "Liebe tante ich freue mich dass Du braut bis bin gsund wolt Dich gern küsen wenn Dich nur erlangen könt. Jaque 6 ½ Jahr alt." Die selbständige Verfasserschaft bleibt insofern fraglich, als Pestalozzi sich in den August-Ausgaben des "Schweizerblattes" von 1782 öffentlich bekennt, daß der Zwölfjährige noch nicht lesen und schreiben könne.

Auch für Freunde und Neuhof-Besucher ist die Retardierung des Sohnes unübersehbar gewesen. Felix Battier, einem wohlhabenden Basler Kaufmann, den Pestalozzi wahrscheinlich über Basler Freunde kennengelernt hat, fällt dies nachhaltig auf. Er bietet sich an, Hans Jacob in seine häusliche Obhut zu nehmen und mit den eigenen zwei von drei Kindern gemeinsam erziehen und schulen zu lassen. Bevor Hans Jacob in die Hausgemeinschaft der Basler Familie wechselt, unterhält der 36 Jahre alte Pestalozzi bereits eine lebhafte Erziehungskorrespondenz mit dem dortigen Hauslehrer Peter Petersen (1762-1820). Der zwanzigjährige Junglehrer übersendet Pestalozzi seine Erziehungs- und Unterrichtsbeobachtungen und Pestalozzi entwickelt dafür sogenannte Unterrichtstabellen wie das Tagebuch des Erziehers, den täglichen Rechenschaftsbericht und den Monatsbogen mit insgesamt sechzehn Fragen. Ohne umfangreiche Beschreibungen kommt er dabei mit nur drei einfachen Zeichen aus und ist insofern ein früher Vorläufer statistisch-analytischer Tatsachenermittlung und empirischer Unterrichts- und Sozialforschung.

Bis Ende 1782 liegen uns darüber hinaus etliche Aussagen über Hans Jacobs Krankheitsbilder und Verhaltensabweichungen vor, die außerhalb der internen Familienangehörigen auch von Besuchern, Freunden und Bekannten sorgenvoll beobachtet und tradiert werden. Es kann von einer vergleichsweise altersunnatürlichen Unwissenheit und einer ungewöhnlichen Hemmung oder Verlangsamung in seiner geistigen Entwicklung ausgegangen werden. Hans Jacobs geistig-körperliche Retardierung steht zusätzlich unter den Wirkungen, die immer öfter in kürzeren Abständen erfolgende epileptische Anfälle bei ihm auslösen. Obwohl ärztliche Konsultationen und Behandlungen des Hausarztes (Joh. Franz Koller, 1738-1823) stattfinden, reagieren die Eltern, Vertraute und mitbetroffene Begleitpersonen relativ gelassen, zunächst mit ängstlicher Hilflosigkeit, dann zunehmend mit unbewußter Ablehnung. Hans Jacob gerät in eine Außenseiterposition. Für oftmals unverstandene Verhaltensabweichungen (wie Aggressivität, spontan wechselhafte Phasen trotziger Selbstbestimmung und kindlicher Bravheit etc.) erntet er Abweisung und Mißachtung, ja schließlich Ekel, Spott und Verleumdung. Es kommt zu nachhaltigen Verhaltensstörungen und zur relativen Isolierung.

Die Korrespondenz zwischen Pestalozzi und dem Hauslehrer Petersen ist bis in den März 1784 dokumentiert. Diese Briefe geben auch Auskunft über Hans Jacob, obwohl dieser bereits Mitte 1783 von Basel in die "L´académie préparatoire de commerce" nach Mülhausen/Elsaß gewechselt ist. Vermutlich haben Unstimmigkeiten im Hause Battiers und sich zuspitzende Erziehungsschwierigkeiten (Altersunterschiede zwischen den zu erziehenden Kindern, pubertäre Anwandlungen Hans Jacobs in seiner zweiten Trotzphase etc.) zwischen Petersen und dem "Erziehungsgast" den Entschluß erhärtet, den inzwischen 14-Jährigen einer altersgemäßen, kaufmännische Ausbildung zuzuführen.

Zwar hatte sich Pestalozzi auch nach anderen Instituten erkundigt, brachte seinen Sohn jedoch dann nicht in die nach dem Muster einer Kadettenanstalt geführten Pfeffelschen Erziehungsanstalt nach Colmar, sondern in eine Bildungsstätte, die auf den kaufmännischen Beruf vorbereiten sollte. Knapp über ein Jahr bis Ende 1784 blieb er in Mulhouse. Aus dieser Zeit sind uns einige Briefe Hans Jacobs an seinen Vater überliefert. Der nach Rousseauschen Grundsätzen ‚verzogene‘ Knabe hatte sich im Elsässer Internat trotz intensiver Bemühungen seiner Lehrer, vornehmlich Thierry und Köchlin, ganz offensichtlich nicht nur schwer getan, sondern auch nur bedingt wohl gefühlt. Getrenntsein und Gefühle von Abgeschobenheit mögen ihn erfüllt haben. Man könnte hier vielleicht den Begriff "Abschiebeausbildung" einführen, um zu verdeutlichen, wie sich der durchaus empfindsame Sohn behandelt sah. Außer Johannes Heilmann gewann er keine Freunde. Vater- oder Mutterersatz hatte er kaum, und wenn, dann in der Person der kinderlosen Frau Magdalena Schweizer-Heß erfahren. Jedenfalls hat die eigene Mutter ihren Sohn in Mülhouse nicht besucht, der Vater vermutlich nur einmal anläßlich einer Durchreise. Es blieb bei einer Stippvisite, die vornehmlich ganz anderen Zielen diente.

Ermahnungen von Seiten der Lehrer wie vom Vater sollten Hans Jacob die Vorzüglichkeiten des Kaufmannsberufes verdeutlichen, entarteten bei Leistungsabfall, Mutlosigkeit und Versagen ansonsten zu der Drohung, ihn doch besser (übrigens wie der fiktive Emile) gleich ein Handwerk erlernen zu lassen. Geradezu händeringend erflehte er schließlich vom Vater seine Ablösung aus dieser Anstalt. Mangelhafte Leistungen, Nichterfüllung schulischer Erfordernisse und väterlicher Ansprüche, die womöglich überdeckt von unangemessenen Anforderungen der Lehrherren, autoritär-militärisch geprägte Umgangsformen führten bei Hans Jacob schließlich zur inneren Abkehr, die untröstliches Heimweh hervorbrachte und sich wieder in Kränklichkeit äußerte. Erneut treten heftige epileptische Anfälle auf.

Der Vater kam, holte ihn ab und brachte den inzwischen 15-Jährigen, der die Schule ohne Abschlußzeugnis verließ, in die Hausgemeinschaft des Basler Kaufmanns Battier zurück. Hier nimmt die "Geschichte des armen Jacob" in immerhin vertrauten Verhältnissen nun seinen Lauf. Zwischen Januar 1785 und März 1787 sind uns fast drei Dutzend Briefe an Vater und Mutter tradiert. Doch der Kaufmannslehrling macht auch dort nur relativ geringe Fortschritte.

Pestalozzi war inzwischen mit dem ersten Teil seines Volksromanes so erfolgreich, daß er im Zweijahresrhythmus mittlerweile den vierten und letzten Teil (1787) verlegen lassen konnte. Er dachte schon über eine Fortsetzung seiner, mit der "Abendstunde" eingeleiteten anthropologisch-philosophischen Studien nach, während er über Hohenwart und die befreundete Gräfin von Hallwil mit dem Großherzog Leopold um eine Anstellung zum praktischen Experimentieren warb. Dies zerschlug sich allerdings 1792, als Leopold, 1790 Nachfolger seines Bruders Joseph II, als deutscher Kaiser, stirbt.

Gegebenheiten und Umstände, die uns etwas über Hans Jacobs annähernden Rückkehrtermin auf den Neuhof bieten, sind rar und vage. Es ist zu vermuten, daß es finanziell schon gegen Ende der 80er Jahre mit der Firma Felix Battier und Sohn nicht mehr zum Besten stand. Vielleicht hatte sich der firmeninterne Ton erheblich gewandelt, so daß der für Stimmeswandlungen außerordentlich empfängliche Hans Jacob geradezu krankhaft sensibel reagierte und wieder zunehmend unter epileptischen Anfällen litt. Jedenfalls kommt es noch im Revolutionsjahr 1789 zum Zusammenbruch der Lehrfirma "Felix Battier und Sohn". Es ist allerdings davon auszugehen, daß Hans Jacobs Herauslösung aus der Firma bereits im Laufe des Jahres 1787, spätestens 1788 erfolgte. Tatsache ist auch, daß Anna Pestalozzi nach Hans Jacobs Rückkehr zum Neuhof zunehmend Zuflucht außerhalb des Birrfeldes suchte, wie es der Unruhegeist Pestalozzi ihr eindrucksvoll vorlebte.

Seit dem Tode seiner Gattin (1781) lebte Hans Jakob Schultheß, Hans Jacobs Großvater, noch auf dem Neuhof. Bis kurz vor seinem Tod am 25. Januar 1789 stand er übrigens mit seinem Zürcher Seelsorger Lavater in brieflicher Verbindung. Auch Lavater hat sich mit Hans Jacobs auffälligen Krankheitssymptomen beschäftigt und empfängt ihn Ende 1789 in Zürich. Offen bleibt allerdings die Frage, ob Hans Jacob über Sarasin auch Kontakt mit dem gebürtigen Guiseppe Balsamo, besser bekannt unter dem Namen des umstrittenen Wunderheilers Cagliastro, aufgenommen hat. Auch einschlägige Quellen geben darüber keine zufriedenstellende Auskunft.

Nach dem Tode des Großvaters, Hans Jakob Schultheß zum Pflug, zieht sich Johann Heinrich Pestalozzi allmählich aus der Neuhofverwaltung heraus. Im August 1790 erfolgt dann die notarielle Überschreibung des Neuhofs auf Hans Jacob. Aus vorbeugender Fürsorge intensiviert seine Mutter noch im gleichen Jahr Kontakte zu der befreundeten Familie Frölich von Brugg. Im Sommer 1791 kommt es schließlich zur Heirat mit der um drei Jahre älteren Tochter Anna Magdalena Frölich (1767-1814). Auf die Todgeburt eines Sohnes im Mai 1792 gebiert Anna Magdalena im Juni 1793 zwei Zwillingsknaben, die nur wenige Tage leben und keine Namen erhalten. Am 3. Mai kommt Marianne zur Welt, sie stirbt am 28. April 1802 an Auszehrung. Gottlieb, der Stolz des Großvaters, wird am 31. Dez. 1797 geboren (verst. 1863), während bei Hans Jacob schon seit Monaten wieder vermehrt epileptische Ohnmachts- und Gichtanfälle auftreten.

Nach der Revolution in der Schweiz wird Pestalozzi im Dezember 1798 Leiter der Anstalt in Stans und im Juli 1799 Lehrer in Burgdorf. Überhäuft von Arbeit findet er kaum noch Gelegenheit, sich um seine Familie auf dem Neuhof zu kümmern. Auch als Hans Jacob im April 1800 eine Art Schlaganfall mit rechtsseitiger Gliederlähmung erleidet, wird die aufopfernde Pflege des bettlägerigen Patienten durch Anna Magdalena und die Haushälterin Lisabeth Näf geleistet. Siechtum und persönlicher Verfall sind unaufhaltsam. Hans Jacob erlebt noch seinen 32.Geburtstag, allerdings ohne daß die Eltern anwesend sind. Anna weilte bei ihrer Freundin Franziska von Hallwil und ihr Gatte hielt sich in Burgdorf für unabkömmlich. Ihr einziger Sohn stirbt am Abend des darauffolgenden Tages.

Kurzum: Pestalozzi verfängt sich in seiner anfänglichen Rousseau-Gläubigkeit, die ihn geradezu in ihren paradoxen erzieherischen Forderungen verblendet. Unter den oft gegenläufigen Ansprüchen, auch in der Art ihrer Inkonsequenz im Transformationsprozeß und/oder ihrer Nichtumsetzbarkeit, gerät die Erziehung des Hans Jacob in die "Zerreißprobe" einer "Beziehungsfalle". Unter den Rahmenbedingungen der geschilderten Erziehungsatmosphären wird der "arme Jakob" (Soetard 1987, S. 32) zum Opfer einer verhängnisvollen Bindung. Seine Erziehung artet zum "Drama" (ebd. S. 50) aus und ist letztlich unaufhaltbar zum Scheitern verurteilt.

Der zweite Band (146 S.) ist als begleitender Dokumentarband ausgelegt. Insgesamt 73 Briefe werden in der vornehmlichen Korrespondenz zwischen Vater und Sohn zwischen Frühjahr 1782 und einem Nachtrag vom Herbst 1807 in vier Briefgruppen erfaßt: Die erste Briefgruppe (Neuhofer Briefe: Frühj. 1782-29. Juli 1783) beschränkt sich auf die Korrespondenz zwischen Pestalozzi und dem Basler Hauslehrer Peter Petersen, in die die ersten schriftlichen Äußerungen und mündlichen Bemerkungen von und über Hans Jacob Pestalozzi eingeflochten sind. Die Briefe der zweiten Briefgruppe (Mülhausener Briefe: 6. Sept. 1783 - 8. Nov. 1784) tragen den Charakter einer echten Korrespondenz zwischen Vater und Sohn sowie Pestalozzi und dem Hauslehrer Petersen. In der dritten Briefgruppe (Basler Briefe: im Jan. 1785-März/April 1787) kommt es nur zu einer einseitigen Korrespondenz zwischen Sohn und Vater, weil uns bisher (bis auf eine Ausnahme) lediglich Briefe des Sohnes an Vater und Mutter überliefert sind. Einen Nachtrag liefert schließlich die vierte Briefgruppe (Neuhof/Burgdorf/Yverdon: Ende 1791-Herbst 1807), die verstreute Schreiben zwischen Pestalozzi und Battier, Vater und Sohn, zwischen den Eltern/Ehepartnern und Pestalozzi und Frau Battier-Tourneysen darbietet. Alle Briefe sind in einem gesonderten Teil (S. 117-134) textkritisch beschrieben und mit den notwendigen Sacherklärungen versehen. Bilder, Kartenausschnitte, Porträts und Dokumente ergänzen letztlich den Anhang dieses Dokumentarbandes. Zum Stand der einschlägigen Quellenforschung: Trotz erwarteter Korrespondenzfunde hält sich die Ausbeute in Grenzen. Die beiden oben vermerkten Briefe Hans Jacobs an den Hauslehrer L´Orsa vom Nov. 1791 und April 1792 sind der letzten Briefgruppe zuzuordnen und werden demnächst (1999 in der Rubrik "Dokument" der Neuen Pestalozzi-Blätter" abgedruckt, kommentiert und diskutiert werden. Aktuelle Sekundärliteratur ist von Gerhard Kuhlemann in seiner Veröffentlichung zu "Literatur und Themen rund um Pestalozzis 250.Geburtstag" in "Pestalozzi in unserer Zeit (Baltmannsweiler: Schneider, 1998) rezensionsartig dargeboten.

Literatur

Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. (Chandler, 1972; inzw. Franfurt/M.: Suhrkamp, 2.Aufl. 1983).

Hager, Fritz-Peter/Tröhler, Daniel (Hrsg.): Anna Pestalozzis Tagebuch. Käte Silber: Anna Pestalozzi und der Frauenkreis um Pestalozzi. (Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 1993).

Hopf, A. u. A. (Hrsg.): Geliebtes Kind! Elternbriefe aus zwölf Jahrhunderten. (Stuttgart /München: Nymphenburger Verlagsanstalt, 1985).

Keil, Werner: "Wie Johann Heinrich seine Kinder lehrt... Lebensgeschichte und Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi". (Regensburg: Roderer, 1995), Bd. 1 und ders.: Dokumentarbd. 2.

Ders.: Vom Nutzen der biographischen Vorgehensweise bei der historischen Rekonstruktion in der Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi im Hinblick auf eine so zentrale Figur wie Johann Heinrich Pestalozzi. (Regensburg: Roderer, 1996).

Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes. (1900, dt. 1902).

Kuhlemann, Gerhard: Pestalozzi in unserer Zeit: Literatur und Themen rund um seinen 250.Geburtstag. (Baltmannsweiler: Schneider, 1998).

Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Briefe. Kritische Ausgabe Bde. I-XIII, hrsg. v. Pestalozzianum u. von der Zentralbibliothek Zürich. (Zürich: Orell Füssli, 1946-1971 /Nachtragsb. XIV, Zürich: NZZ, 1995).

Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bde. I-XXVIII, hrsg. v. E.Spranger, A.Buchenau, H.Stettbacher u.a. (Berlin/Leipzig: de Gruyter & Co./Zürich: Orell Füssli, 1927-1976, Nachtragsbde. 17B u. 29, Zürich: NZZ, 1996).

Rousseau, Jean-Jacques, Bürger zu Genf: Emile oder Von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen. (München: Artemis & Winkler, o. J.).

Silber, Käte: Anna Pestalozzi-Schultheß und der Frauenkreis um Pestalozzi. (Berlin-Charlot-tenburg 1931); wieder veröffentlicht. In: Neue Pestalozzi-Studien, Bd. 1. (Bern/Stuttgart/ Wien: Haupt, 1993).

Soetard, Michel: Johann Heinrich Pestalozzi. Sozialreformer – Erzieher – Schöpfer der modernen Volksschule. Eine Bildbiographie. (Zürich: Schweizer Verlagshaus, 1987).

Stadler, Peter: Pestalozzi. Geschichtliche Biographie. Von der alten Ordnung zur Revolution, (1746-1797). (Zürich: NZZ, 1988). Quellen: Neuentdeckte Briefe aus Privatbesitz

Hans Jacob Pestalozzis Briefe an Jeremias L´Orsa vom 7.Nov. 1791 und 15.Apr. 1792.