Pestalozzis frühestes Werk: "Agis"
Agis ist Pestalozzis frühstes gesichertes Werk und erschien 1765 in einer in Lindau vertriebenen Zeitschrift ("Vollständige und kritische Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften unsrer Zeit nebst andern zur Gelehrsamkeit gehörigen Sachen") und behandelt den spartanischen König Agis IV. (244-241 v. Chr.), der in die hellenistische Spätzeit des Königreiches zwischen Alexander dem Grossen und der römischen Eroberung gehört. Die Hauptquelle bot eine Lebensbeschreibung Plutarchs.
Pestalozzis Text aber beginnt mit einer längeren Übersetzung aus der dritten Olynthischen Rede des Demosthenes. Dieses Fragment setzt die einleitenden Akzente. Der Redner erinnert seine athenischen Zeitgenossen an Aristides, Nikias, Perikles, misst sie am "gegenwärtigen Verfall" und ruft aus: "Bey ihnen einmal war alles vortrefflich, und bey euch schandbar bestellt. Besehet, ihr Bürger von Athen, den Unterschied jener und der gegenwärtigen Zeiten." Die Grösse jener Männer bestand eben darin, dass sich ihre Häuser von denen ihrer Nachbarn um nichts unterschieden. "Denn sie verwalteten den Staat nicht darum, dass sie durch den Schimmer mehrerer Reichtümer ihren ärmern Mitbürgern Hohn sprächen; sondern jeder von ihnen glaubte nur dieses seine Pflicht zu seyn, die Güter der Gemeinde zu vermehren. Pestalozzi mag angesichts der regen und reichen Bautätigkeit seiner Vaterstadt in just jenen Jahren von der Aktualität der Rede selber betroffen gewesen sein; jedenfalls versichert er seine Leser, es handle sich nicht um "Schilderungen unserer eigenen Umstände" und erst recht um "keine Satyre auf unsere Umstände", sondern um eine getreue Übersetzung. Im "Schwanengesang" ist Pestalozzi auf den Anlass dieser Arbeit zu sprechen gekommen und hat sie - übrigens im weiteren Kontext seines schulischen Scheiterns - als sprachliche Talentprobe im Wettkampf mit seinem Lehrer Steinbrüchel hingestellt. Tatsächlich dürfte ihre Entstehung in das letzte Studienjahr 1764 fallen. Wie aber kam er auf den Spartanerkönig? Einen Hinweis bieten die Akten der alten "Historischen Gesellschaft auf dem Bach". Da ist nämlich die Rede von einer "Lobrede auf den Spartanischen König Agis", die der eifrige Kaspar Escher im Luchs für den Herbst 1764 vorsah und möglicherweise auch gehalten hat. Vermutlich ist davon der Anstoss auf das junge Mitglied ausgegangen, sich des Themas anzunehmen, das - wenn man von einem Trauerspiel Gottscheds (1751) absieht - nicht sonderlich naheliegend war und gewiss nicht zu den Gemeinplätzen üblicher Altertumskunde gehörte. Aber es führte mitten hinein in eine Problematik, die einige von den Patrioten nahe berührte und bereits im ersten Satz wirkungsvoll hervortritt. "Agis war zu einer Zeit König in Lacedämon, da die Einfalt der Sitten gewichen war, damals waren die Gesetze Lykurgs entweihet, und die Grundfesten des Lacedämonischen Staats, die Armut, die Enthaltsamkeit und die Liebe zur Arbeit , waren schon sehr entbehrliche Tugenden." In diesem Sparta ohne spartanische Einfachheit greift der Verkauf der Erbgüter um sich; es entsteht "Ungleichheit unter den Bürgern; und von da an machte sich die Raublust der Reichen die Güter Spartens eigen, und Scharen unglücklicher Söhne, deren betrogene Väter ihnen ihr Erbteil entrissen, bearbeiten nun als Sklaven die Felder der Reichen.", Plutarch schildert die kurze und dramatische Regierung des mit zwanzig Jahren zur Königswürde gelangten Jünglings. Die Zahl der Spartiaten war auf 700 zurückgegangen, von denen etwa hundert reiche Grossgrundbesitzer waren; der Rest lebte verarmt, häufig auch verschuldet dahin. Agis war zur Reform dieser Zustände entschlossen; Ausgleich des Besitzes und Erhöhung der Bürgerzahl sollten eine Stärkung des Staates herbeiführen. Sein Anhänger, der ins Ephorat gelangte Anhänger Lysandros, brachte eine Vorlage ein, die eine Teilung des Landes in 4500 spartiatische und 15 000 periökische Landlose vorsah. Es kam nun zu schweren inneren Auseinandersetzungen, da die konservativen Kräfte - darunter der Mitkönig - die Reform blockierten. Durch eine Art Staatsstreich konnten sie entmachtet und vertrieben werden. König Agis, der bei der jüngeren Generation Anhang fand, ging mit der Opferung seines Vermögens voran und gab auch mit seiner spartanisch einfachen Lebensführung ein Beispiel. Allerdings scheiterte die Erneuerung letztlich daran, dass der Schuldentilgung der Vorzug vor der Landverteilung gegeben wurde - dies auf Betreiben des verschuldeten Ephoren Agesilaos, eines Oheims des Königs. So konnten die Opponenten erneut Raum gewinnen; die Abwesenheit des Königs in einem auswärtigen Krieg führte die Wende und den Sturz des Agis herbei, der seinen Feinden in die Hände fiel und im Gefängnis erdrosselt wurde. Diese sehr geballte Geschichte hat nicht zuletzt ihrer sozialen Gegensätze wegen immer wieder die Nachwelt interessiert. "In seiner Person vollzieht sich die Wendung des Sozialismus der Utopien und Staatsromane, der Philosophen und Literaten zum Sozialismus der Tat", urteilt ein Historiker des frühen 20. Jahrhunderts (Pestalozzi schildert kaum den Ablauf, den setzt er vielmehr voraus. Sein Text ist ein emphatischer Lobgesang auf den jugendlichen König, der als Verkörperung menschlicher und staatsbürgerlicher Vollendung vorgeführt wird. Er tritt dabei in unmittelbaren Dialog zum Helden, führt ihm seine Lebensgeschichte und die Tragik seines Scheiterns vor Augen, dann wieder verhält er sich mehr als Berichterstatter. Oder es gibt Abschnitte, da der Leser in Ungewissheit versetzt wird, ob der Autor oder der König selbst redet: "Himmel! was dachte ich unglücklicher? - ich rede ja die vergessene Sprache der Freyheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist Könige und Regenten an der Spitze von Weichlingen und Weibern die ewige Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverey stürzen und das Heil ihres Staats vertilgen zu sehen.". Die Unklarheit, wer da nun eigentlich spricht, ist keineswegs zufällig, sondern Teil jener Identifikation seiner selbst mit dem König, deren Demonstration zur Absicht Pestalozzis gehört. Beide wissen sich fremd in ihrer heruntergekommenen Zeit, dieser Gegenwart, die ihnen nicht mehr entspricht. So endet die Episode als echtes Trauerspiel, und nun bekommt der König unmittelbar vor seinem Tode nochmals das Wort: "Ich bin glücklich, unendlichmal glücklicher als meine Mörder - Ich habe gerecht und redlich gelebt und ein gutes Vorhaben gehabt, und werde wider Recht und Billigkeit umgebracht. So voll göttlicher Ruh und innerer Zufriedenheit redt er, und gibt freywillig seinen hals dar und stirbt." Ein Ende ohne Verheissung - anders als bei Plutarch, der die Agisgeschichte in das kunstvolle Kompositionsprinzip seiner Parallelbiographien einbaut. Da erhält der ermordete König einen Fortsetzer in keinem andern als dem Sohne seines Feindes Leonidas. Kleomenes nimmt als König die Reformpolitik des Agis mit mehr Erfolg auf, und der griechische Historiker stellt dann seinerseits den Bezug her zwischen diesen beiden spartanischen Herrschern und den Gracchen. Derart weite historische Zusammenhänge lagen Pestalozzi fern, sie hätten auch die Tragik des Einzelschicksals vermindert, auf das es ihm vor allem ankam.
Dass er seinen Erstling ausgerechnet in den "Lindauer Nachrichten" publizierte, mag erstaunen, diente aber vermutlich der Absicherung gegen die Zürcher Zensur. Er spürte die Aktualität des Themas und konnte annehmen, dass sie auch den massgebenden Instanzen seiner Vaterstadt nicht entging. Immerhin waren die "Ausführlichen und kritischen Nachrichten" mehr eine Literaturzeitschrift als ein schöngeistiges Organ, nach dem Programm der Herausgeber bestrebt, "die besten und merkwürdigsten unserer heutigen Schriften bekannt zu machen": Die Beziehungen zur Schweiz sind recht eng: Bereits das erste Stück enthält eine Besprechung der "Wirtschaft eines philosophischen Bauern", dann werden theologische Schriften Jakob Wegelins, Ami Lullins und Johann Stapfers Predigten erörtert. "Etwas über die Noachide" Bodmers wird geboten, doch finden sich auch relativ ausführliche Rezensionen von Rousseaus Contrat social und vor allem einer französischen Version von Beccarias "Traité des délits et des peines", die zum Teil systematische Inhaltsangaben enthalten. Die Arbeit "eines verdienstvollen Jünglings von noch nicht zwanzig Jahren", wie sie im Vorspann angekündigt war, befand sich somit in bester Nachbarschaft. Erstmals zeigte er seine Fähigkeit, die sich auch in späteren Lebensphasen erweisen sollte: einem Tief - dem Scheitern am Carolinum - einen Erfolg abzuringen. Bei alle Ungeschicklichkeit, die ihm ansonsten eigen war, hatte es der aus der Bahn geworfene Student doch verstanden, seinen publizistischen Anfängen einen angemessenen Rahmen zu verschaffen.
"Mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen aus: Stadler, Peter: Pestalozzi. Geschichtliche Biographie. Bd.1: Von der alten Ordnung zur Revolution. 2. Auflage Zürich 1993, S.88-91."
Zum Autor
Name:
Prof. em. P. Stadler
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