Pestalozzi als Pädagoge und Bildungspolitiker
Roger Vaissière
Referat am Pestalozzi-Symposium, 10. April 2008, Langenthal in Erinnerung an Pestalozzis Langenthaler Rede im Rahmen der Helvetischen Gesellschaft
"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, William Faulkner, Pylon 1935.
Mit diesem Motto töne ich an, dass die Wirkung des immensen Werks Pestalozzis, auf das Monika Weber hingewiesen hat, stärker ist, als dass wir es im Alltag gemeinhin annehmen. Ich wage es, noch einen Schritt weiter zu gehen: Die Stärke und das Selbstbewusstsein unseres Schul- und Bildungswesens fusst weitgehend auf Gedanken Pestalozzis und auf einem pragmatischen Verständnis der Reformpädagogik die ihrerseits auf Pestalozzi und Rousseau zurückgeht. Dies kommt zum Ausdruck in unserem Konzept der dualen Berufsbildung, in unserer auf Anschauung, Übung und Verständnis aufbauenden Didaktik sowie in unserer Schulorganisation, die Begegnung und Beziehung ermöglicht.
Bevor ich diese These zu belegen versuche, möchte auch ich der Stadt Langenthal und der Amman Schweiz AG für ihre Initiative beglückwünschen, an die Langenthaler Rede zu erinnern. Die Rede verweist auf die grundlegende Einsicht, dass es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Kohäsion einer Gesellschaft und der allgemeinen öffentlichen Schulbildung im Rahmen der Demokratie gibt. Diese Fragen sind auch heute wieder topaktuell. Es ist daher von besonderem Wert, dass sich auch die Neue Helvetische Gesellschaft an die Fragestellungen ihrer Gründervereinigung erinnert.
Nun zu meiner These: Gehen wir zunächst in die Zeit Pestalozzis zurück. Es war ein Langenthaler, Johann Rudolf Fischer, Sekretär des Ministers Stapfer, der Pestalozzi 1799 nach Burgdorf gebracht hat, wo seine späte Tätigkeit als Lehrer und Institutsleiter seinen Anfang nahm. Pfarrersohn Fischer hatte ihn schon auf dem Neuhof besucht und später bei Fichte in Jena studiert. Fischer will selbst auf dem Schloss eine Lehrerbildungsanstalt gründen während unten in der Stadt Pestalozzi in der Schulstube wirkte. Die Zusammenarbeit nimmt ein rasches Ende, weil Fischer früh mit 28 Jahren stirbt. Pestalozzi konnte nun selbst auf dem Schloss seine Tätigkeit als Lehrer weiterführen und ein Seminar aufbauen.
Wie haben Zeitgenossen den Pädagogen Pestalozzis erlebt? Johann Friedrich Herbart, der später Professor für Philosophie und Pädagogik in Göttingen und als Nachfolger Kants in Königsberg wurde, schreibt in seiner Besprechung der Schrift Pestalozzis, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt:
„Sie wissen, ich sah ihn in seiner Schulstube. Lassen sie mich die Erinnerung noch einmal auffrischen, Ein Dutzend Kinder von fünf bis acht Jahren wurden zu einer ungewöhnlichen Stunde am Abend zur Schule gerufen. Ich fürchtete sie misslaunig zu finden und das Experiment, zu dessen Anblick ich gekommen war, verunglücken zu sehen. Aber die Kinder kamen ohne ein Wort des Widerwillens, eine lebendige Tätigkeit dauerte fort bis zum Ende. Ich hörte das Geräusch des Zugleichsprechens der ganzen Schule, nein, nicht das Geräusch, es war ein Einklang der Worte, höchst vernehmlich wie ein taktmässiger Chor, so bindend, so bestimmt heftend, auf das was eben gelernt wurde, dass ich beinahe Mühe hatte, aus dem Zuschauer und Beobachter nicht eins der lernenden Kinder zu werden.“
Und weiter unten heisst es:
„Noch jetzt, sooft ich bei mathematischen Beschäftigungen Figuren auf die Tafel hinwerfe, schelte ich meine Hand, dass sie nicht so feste gerade Linien, so genau runde Zirkel zeichnen kann als jene sechsjährigen Kinder. Und noch weit mehr als wegen ihrer erworbenen Fertigkeit schätze ich dieselben wegen der energischen Stetigkeit des Geistes glücklich, die sie gewinnen, in dem sie die Vorstellung der Rundung so lange ohne Wanken festhalten, bis das hingespannte Auge und die gehorchende Hand ganz langsam aber sicher den Kreis vollendet haben.“ (Über Pestalozzis neueste Schrift: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 1802).
Herbart hat bei Pestalozzi offensichtlich ein Schlüsselerlebnis gehabt. Heute wissen wir es: er hat die Möglichkeit entdeckt, über methodische Übungen menschliche, kindliche Grundfähigkeiten zu schulen: Hier Kopf und Hand, vorher Stimme und Artikulation und bei beiden Beispielen Konzentration und Aufmerksamkeit. Oder mit Pestalozzis Worten:
„Lerne deswegen erstlich deine Anschauung ordnen und das Einfache vollenden, ehe Du zu etwas Verwickeltem fortschreitest (Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 4. Brief, 1801).
Pestalozzi auf den Schulpädagogen und Didaktiker zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht. Er wurde zwar wegen seiner „Methode“ berühmt, Staatsmänner erhofften von ihr gar die Lösung sozialer Probleme und pilgerten später in Scharen nach Yverdon. Aber heutige Pädagogen (und sogar Zeitgenossen Pestalozzis) kritisieren nicht zu unrecht eine mechanistische Tendenz in den Schriften, die auf seiner Burgdorfer Erfahrung basieren. Es ist auch nicht die Methode allein, die pädagogisch weiter wirkte, auch wenn wir noch heute das unverstandene „Maulbrauchen“ , wie Pestalozzi zu sagen pflegte, ablehnen. Es ist seine Philosophie der Erziehung, die die Welt in Erstaunen versetzte:
Johann Gottlieb Fichte schreibt in seinen berühmten Reden an die deutsche Nation über Pestalozzi: „Zuvörderst, wir haben die eigenen Schriften des Mannes gelesen und durchdacht und aus diesem unseren Begriff seiner Unterrichts- und Erziehungskunst gebildet, gar keine Kunde haben wir genommen von dem, was gelehrte Neuigkeitsblätter darüber berichtet und gemeint und über Meinungen wieder gemeint haben“.
Pestalozzi war damals – Fichte deutet darauf hin – ein Medienereignis. Dies zur Korrektur des einseitigen Bildes des Gescheiterten. Und nun zur Sache:
„Er – Pestalozzi – wollte bloss dem Volke helfen, aber seine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdehnung genommen, hebt das Volk, hebt allen Unterschied zwischen diesem und einem gebildeten Stand auf, gibt statt der gesuchten Volkserziehung Nationalerziehung und hätte wohl das Vermögen, den Völkern und dem ganzen Menschengeschlechte aus der Tiefe seines dermaligen Elends emporzuhelfen.“
Hier geht es nun nicht mehr nur um den Unterricht, sondern um Fundamentales: Fichte sieht in Pestalozzi gleichsam den „Erfinder“ der Erziehung und Bildung aller Menschen und nicht nur der Privilegierten. Oder – holzschnittartig – er hat das Volk als bildungsfähig erklärt. Dies musste man damals den gebildeten Ständen erst einmal deutlich sagen. Aber gemeint ist mehr. Es ist eine anthropologische Aussage mit einer starken ethischen Komponente: Alle Menschen sind in jedem Alter der Menschenbildung zugänglich. Und dies auf Grund des folgenden Menschenbildes:
„Menschenbildung beginnt mit dem Anerkennen der Menschwürde in jedem Kind, einerlei in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen es lebt. Nun frage ich jeden, dessen Amt und Beruf die Erziehung der Kinder, die Bildung der Jugend ist: Stimmt das Werk, das Du tust, stimmt Deine Methode mit der inneren Würde des Menschen überein? Führst Du die Schüler zur Kraft und zum Bewusstsein ihrer menschlichen Würde? Wenn nicht: was gibt Dir dann Recht, die Jugendbildung als Deinen Beruf anzusehen? ...
und weiter:
„Erziehung ist die höchste und grösste Aufgabe des Menschen. Sie ist das Höchste, weil es dabei um die Würde des Menschen geht. Zur Menschenwürde führen kann nur, wer selbst innere Würde hat.“ (Pestalozzi, Wochenschrift für die Menschenbildung).
Es sind diese und ähnliche Sätze, die noch heute eindrücklich nachwirken und ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Sätze, die in Japan, in China, in den USA verstanden werden. Wir haben - modern gesagt – in Pestalozzi einen Brand, ein Label für kind- und menschengemässe Bildung mit weltweiter Beachtung. Pestalozzi ist mehr als Kopf, Herz und Hand als Bild für ausgewogene Bildung. Im Übrigen heisst das bei Pestalozzi im Original:
„Die Wahrheit zu erkennen, das Gute zu wollen und das Notwendige zu können“ ist das Ziel der Erziehung.
Pestalozzi hat die grundlegenden Fragen gestellt, denen wir uns auch heute noch stellen müssen. Es sind die Fragen nach dem Erziehungsziel, dem Menschenbild, den kindgemässen Methoden, dem Zusammenhang zwischen Bildungsideen und gesellschaftlicher Verfasstheit usw., die die Schweizer Pädagogik immer – erlauben Sie mir zu sagen – „Pestalozzi-nah“ gestellt und beantwortet hat.
Michel Soëtard, der bedeutende französische Pestalozzi-Kenner hat vom „Prinzip Realität“ bei Pestalozzi gesprochen. Er meint das in einem doppelten Sinn. Erstens war Pestalozzi bei aller idealistischer Suche Realist. Er hat mit der Trias Naturzustand, gesellschaftlicher Zustand, sittlicher Zustand in seinen „Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ ein realistisches Menschenbild entworfen. Aber – der Mensch ist bei aller Natürlichkeit und bei allen gesellschaftlichen Zwängen zur Ethik, zur Sittlichkeit fähig. Erziehung verhilft ihm dazu. Zweitens meint Soëtard, dass man zum Verständnis Pestalozzis auf sein gelebtes Leben zurückgreifen muss. Pestalozzi hat immer wieder in seinen Schriften auf seine Erfahrungen rekurriert, oder – wie in Burgdorf – tagsüber unterrichtet und nachts darüber geschrieben. Dies macht ihn als Pädagoge glaubwürdig.
War Pestalozzi auch Bildungspolitiker? Ich glaube – nein. Er war zwar ein durch und durch politischer Mensch – zum Beispiel wenn er in seiner Burgdorfer Zeit mit der Consulta zu Napoleon reiste. Aber er war vor allem Philosoph, Sozialethiker und hat ein grundlegendes Werk zur Pädagogik geschaffen, sich aber nicht um eine Institutionalisierung seiner Ideen gekümmert. Das verbindet ihn mit Gotthelf, der in seinen „Leiden und Freuden eines Schulmeisters“ die menschliche Lebensrealität seines Peter Käsers, dessen Schulkinder und Eltern den Anordnungen der Obrigkeit gegenüber stellte. Der Roman ist ja nicht zufällig dem Seminardirektor Rickli gewidmet.
Pestalozzi war Pädagoge, nicht Bildungspolitiker. In der Langenthaler Rede kommt am Schluss, wo er über die Erziehung spricht, plötzlich Fluss und Leben in seinen Duktus, während er vorne in langen Sätzen um die politischen und soziologischen Aussagen ringt. Trotzdem – und gerade in dieser Rede – Pädagogik, Bildung, Schule kann man in einer Demokratie nicht von Politik und Gesellschaft trennen. Er und die späteren Liberalen wussten, dass Erziehung und Bildung keine „Privatsache“ ist, sondern für das menschliche Zusammenleben gemeinsam, demokratisch errungen werden muss.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir wissen es alle, Bildung und Erziehung ist für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und unseres Staatwesens fundamental. Dafür braucht es selbstbewusste Lehrpersonen und Erziehende, die Verantwortung übernehmen können und sich nicht als Funktionäre verstehen, eben Frauen und Männer mit innerer Würde. Aber auch sie benötigen immer wieder gesellschaftliche Anerkennung. Die Stärke unserer Schulen sind das sorgfältige, anschauungs- und verstehensorientierte Unterrichten, die Förderung der individuellen Kompetenzen, die Erziehung zum verantwortungsvollen Zusammenleben. Das ist in der heutigen sich stark veränderten Gesellschaft nicht leicht, das war es auch zu Pestalozzis und Gotthelfs Zeiten nicht. Beide geben uns noch heute Mut, uns für eine Erziehung und Bildung einzusetzen, die junge Menschen befähigen, Verantwortung für sich selber und unsere Gesellschaft zu übernehmen.