"Das soll er sein?" - Pestalozzi im Film.
Heidemarie Kühn
In: Ambivalenzen der Pädagogik. Zur Bildungsgeschichte der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts. Harald Scholtz zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Drewek, Klaus-Peter Horn, Christa Kersting und Heinz-Elmar Tenorth. Weinheim: Deutscher Studienverl. 1995, S. 289-307.
Heidemarie Kühns provozierende Frage "Das soll er sein?" bezieht sich auf die einzige Koproduktion zwischen der Schweiz und der DDR, den Spielfilm "Pestalozzis Berg" von 1989. Zuerst gibt Kühn einen kurzen Abriß der nicht realisierten Film-Projekte mit mehreren Anläufen vor und nach 1945 und zur Vorgeschichte des dann in den späten 80er Jahren von Peter von Gunten realisierten ersten Spielfilms, der eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Lukas Hartmann aus dem Jahr 1978 (Bern: Zytglogge 1978. 184 S.) darstellt. Der Film ist keine Dokumentation des Lebens oder Wirkens Pestalozzis, sondern stellt allein Pestalozzis sechswöchigen Erholungsaufenthalt 1799 im Gurnigelbad bei Bern in den Mittelpunkt, wo er nach dem abrupten Ende seines Wirkens in Stans den sog. "Stanser Brief" schreibt. Der Film verläßt die Zeitebene 1799 nur für einige Rückblenden auf Pestalozzis Lebensumstände vor 1799.
Kühn berichtet in ihrem Beitrag wie der Film zustandekam, die unterschiedlichen Drehbuchfassungen und die Zielsetzung, die sich im Titel ausdrückt: Berg steht für die Beziehungen zwischen Innen- und Außenwelt, Berg ist einmal die Landschaft, die Pestalozzi umgibt und einmal die tiefe Depression, die es mit einem neuen Anfang zu überwinden gilt. Gutachterliche Kritik am Film gab es bereits im Vorfeld seiner Produktion, von der herben Enttäuschung über das gebotene Pestalozzi-Bild zeugen aber vor allem die Filmkritiken in der Tagespresse der DDR, in der die Differenz zwischen den Erwartungen und dem Vorgeführten angesprochen wird und sich am drastischsten in der Einschätzung ausdrückt, daß der Film allenfalls für den Schweizer Heimatkundeunterricht statt für ein allgemeines Kinopublikum tauge. In der Schweiz verknüpften sich mit dem Film andere Erwartungen, man sah in ihm stärker die Verfilmung eines umstrittenen Romans und belastete ihn weniger mit den Erwartungen nach einem Lebensbild Pestalozzis. Der Film erlebte im ganzen nur wenige Aufführungen, das allgemeine Kinopublikum erreichte er kaum und. Nach der Produktionskostenbeteiligung des Zweiten Deutschen Fernsehens wurde er auch dort einmal ausgestrahlt. Kühn geht dann den pädagogischen Filmszenen nach: pädagogische Situationen sind einmal in die Rekonstruktion des Zusammenlebens Pestalozzis mit den Kindern in Stans hineingewoben, weiter wird der Versuch gezeigt, wie Pestalozzi der Magd Mädi im Gurnigelbad das Lesen und Schreiben beibringt und auch die Rückerinnerungen Pestalozzis an seinen Sohn Hans Jacob zeigen erzieherisches Handeln und Versagen. Das Filmgeschehen irritiert dabei mehrmals die pädagogischen Erwartungen: das autoritäre Wort Pestalozzis an Mädi: "Wir lernen, was ich sage, nicht, was du willst", seine Antwort auf die Frage eines Kindes, ob er mit ihm spielen wolle: "Ich weiß nicht, wie man mit Kindern spielt" und das den Kinderfreund in seinem Zimmer störende Kindergeschrei, das er gegenüber dem Wirt moniert.
In ihrem Urteil ist Kühn zurückhaltend, der Film provoziere zwar Rückfragen und sei fern von jeder Heroisierung oder Mythologisierung, aber bei aller Distanz zum pädagogischen Klassiker Pestalozzi sei der Film selbst zu belehrend, um überzeugen zu können. Vielleicht so der Tenor des mit Quellenmaterial aus dem Bundesarchiv - Filmarchiv Berlin gut belegten Beitrags, sei Pestalozzi tatsächlich kein geeigneter Filmstoff. Zwei Kleinigkeiten stören in Kühns Beitrag: den helvetischen Minister Albrecht Rengger (1764-1835) schreibt Kühn "Rennger" (S. 292) und für die Untersuchung an Pestalozzis ausgegrabenen Gebeinen verweist Kühn auf die beiläufige Erwähnung im Vorwort von Trögers Arbeit zur Autobiographie Pestalozzis ("Ich kenne einen Menschen der mehr wollte. Untersuchungen zu Autobiographie Johann Heinrich Pestalozzis.") statt auf die einschlägige Monographie von Etter (Etter, Hansueli F.: Johann Heinrich Pestalozzi. Befunde und Folgerungen aufgrund einer Untersuchung an seinen Gebeinen. Zürich: Pestalozzianum-Verl. 1984. 68 S.).