An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes
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Gedruckter Text (1815)
Es ist wahr, hier fault das Samenkorn schon in der Mutterpflanze, dort trocknet es aus, ehe es reif ist und wird angefressen, ehe es in die Erde geworfen, und auch wenn es aufgeht, nagt der Wurm an seinem Herzblatt und macht es serben. Winde wehen über seine Blüte, der Hagel zerreißt seine sich entfaltenden Fasern, und der Fußtritt von Menschen und Vieh geht mörderisch über sein wachsendes Leben; selber die Frucht, die allem diesem entronnen, ist um deswillen dem Schicksal ihres Verderbens noch nicht entgangen. Unter allem, was in der Erde wurzelt und sich wachsend über sie erhebt, ist das Schlechtere häufig und gemein und das Vollkommnere selten. Die höchste Pracht der Blume wächst auf fast unzugänglichen Bergen und im glühenden Sand unbewohnter Weltteile; und auch bei den Tieren findest du den höchsten Ausdruck ihrer Kraft und ihrer Schönheit ebenso in unzugänglichen unbewohnten Gegenden. Aber der Mensch vervollkommnet das Gemeine, das ihn als sein Erbteil allenthalben umgibt. Er macht schlechte Fruchtarten durch seinen Anbau zum Reichtum des Landes, er pfropft auf den Baum, der bei ihm wild wächst, Früchte fremder Weltteile. Er schafft einzelne Tiere, die in der Wildnis serbten, zu Herden um, die sich an Gestalt und Abtrag unter seiner Hut nicht mehr gleich sehen. Er entreißt das Vollkommne den Werkstätten der Natur und macht es zum Werk seiner Kunst. Er veredelt die Geschöpfe der Erde, wie wenn sie das Werk seiner Hände wären, und erhebt sie durch seine Kunst zu einem Wert, zu dem sie ohne seine Mitwirkung nie gelangen möchten. Was er diesfalls an der tierischen und toten Natur tut, das tut er auch an sich selber und an seinem Geschlecht. Er muß es tun! sonst geht auch er in der Unbesorgtheit eines bloß tierischen Daseins zugrunde, wie die unbesorgte Schwäche im Pflanzen- und Tierreich ohne menschliche Wartung zugrunde geht. Die Schwächen der vegetabilischen und animalischen Natur alle sind auch dem Menschengeschlecht eigen, und wirken gewaltsam und vielseitig auf das Stillstellen und Verwirren der Entfaltung der höheren göttlichen Anlagen seiner Natur, so daß tausende unseres Geschlechtes nicht menschlich werden bis ans Grab, weil ihnen die Wartung Sorge, Pflege und Kunst, die sie zu ihrer menschlichen Bildung bedurften, durch ihr Leben gefehlt hat. Siehe dich um, und weine über dein Geschlecht! Sieh, wie hier das Kind schon, dem vegetabilischen und animalischen Verderben seines Vaters und seiner Mutter unterlegen, als physisch verdorbene Pflanze nur serbend emporwächst, wie es vom bösen Tiersinn seiner Erzeuger angesteckt und von der Wiege an darin genährt, fast so schwer hat, Mensch zu werden als ein Vergifteter, gesund unter seinem Geschlecht dazustehen. Sieh' dich um, wie die große Mehrheit der Kinder deines Geschlechtes unter Umgebungen lebt, die sich zum vegetabilischen und animalischen Lebensgenuß hindrängen, wie hungrige Säugtiere zum mütterlichen Euter; wie sie hingerissen von diesem Genuß alles Edlere, Menschlichere in sich selber verlieren, und dahin versinken, keine höhere Weisheit und keine höhere Tugend zu kennen, als ihren Kindern und Kindeskindern die Quellen ihrer vegetabilischen und animalischen Glückseligkeit mit der ganzen, freilich bürgerlich geformten, Tierkraft zu sichern, zu der sie sich selber erhoben haben. Der Mensch kann in den Schranken seiner animalischen und vegetabilischen Entfaltung nicht Mensch werden. Das Leben inner diesen Schranken erzeugt eine Tierwelt, in der das Menschliche unserer Natur dasteht wie ein verlorener Kern einer heiligen Frucht in einer angefressenen und verfaulten Hülle.
Es ist wichtig, daß die Zeitwelt es tief fühle, daß die Bildung des Menschen zu allem, was er ist, von gedoppelten Fundamenten ausgehe; erstlich, von einem Sinnlichen, das er mit allen Tieren des Feldes gemein hat; zweitens, von dem höheren, allein menschlichen Wesen unserer inneren Natur, das ihn von allen Wesen der Erde unterscheidet. Beide Fundamente werden von Erfahrungen, Grundsätzen und Mitteln unterstützt, und sprechen eine Sorgfalt und Kunst an, ohne die zwar das freie wilde Leben den Tiersinn unseres Geschlechtes befriedigen kann, aber ohne die weder eine auch nur sinnlich begründete Zivilisation, noch viel weniger eine geistig und bürgerlich erhebende Menschenkultur denkbar und möglich ist. Indessen sind die Grundsätze, Maßregeln und Mittel, die bloß zur sinnlichen Zivilisation, und diejenigen, die zur sittlichen und geistigen Kultur hinführen, in ihrem Wesen nicht nur verschieden, sondern sie stehen sich geradezu entgegen, und müssen es. Unsere sinnliche Natur entfaltet sich nur tierisch. Die Mittel ihrer Kunst gehen aus Gefühlen, Anlagen und Neigungen hervor, die der Mensch mit dem Tier gemein hat und bringen ihn nur zu solchen Fertigkeiten, die ihren tierischen Ursprung durchaus nicht verleugnen. Sie bringen ihn dahin, daß er sich stolz wie ein Pferd brüstet, daß er im Zorne kollert wie ein welscher Hahn, daß er seine Vorzüge spiegelt wie der Pfau seinen Schweif, daß er sich aus Furcht wie ein geschlagener Hund schmiegt, und für Fleisch und Brot Künste treibt, die wider seine Natur sind. Es kann ihm bei allem dem sinnlich wohl sein. Sinnlicher Genuß bringt den Menschen tierisch vorwärts, sinnliche Furcht stößt ihn tierisch zurück, und sinnliche Hoffnung belebt ihn ebenso; denn es ist nicht bloß die Wahrheit seiner sinnlichen Genüsse, es ist auch der Traum von denselben, der sein ganzes tierisches Leben in Bewegung setzt und ihn dahin bringt, von seiner Einbildung getäuscht, selber für jemand durch Feuer und Wasser zu laufen, der ihm den Dienst mit Verachtung und sonst mit gar nichts lohnt. Es kann nicht anders sein.
Der Mensch, über den irgendein tierischer Sinn volle Herrschaft erhalten, wird am Ende das Opfer seiner verlorenen höheren Menschennatur. Aber wie er sich selbst durch seinen Tiersinn dem Verderben hingibt, also opfert er auch sein Geschlecht. Er wird lieblos wie der Fisch im Wasser, schonungslos wie die Schlange, die mit Gift tötet, und gewalttätig wie das Tier, dessen Rachen nach Blut dürstet. Er achtet den Armen für nichts. Er ist des Reichen Knecht wider Gott und wider sich selbst. Er haßt das Recht der Armen, und der Name "Menschenrecht" ist ihm ein Greuel, und er muß es ihm sein, denn er weiß, daß es wie das Armenrecht wider das Tierrecht ist, und sein Dichten und Trachten geht nur von diesem aus. Es kann von nichts anderem ausgehen, denn seine Bildung hat ihn auf der Stufe des Tiersinns gelassen. Er gelüstet auch nicht, sich über dieselbe zu erheben, und dadurch zur Erkenntnis des wahren heiligen Wertes des Menschenrechts und des Armenrechts zu gelangen. Er ist ein unter die Stufen der wahren Menschennatur erniedrigtes Geschöpf, er fühlt dieses oft auch selber. Innere Unruhe verfolgt ihn, wenn er den Armen drängt, den Schwachen verhöhnt und die Leiden der Elenden weder mit Worten noch mit Taten mildert. Er muß vor sich selber entfliehn, er muß den Spiegel seines Lebens vor seinen Augen zerschlagen, damit er sich nicht selber in aller seiner Nacktheit erkenne. Das ist so wahr, daß er zu Zeiten etwas äußerlich Gutes tut, und etwa den Feldbau oder die Viehzucht verbessert, oder gar Wohltätigkeitsprojekte begünstigt, damit er sich selber in nötigen Augenblicken für einen guten und nützlichen Menschen, für einen Freund der Wahrheit und des Menschengeschlechts halten könne. Aber ob er gleich das tut, und zu Zeiten selber auf eine Weise, die ihm Ruhm und Ehre bringt, der Welt und sogar den Armen dient, er glaubt an nichts Gutes, er glaubt niemand gut, er hält niemand für dankbar, niemand für treu, niemand für unschuldig und reines Herzens, und beruft sich hierüber auf seine Erfahrungen. Und er hat darin auch recht. Er hat diese nicht nur gemacht, er hat sie eigentlich erschaffen. Er hat seine Umgebungen so vergiftet, daß ein Mensch ein Engel sein müßte, um an seiner Seite dankbar, treu, unschuldig und reines Herzens zu werden.
Ganz anders ist die Richtung des Lebensganges des Menschen, dessen Bildung die reine Entfaltung der Menschlichkeit zu ihrem Fundament und zu ihrem Zweck hat, und sich dadurch von dem Bildungsgang aller Wesen, die nicht Menschen sind, unterscheidet. Er verachtet jede Kraftäußerung, die ihn im Wesen, oder auch nur in Form und Gestalt irgendeinem tierischen Geschöpf gleichstellt. Er ehrt Gott in der Menschennatur, er kennt ihren einzigen Wert in der Erhebung ihres inneren Wesens über ihren äußeren tierischen Sinn. Menschlichkeit ist ihm über alles. Er liebt den Armen, weil er den Menschen liebt. Er liebt das Armenrecht und das Menschenrecht, weil er alles liebt, was recht ist. Er haßt das Unrecht, er verachtet den, der es tut, er muß ihn verachten, oder die Menschennatur nicht ehren. Er ehrt sie. Er glaubt an Menschengüte, er glaubt an Menschendank, an Menschentreue, aber er lebt auch, daß es schwer ist, in seiner Nähe zu wohnen und ihm nicht gut, gegen ihn nicht dankbar und ihm nicht treu zu werden. Er ist der Wahrheit Freund, er hat von ihr nichts zu fürchten; er ist der Lügen Feind, er hat von ihnen nichts zu hoffen. Er braucht die Täuschung weder für sein Gewand noch für seinen Schild, Liebe ist sein Gewand und die Wahrheit sein Schild. Gutes tun ist sein Leben, aber er treibt kein Geschäft der Welt, auch das Gutestun nicht, um seines äußeren Scheins willen.
Wenn die erste, die tierische Bildung von den sinnlichen Trieben unserer Natur ausgeht, so geht die zweite, die Menschlichkeitsbildung von den höheren Anlagen des menschlichen Geistes und des menschlichen Herzens und einer menschlich gebildeten Denk- und Kunstkraft hervor. Daher erhellt, daß der ganze Einfluß der Zivilisationsbildung, insofern er sich nur um das Äußerliche und Bürgerliche unseres Daseins herumtreibt, und durch den Einfluß der Umgebungen der Masse, des Volkshaufens und der Einrichtungen, die für, durch oder auch wider diese da sind, bestimmt wird, insoweit als die Sache der sinnlichen tierischen Bildung unseres Geschlechtes anzusehen ist. Die richtige Erkenntnis dessen, was die Bildung zur Menschlichkeit, die Menschenbildung, die Volkskultur ist und sein muß, und hinwieder dessen, was die Sache der sinnlichen tierischen Entfaltung unseres Geschlechtes und insoweit der Zivilisation ist, ist also eine notwendige, eine Fundamentalerkenntnis eines jeden, der sich um die Erziehung unseres Geschlechtes bekümmert. Die Einrichtungen, Maßregeln und Bildungsmittel, die um der Masse und des Volkshaufens und seiner Bedürfnisse als solcher willen gemacht werden, in welcher Form und Gestalt sie auch erscheinen, sind durchaus nicht die Sache der Volkskultur, sie sind durchaus nicht die Sache der Menschenbildung. In tausend Fällen taugen sie für sie gar nicht und stehen ihr geradezu entgegen. Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich. Es bildet sich wesentlich nur in engen, kleinen, sich allmählich in Anmut und Liebe, in Sicherheit und Treu ausdehnenden Kreisen also. Die Bildung zur Menschlichkeit, die Menschenbildung und alle ihre Mittel sind in ihrem Ursprung und in ihrem Wesen ewig die Sache des Individuums und solcher Einrichtungen, die sich eng und nahe an dasselbe, an sein Herz und an seinen Geist anschließen. Sie sind ewig nie die Sache der Menschenhaufen. Sie sind ewig nie die Sache der Zivilisation. Im Gegenteil, die Unterordnung der Zivilisation unter die höheren Gesetze der Menschenbildung muß um so notwendiger als Forderung der Menschennatur selber angesehen werden, da sie, die Zivilisation, in ihren Mitteln und Folgen mit großer sinnlicher Gewalt auf die Schwäche und Schlechtheit, und damit auf die große Mehrheit, auf die Masse, auf den Volkshaufen unseres Geschlechtes und dahin wirkt, daß er in der größten sittlichen Geist- und Kunstverwahrlosung und Verwilderung, selber in der höchsten diesfälligen Verkrüppelung seiner selbst sinnlich befriedigt dastehen und durchaus das Gefühl des Bedürfnisses der Ausbildung der höheren und edleren Kräfte unserer Natur in sich selber verlieren kann. Dadurch muß sie dann der eigentlichen wahren Basis der Menschenbildung unbedingt entgegenwirken, indem sie die Zwecke des sinnlich tierischen Verderbens vielseitig begünstigt, und ihre Resultate durch große sinnliche Reize und Täuschungsmittel verstärkt.
Die Schwäche unseres Geschlechts läßt sich so leicht durch die sinnliche Nutznießung, durch etwas Unwesentliches, vom sittlichen und geistigen Ergreifen und Festhalten des Wesentlichen ablenken; das ist in tausend Begegnissen des Lebens sichtbar. Wenn z.B. ein in seinem physischen Wachstum verkrüppelter und bis aufs Mark zerrissener Baum durch die Kunst des Gärtners dahin gebracht wird, daß er alljährlich Früchte trägt wie ein gesunder, so wird sich die Selbstsucht des gewöhnlichen Nutznießers in jedem Fall über die Verkrüppelung des Baums gar leicht trösten und ihn so gern vor Augen sehen als einen unverkrüppelten. Ebenso wird auch ein durch das Zivilisationsverderben sinnlich befriedigter, selbstsüchtiger Mensch ein durch dieses Verderben sittlich, geistig und bürgerlich verkrüppeltes Volk gar nicht als ein schlechtes Volk ansehen und behandeln, wenn es ihm die sinnlichen Genießungen, die er bei ihm sucht, mitten in seiner Verkrüppelung dennoch leistet und zu leisten vermag; ganz gewiß wird ihm seine Verkrüppelung ebenso wenig zu Herzen gehen, als dem Nutznießer obigen Baums der böse Zustand der Quelle seiner Nutznießung. Der Anblick bloß zivilisierter Menschen und Völker muß beim Menschen, der sie bloß als seine Speise, als Mittel seiner Genießungen und seines Dienstes und nicht als selbständige Wesen ansieht, sich auf den Eindruck, den ihre sinnliche Benutzung auf ihn macht, beschränken, und ganz in den Irrtum und die Einseitigkeit dieser selbstsüchtigen Ansicht hinübergehen. Diese Ansicht aber führt unser Geschlecht notwendig und wesentlich an die allgemeine Quelle seiner Entsittlichung. Sie führt den Starken zum Mißbrauch seiner Kraft, den Stolzen zur Verhöhnung des Schwachen und den Schwachen zum krummen Leben und zum niederträchtigen Haschenden, was er nicht haschen darf und nicht haschen soll.
Vorzüglich aber macht sie den Befriedigten gleichgültig für den Zustand des Unbefriedigten, den Eigentümer für den Zustand des Eigentumlosen, den Glücklichen für den Zustand des Unglücklichen. Sie trennt die Menschen und führt sie zu einem Leben, daß die, so nichts bedürfen, den Bedürftigen nicht mehr so nahe stehen, daß sein Zustand ihnen ans Herz gehe und sie ernsthaft zu den Quellen seiner Bedürfnisse hinaufsteigen mache, wodurch sie allein fähig werden können, ihm wahrhaft zu dienen. Der Mensch geht auf dem Pfad dieser Ansichten in die größten, dem gesellschaftlichen Leben verderblichsten Grundsätze, Maximen und Lebensweisen hinüber, die denn mit gleicher Gewalt nicht nur auf den seinen Mitmenschen mißbrauchenden, verhöhnenden und verwahrlosenden Mann, sondern ebenso auch auf den mißbrauchten und verhöhnten und verwahrlosten, sittlich, geistig und physisch verheerend hinwirken. Wenn der letzte dadurch, daß er nicht nur verwahrlost, sondern um der Erniedrigung willen, in die er bei seiner Verwahrlosung notwendig versinken mußte, noch verhöhnt und dem Unrechtleiden und dem Mißbrauch seiner ihm noch übrig gebliebenen Kräfte preisgegeben worden, roh wird, wie die Rinde eines veralteten Baumes, und alle Zartheit des Gemüts durch sein Unrechtleiden verliert, so zerstört der erste diese Zartheit durch Mutwillen und Gewalttätigkeit und versinkt in eine Rohheit, die ich zu sehr ehrte, wenn ich sie nur mit einer alten Baumrinde vergleichen würde. Der sinnliche Mensch achtet die Dinge, die außer dem Kreis seiner sinnlichen Selbstsucht liegen, für nichts, er achtet die heilige Sache der Menschheit für nichts, ich möchte mit der Bibel sagen, er achtet die Dinge nicht, die des Geistes Gottes sind, denn sie liegen, sie könnten nicht mehr, außer dem Kreise seiner sinnlichen Selbstsucht. Die große Mehrheit der Menschen sowohl in ihrer Masse als in ihrer repräsentativen und konzentrierten Erscheinung ist eben wie die große Mehrheit der Erzeugnisse in allen Reichen der Natur gemein und schlecht; das Vollkommene und Edle ist auch unter den Menschen selten und steht gar oft wie ein Licht unterm Scheffel da. Der tierische Mensch erkennt das reine hohe Wesen der wahren Menschlichkeit nicht, er vermag es nicht, und da ist es gleichviel, ob er in diesem Unvermögen innerlich verkrüppelt auf einem Richterstuhl sitzt und Recht spreche, oder gefesselt mit auf den Rücken gebundenen Händen vor den Schranken dieses Rechtes stehe, ob er mit stolzem Haupt als Herr seiner Umgebungen dahergehe, oder mit gebogenem Rücken sich zwischen den Lücken seiner Umgebungen durchschleiche. Das alles ist gleichviel. Er erkennt das reine hohe Wesen der wahren Menschlichkeit nicht, und öffnet sein schlummerndes Auge nicht einmal gern, wenn es sich gleichsam mit Gewalt an alle seine Sinne andrängt.
Das Erhabene der Menschennatur erkennt sich durch nichts, was der Mensch mit der toten und tierischen Natur gemein hat, und doch strebt der Mensch, auch wenn er das Höhere, Edlere seiner Natur in sich selbst innerlich zernichtet, äußerlich immer nach allem Schein des Hohen, des Edlen, des Vollkommenen. Wenn er sich selbst entwürdigt, veredelt er dennoch den Stein im Gebirge und verschönert seine Umgebungen, dem Scheine nach in eben dem edlen Geschmack, dessen Wesen ihm merklich selbst mangelt. Selber sein sinnliches Voreilen in der Entfaltung seiner selbst und seiner Kinder zu allem Wissen, zu aller Schlauheit, zu aller Gewandtheit, zu allem Stolz, zu allem Hohn, zu aller Niederträchtigkeit unseres Geschlechtes ist eine Folge seines in der Sinnlichkeit beschränkten und durch das Zivilisationsverderben verwirrten Drangs nach Vollkommenheit, nach Vollendung. Er sollte sich veredeln, aber er kennt den Sinn der Veredelung nicht, und meint, er tue dieses, wenn er sich abschleift. Aber der Mensch veredelt sich nicht wie der Stein im Gebirge, nicht wie die Saaten des Feldes und das Vieh auf der Trift, es fordert eine ganz andere Pflege und Wartung und Kunst als diejenige ist, durch die alle Wesen der Schöpfung, die nicht Menschen sind, zur höchsten Vollkommenheit gebracht werden, deren sie fähig sind; es fordert selbst eine ganz andere Wartung, Pflege und Kunst als diejenige, die den Menschen zu aller Vollkommenheit der Kräfte, Anlagen, Fertigkeiten erhebt, die er auch mit dem vollkommensten Geschöpf der Erde, das nicht Mensch ist, gemein hat.
Zwar sind auch die Gesetze der vegetabilischen, animalischen und der toten Natur ewig und unveränderlich; in allem Erschaffenen liegt das Wesen seiner höchsten Vollendung im göttlichen Keim, aus dem es entsprungen, und strebt mit ewig unveränderlicher Kraft nach diesem Ziel. Aber wenn es auch erreicht wird, wenn die ersten Geschöpfe, die nicht Menschen sind, das Ziel ihrer höchsten Vollendung erreichen, so grenzt ihr Zustand nicht einmal an die ersten Anfänge der Entfaltung des menschlichen Wesens, er grenzt nicht von ferne an den hohen heiligen Keim, aus dem sich dieses allein zu entfalten vermag.
Im Gegenteil, die Wartung, die Sorge und Kunst, mit der alle Wesen, die nicht Menschen sind, sich vollenden, ist nicht nur nicht die nämliche mit derjenigen, durch die sich der Mensch vollendet, sie steht vielmehr mit ihr im bestimmten Widerspruch und wirkt ihr grade entgegen. Wenn du einen köstlichen Stein schleifst, so erhöhst du seinen Wert, wenn du den Menschen abschleifst, so verminderst du ihn; wenn du ihn wie die edelste Pflanze besorgst, aber bloß in Nahrung, Wärme und Ruhe, so machst du ihn sinnlich, selbstsüchtig und träge. Wenn du ihm die höchste Kraft, die höchste Vollendung des Tiers gibst, so entmenschlichst du ihn. Gib ihm den Geruch des Hundes, was hast du ihm gegeben? Gib ihm die List des Fuchses, was hast du ihm, dem Menschen, gegeben? Gib seinem Herzen Löwenruhe hinter einem Blutrachen und Speise zu seiner Zeit, das Schaf, das er schlachtet, ist in seinen Anlagen der Menschennatur näher als er.
Nicht bloß die Art, wie sich die tierische Kraft im Menschen selber entfaltet, auch die Art, wie sich die vegetabilische und animalische Natur durch die Kunst des Menschen vervollkommnet, ist von der Art und Sorgfalt der Kunst, durch die der Mensch sich selber und sein Geschlecht vervollkommnet, wesentlich verschieden und hat gar nichts mit ihr gemein.
Ich stehe staunend vor allem Leben der physischen Schöpfung und sehe, im Anblick aller Kraft und aller Kunst ihrer Vervollkommnung, die Wahrheit ihres Zurückstehens in allem ihrem Sein und in allem ihrem Tun hinter der Höhe und Heiligkeit aller Erfordernisse für die Bildung unseres Geschlechts. Die Menschenkunst, die Menschenbildung ist von Gottes und der Natur wegen die höchste Kunst unseres Geschlechts; der Mensch muß sie suchen und schätzen, als sein höchstes Gut. Er tut es auch, oder wer ist Vater und Mutter, der nicht einen Finger von der Hand gäbe, daß seine Kinder menschlich gebildet würden und menschlich leben könnten bis an ihr Grab? Aber ob er es auch noch so gern sucht, er vermag es um deswillen nicht, wenn er nicht selber menschlich gebildet, wenn er nicht selber im höheren Sinn des Wortes Mensch ist. Nur der edle und erhabene Mensch hat wahre Kräfte zu aller Unschuld und Reinheit der Menschenbildung.
Der Traum, in dem der sinnliche, im tierischen Leben oder auch im Zivilisationsverderben gefangene Mensch, Menschenbildung für seine Kinder sucht, dauert nicht lange, er wird ihm bald selber zur Last, so daß er nach wenigen, aber notwendig fehlenden Versuchen zu dem jeweiligen Schlendrians-Urteil hinlenkt: es sei mit der Erziehung und Menschenbildung eben nicht viel anders zu machen, als wirklich geschieht; und damit übergibt er dann seine Kinder den Welteinrichtungen, wie ein Befehlshaber eine belagerte Stadt, die er nicht mehr zu behaupten vermag.
Im Verderben der Welt ist die Menschenbildung nicht bloß die notwendigste, die dringendste, sie ist auch die seltenste und schwierigste Kunst. Ich staune nach ihr hin, ich achte sie selbst als das höchste Gut. Aber wo soll ich sie suchen, wo soll ich sie finden, wo soll ich die erste Spur, die mich auf ihre Wahrheit, auf ihr inneres Wesen hinlenkt, suchen und finden als in mir selbst, als im Menschen selber, wie er getrennt von dem Einfluß des Weltverderbens, in sich selbst, in seiner Unschuld und Reinheit mit lebendigem Gefühl der Wahrheit aller seiner besseren Kräfte dasteht? Wo soll ich sie suchen als im Tun der Mutter, und in aller Kraft und in aller Sorge ihres mütterlichen Sinnes, also in der Reinheit ihrer selbst, insofern sie sich dadurch entschieden von allem Tun weiblicher Wesen, die zwar Mütter, aber nicht Menschen sind, unterscheidet? Ebenso wie im Tun dieser Mutter, werde ich die ersten Spuren der Wahrheit aller Menschenbildung in den Bedürfnissen des Kindes finden, insofern sich dieses von den Bedürfnissen aller kindlichen Wesen, die nicht Menschen sind, unterscheidet. Es ist schön, mit menschlichem Auge in die Werkstätte der Natur hinzublicken, aber schöner und menschlich erhebender ist kein Hinblick in ihr Heiligtum als derjenige in die Erscheinung der Menschennatur, insofern sie sich im Tun der Mutter gegen ihren Säugling menschlich ausspricht und aussprechen muß. Blick auf sie hin, Menschenfreund, aber fasse sie nicht einzeln ins Auge, wirf einen Blick auf alle mütterlichen Wesen hin, die nicht Menschen sind, und auf die Geschöpfe alle, die ihre Kinder, aber nicht Menschen sind!
Jede tierische Mutter, ob sie für sich als Tier auch noch so schlecht ist, will ihrem Kinde alles geben und alles sein, was sie ist, was sie bedarf, und selber, was sie gelüstet, ihren Tiersinn, ihren Tierfraß und ihre Tierkraft. Sie braucht hierzu auch keine Kunst und keine Mühe. Ihr Kind ist fast ohne ihr Zutun zu diesem Fraß, zu diesem Sinn, zu dieser Kraft von selbst reif.
Aber die menschliche Mutter bedarf, um aus ihrem Kinde zu machen, was sie selbst ist, und ihm zu geben, was sie selbst bedarf und gelüstet, große Kunst, große Mühe, und zwar große menschliche Mühe und große menschliche Kunst. Es ist dem menschlichen Geiste fast unbegreiflich, wie das junge Tier so schnell alles werden und alles sein kann, was es sein soll, um so mehr, da die menschliche Entfaltung in dem Grad langsam und von fremder Hilfe, von fremdem Einfluß und von fremder Kunst abhängig, als das Tier davon unabhängig ist.
Physische Erhaltung und physische Selbstbeschützung ist das höchste und erste Ziel der tierischen Entfaltung, und das letzte, wozu der Mensch nach gebildeter und gereifter sittlicher, geistiger und Kunstkraft zu gelangen vermag. Erkennen wir den Unterschied der tierischen und menschlichen Entfaltung in ihrem sich entgegenstehenden Wesen, so ist uns das innere und höchste Geheimnis des Wesens der Menschenbildung aufgeschlossen, und wir sehen den Mittelpunkt des Unterschiedes, um welchen sich beides, die tierische und die menschliche Entfaltung in ewiger Trennung herumtreiben, in unbedingter Klarheit vor unseren Augen.
Aber verlassen wir einmal den Gesichtspunkt der tierischen, und heften uns einen Augenblick auf das Wesen der menschlichen Entfaltung.
Diese ist in ihrer ersten Erscheinung mehr die vegetabilische Entfaltung eines seines Lebens unbewußten Pflanzenkeims als die Entfaltung eines seines tierischen Daseins bewußten lebendigen Wesens. Von diesem Zustand, der wochenlang dauert, geht das Kind durchaus nicht unmittelbar zum Bewußtsein seiner geistigen und physischen Kraft hinüber. Das erste Entfalten seines menschlichen Seins ist die Erscheinung seiner Gemütlichkeit. Diese geht unmittelbar aus der Ruhe und der fast völligen Bewußtlosigkeit seines Seins hervor. In dieser, vor allen anderen Kräften erwachenden Gemütlichkeit des Kindes liegt dann aber auch der heilige Keim der reinen Entfaltung des ganzen Umfangs aller sittlichen, geistigen und physischen Kräfte seiner Natur. Das erste Leben des Säuglings ist durch die heilige Ruhe seiner ersten Tage gleichsam eine geweihte Fortsetzung seines von der äußeren Erscheinung der Welt geschiedenen und sich selbst unbewußten Lebens im Mutterleib; seine Bedeutung als diejenige des Anfangszustandes des ganzen Lebens des Kindes ist unermeßlich.
Der Mensch muß sich nicht tierisch lebendig, er muß sich gemütlich, er muß sich menschlich beruhigt entfalten, und diese Gemütsruhe, und selber ihr sinnlicher Anfangspunkt, das ungestörte Vegetieren in dieser Ruhe ist die erste Grundlage der naturgemäßen progressiven Entfaltung aller unserer Kräfte.
Ich verweile mich etwas auf diesem Punkt. Das Menschenkind vegetiert, ehe sich sein tierisches Leben entfaltet. Das Eigentliche seines sich von allen anderen Geschöpfen unterscheidenden Wesens fordert das Stillstellen seiner tierischen Kraft, damit das Menschliche seines Seins sich von dieser ungestört entfalte. Dadurch wird das Bedürfnis eines mütterlichen Einflusses, einer mütterlichen Sorgfalt und einer mütterlichen Kunst auf die Entfaltung der menschlichen Kräfte entschieden, und das Wesen, das eigentlich Unterscheidende dieser Sorgfalt und Kunst, die kein mütterliches Geschöpf der Erde mit der menschlichen Mutter gemein hat, in ihr wahres Licht gesetzt. Wer diesen Unterschied nicht fühlt und die Folgen davon nicht für das ganze menschliche Leben und für die Führung unseres Geschlechts in allen seinen Verhältnissen zu ahnen vermag, der hat die Spur der Natur verloren und sich in den Irrwegen der Unnatur tief verwirrt. Mit welcher Kraft er auch in diesen Irrwegen vorschreite, und zu welcher Höhe er sich auch in den Künsten einer nicht von Ruhe, Liebe und Anmut ausgehenden Bildung unseres Geschlechts erhebe, er ist von der einzigen Bahn der Entfaltung der reinen Menschlichkeit gewichen und wird sie auf den Wegen seiner Kunst durch keine Betriebsamkeit wieder finden. Ich stehe noch einmal bei dem Anfangspunkte des sich entfaltenden Lebens des menschlichen Kindes still. Ich sehe lange, lange keine tierische Kraftäußerung in ihm, und auch nicht einmal ein lebendiges Streben danach, ich sehe keine Spur des Gewaltsinnes, der alle tierische Jugend zur schnellen Entfaltung ihrer Kräfte hintreibt. Im Gegenteil, das erste Zeichen des inneren Lebens des Kindes ist sein himmlisches Lächeln, es ist die erste Regung eines über allen Tiersinn erhabenen und ihm ganz entgegenstehenden menschlichen Sinnes, es ist der Ausdruck des Frohsinns der inneren Befriedigung der menschlichen Erheiterung des Gemüts durch den Genuß der menschlichen Sorgfalt und Liebe, es ist die erste Spur der im Kinde entkeimenden Erkenntnis der Liebe. Dieses Lächeln geht dann bald in Anmut und in ein allgemeines liebliches Wesen hinüber.
Aus diesem entfaltet sich dann bald die Liebe zur Mutter und diese wird schnell eine anhaltende, eine ungetrennte, eine vollendete Liebe; und hier liegt wieder eine hohe Spur des erhabenen Ganges der Natur, die sich in jedem ihrer Schritte vollendet. Der erste Grad der sinnlichen Liebe ist im Säugling vollkommen; er mag an Alter und Kräften zunehmen, wie er will, er kann seine Mutter sinnlich nicht mehr, nicht inniger lieben, als er sie auf ihrem Schoße in der Unmündigkeit liebt. Seine Liebe auf ihrem Schoße ist eine vollkommne Liebe; wie sollte sie es nicht sein? Er lebt in ihr, er lebt durch sie, sie ist ihm über alles; seine Liebe ist Glaube, sie ist erheiternder, sie ist befriedigender Glaube an ihre Vorsorge. Durch diesen Glauben hebt sich im Kinde das Gefühl seiner Unbehilflichkeit von selbst auf, die Kraft der Mutter ist seine Kraft. Es weiß nicht, daß es keine eigene hat, und ahnt nicht, daß es einer bedürfe, es lebt in seiner Unbehilflichkeit im Glauben und Liebe, und kennt kein Bedürfnis der Kraft, keine Gierigkeit, kein Streben nach einer solchen; so groß ist der Unterschied in der Richtung der Triebe zwischen dem menschlichen Säugling und dem tierischen. Dieser letzte lebt von der Stunde seiner Geburt an in sich selber im Gefühl seiner Kraft, er lebt durchaus nicht wie der menschliche in der Kraft der Mutter und durch sie, er lebt durchaus nicht im Glauben an sie, sondern in einer von der Stunde seiner Geburt sich äußernden lebendigen Gierigkeit nach dem Gebrauch seiner eigenen Kraft.
Daß doch unser Geschlecht diesen Unterschied in seiner ganzen Bedeutung erkennen und in der Erziehung seiner Kinder der Entfaltung des Menschlichen, das in seiner Natur liegt, derjenigen des tierischen in dem Grad den Vorzug geben möchte, den die Natur ihm selber gegeben. Daß doch unser Geschlecht die Stimme der Schöpfung, die die Stimme Gottes ist, hierin erkennen und tief fühlen lernte, daß, wenn der tierische Säugling innert Jahres Frist in allen seinen Kräften gereift ist, und der Mensch hingegen so langsam zur Reifung seiner physischen und tierischen Kraft gelangt, diese Zurücksetzung seiner tierischen Kraft hinter die menschliche nur darum stattfindet, daß er durch den einfachen natürlichen Gang der Entfaltung seiner Kräfte gleichsam von selbst zur Überzeugung gelange, daß seine tierische sinnliche Kraft nicht die wesentliche seiner Natur ist, daß er vielmehr bestimmt ist, gegen dieselbe Herr über sich selbst zu werden, gegen alle Gewalt seiner tierischen Gelüste und gegen alle Macht seiner, durch das menschliche und bürgerliche Verderben tierisch auf ihn wirkenden Umgebungen. Dieses Ziel, die Ansprüche unserer tierischen Natur dem höheren menschlichen Willen unseres Geistes und unseres Herzens zu unterwerfen, ist desnahen offenbar der Mittelpunkt und das Wesen der Sorge und der Kunst der menschlichen Erziehung, und das erste einzige, was darin nottut; ebenso wie es das Wesen alles höheren und tiefer greifenden Einflusses auf die Sicherstellung der Menschlichkeit oder des reinen menschlichen Sinnes in allen möglichen Verhältnissen unseres Geschlechts ist. Wende dein Auge nicht leicht von diesem Ziel weg, fasse es in seinen Ursachen und Folgen so bedeutend und so ernsthaft auf, als es dieses verdient! So wie sich die menschliche Kraft im Glauben und durch denselben entfaltet, also entfaltet sich die höchste Kraft der sinnlichen Natur im Tier durch Mißtrauen und durch eben die Stimmung, aus der alles Denken, Fühlen und Tun der Schwäche unseres Geschlechts und des in der Kraft seiner Menschennatur entnervten und verdorbenen Mannes hervorgeht.
Offenbar ist die Basis der menschlichen Entfaltung und die Quelle, woraus alle menschliche Kraft hervorgeht, Unschuld, Liebe und Glauben, und hinwieder die Basis der tierischen, und die Quelle, woraus aller Trieb derselben und zu derselben hervorgeht, ein mit der Unschuld, dem Glauben und der Liebe unvereinbares Mißtrauen unseres tierischen Verderbens. Die menschliche Kraft entfaltet sich im Kinde gleichsam durch das Verschwinden des Bewußtseins seiner Kraftlosigkeit im Glauben an die Mutter, die tierische hingegen durch das rege Bewußtsein seiner eigenen sinnlichen Kraft in Mißtrauen und Lieblosigkeit. Die menschliche Kraft entfaltet sich aus der Menschlichkeit selber, die tierische hingegen aus dem Wesen des tierischen Sinnes in uns durch Belebung von Kräften, die neben dem belebten inneren Wesen der Menschlichkeit nicht bestehen können; sie entfaltet sich aus dem Mangel an Menschlichkeit und an menschlichem Glauben selber.
Welch ein hohes Geheimnis liegt in dieser ersten Quelle der menschlichen Entfaltung! Ich verfolge sie. Ich fasse das menschliche Kind in Verbindung mit der menschlichen Mutter ins Auge. Ich erblicke zuerst die hohe, erhabene Übereinstimmung ihrer mütterlichen Kraft, ihres mütterlichen Willens und ihrer mütterlichen Mittel mit dem sie menschlich ansprechenden Bedürfnis des Säuglings.
Die Mutter liegt in den ersten Tagen ihrer Entbindung, gleichsam in heiliger Weihe für die Unbehilflichkeit ihres Erzeugten sich selber vergessend und allen ihren Verhältnissen entrissen, nur für ihr Kind da. Die Ruhe, die Befriedigung ihres Säuglings ist in der ganzen Dauer seiner Unbehilflichkeit ihr über alles, ihre eigene Kraft ist ihr nichts, sie hat für sie keinen Wert, als insofern sie ihren Säugling in dieser Unbehilflichkeit befriedigt und seine Ruhe sichert.
Freund der Menschheit, wirf einen Blick auf die Höhe der Kraft, zu welcher sie dieses innerlich in ihr so belebte Streben erhebt! Des Säuglings leisester Laut erweckt sie in dem härtesten Schlaf, sie wacht Nächte durch und ist am Morgen nach der durchgewachten Nacht heiter wie nach dem süßesten Schlafe, weil sie in der Liebe gewacht hat. Das Erschöpfende des Lebens erschöpft sie nicht, weil sie liebt. Sie sehnt sich nicht los zu werden der mütterlichen Sorgen, der mütterlichen Lasten, ob diese gleich bis ans Ende des mütterlichen Einflusses gehen und lange dauern. Das Schwerste dieser Lasten fällt freilich in die Zeit der größten Unbehilflichkeit des Kindes, und auch diese dauert lange.
So wie die physische Kraft des Kindes sich erst lebendig und nach selbständigem Gebrauch strebend erzeigt, wenn dasselbe zu einem merklichen Grad der Geistes- und Herzensbildung gelangt ist, also dauert das Bedürfnis der Unbehilflichkeit desselben und mit ihm der Anspruch an die anhaltende Sorge der Mutter für dasselbe ebenso lange, bis nämlich die Mittel der Selbsthilfe beim Säugling durch das Wachstum seiner Kraft und seiner Erfahrung eine Stärke gewonnen, daß die Neigung zur Selbsthilfe rein menschlich und auf keine Weise tierisch gewaltsam aus ihm hervorbricht. Darum ist es, daß die Vorsehung den mütterlichen Willen und die mütterliche Kraft für die mütterliche Sorge so tief in die menschliche Natur gelegt hat, daß das Weib eigentlich aufhört, Mutter zu sein, sobald dieser Wille, diese Kraft und diese Treue dahin ist; daß es eigentlich aufhört, Mutter zu sein, wenn der Wille, die Lasten der Unbehilflichkeit ihres Säuglings zu tragen, in ihr dafür ist. Daher ist ebenso gewiß:
keine Mutter, kein Weib, das noch Mutter ist, sehnt sich zu früh, los zu werden der mütterlichen Sorgen und der mütterlichen Lasten. Keine sehnt sich zu frühe nach dem Wachstum der physischen Kraft ihres Kindes, keine sehnt sich nach der schnellen Entfaltung irgendeiner Kraft desselben, die es mit den Tieren des Feldes gemein hat. Nein, nein, jedes Weib, das wahrhaft Mutter ist, sehnt sich vorzüglich und überwiegend nach der Entfaltung der Menschlichkeit ihres Kindes. Jedes Weib, das Mutter ist, sehnt sich mit inniger Lebendigkeit nach den ersten Spuren seines inneren menschlichen Seins. Freund der Menschheit, siehe, wie sie, die Mutter, auf sein erstes Lächeln lauert, wie sie göttlich froh ist bei seiner ersten Erscheinung, wie sie alles tut, seine Wiederholung zu erkünsteln und zu erzwingen, wie sie ihm lächelt und wiederlächelt, wie sie lieblich und anmutsvoll ist, damit es auch lieblich und anmutsvoll werde. Siehe, Freund der Menschheit, mit welcher Ausharrung sie die Sicherstellung dieser Ruhe und die Entfaltung der Anmut ihres Kindes fördert; siehe mehr, siehe, wieweit diese Sorgfalt auf den ganzen Umfang der Entfaltung seiner menschlichen Kräfte einwirkt, wie sich in dieser Ruhe das menschliche Denken des Kindes, seine menschliche Denkkraft und in der Liebe, die diese Ruhe erzeugt, sein menschliches Tun, seine menschliche Tatkraft entfaltet, wie wenn diese Tatkraft an der Seite der Mutter das wirkliche Leben in Unschuld, Wahrheit und Treu entfaltet und bildet, wie das Leben in Unschuld, Wahrheit und Treue, das Bewußtsein des Unrechts des Lebens in Untreue, Täuschung, Lügen und eitlem Schein entfaltet, wie das Bewußtsein dieses Unrechts die heilige Scheu und Scham vor dem Bösen erzeugt, wie Scheu und Scham vor dem Bösen durch ihre Dauer an der Seite der Mutter in ihm in Selbstüberwindung, in Sittlichkeitsfertigkeiten hinübergeht, und wie sich denn diese höhere Kraft der Menschennatur in ihrem ersten sinnlichen Gewand mit lieblich erhebendem Reiz in ihm entfaltet und bildet; wie also der ganze Umfang der menschlichen Kräfte und Anlagen aus dieser Ruhe und aus dieser Anmut hervorgeht, und gleichsam als ein allgemeines Resultat der mütterlichen Sorgfalt und des reinen ersten Lebens im Heiligtum der Wohnstube erscheint.
Die Anerkennung des wesentlichen Bedürfnisses dieser Ruhe und ihrer Dauer ist also dem Menschengeschlecht von der äußersten Wichtigkeit, auch erkennt es die Heiligkeit dieses Bedürfnisses in seinem Ursprunge allgemein. Diese Anerkennung spricht sich indessen besonders in Rücksicht auf den ersten Zeitpunkt des kindlichen Lebens in nichts Äußerlichem so bestimmt aus als darin, daß die Gebärerin in unserer deutschen Sprache eine Sechswöchnerin heißt. Sie ist dieses durchaus nicht um ihrer selbst, sondern um ihres Säuglings willen, damit die heilige Ruhe, aus welcher die Reinheit der Entfaltung alles wesentlich Menschlichen unserer Natur allein hervorgeht, in dem ersten bedeutendsten Punkt des menschlichen Daseins vollkommen gesichert sei. Das Gesetz dieser Tage liegt tief im Inneren der Menschennatur; der arme Mann, der das Jahr durch wenig Brot und wenig Ruhe hat, sucht beides für seine Sechswöchnerin, daß ihr Säugling in den ersten Tagen seines Daseins Ruhe finde und nicht tierisch gereizt, unruhig werde und die erste Basis seiner menschlichen Entfaltung verliere, ehe noch eine Spur dieser wirklichen Entfaltung in seinem Auge und auf seinen Lippen erscheint. Armer menschlicher Mann, der du also für das Brot und die Ruhe deiner Sechswöchnerin sorgst, du weißt oft selbst nicht, was deine Tugend diesfalls für sie tut, und wie wichtig dieser Dienst für die Entfaltung der Menschlichkeit deines Kindes ist. Du machst dadurch seine Mutter in den ersten Tagen seines Bedürfnisses stark zum großen Dienst der Muttersorgen, durch die die heilige Ruhe, die nicht bloß das unmündige Kind, sondern das ganze erste kindliche Alter fordert, ihm durch sie gesichert werde. Es ist dringend, die Mutter muß für ihr Kind innerlich beruhigt, sie muß für dasselbe anmuts- und liebevoll werden, wenn sie im Umfang ihrer Verhältnisse zu ihm menschlich mütterlich handeln und aller Muttersorge und aller Muttertreue fähig sein soll, die ihre Pflicht ist.
Diese Anfangspunkte und Elemente der menschlichen Bildung umfassen, wenn auch schon nur in ihrem Keime, das Ganze der in unserem Geschlecht zu entfaltenden menschlichen Kräfte. Jede, diesen Gang der Natur und seine Harmonie störende, gereizte sinnliche Gierigkeit, jedes Vorstreben irgendeiner sinnlichen Kraftäußerung vor ihrer menschlichen Begründung ist wider die Menschennatur und wider das Wesen ihrer Bedürfnisse und Ansprüche. Sie lenkt uns, beim ersten Eintreten in die reine Bahn der menschlichen Entfaltung durch Glauben und Liebe, auf die Abwege des Unglaubens, der Lieblosigkeit und ihrer Quelle des sinnlichen Tiersinns und seiner unausweichlichen Folge, der allgemeinen Abschwächung der höheren, edleren Anlagen unserer Natur hin. Indessen ist und bleibt der Weg zur Vollendung der Kräfte unserer Natur durch die Glaubensruhe der einzige wahre Weg der Entfaltung der Menschlichkeit. Auf ihm allein kommt der Mensch dahin, das Vorherrschende seines tierischen Sinns in sich selber zu besiegen, und das Reinmenschliche in sich selber herrschend zu machen.
Freund der Menschheit, fasse diesen Gang der Natur noch einmal, fasse ihn in seiner tiefsten Bedeutung ins Auge, und erhebe dich zum höheren Ahnen seiner heiligen göttlichen Folgen! Siehe, wie sich aus der Liebe zur Mutter auf dieser Bahn die Liebe zu Gott aus dem Vertrauen auf die Mutter das Vertrauen auf Gott, aus dem Glauben an die Mutter der Glaube an Gott einfach und lieblich entfaltet, wie sich die menschliche Ruhe in den Armen der Mutter im Kind zur himmlischen Ruhe in Gottes Armen erhebt! Siehe, Freund der Menschheit, wie auf diesem Wege die Entfaltung der menschlichen Kraft eine allgemeine heilige göttliche Entfaltung der Menschennatur wird, wie auf dieser vom reinen Herzen ausgehenden Bahn dann auch die Kraft des menschlichen Geistes und der menschlichen Kunst eine höhere, eine heiligere Kraft, eine höhere, eine heiligere Kunst wird! Siehe noch mehr, siehe, wie das Bewußtsein des Unrechts auf dieser Bahn beim Kind in eine heilige Kraft gegen dasselbe, wie die Scheu und Scham vor der Mutter in Scheu und Scham vor dem Angesicht Gottes, in Gottesfurcht hinübergeht; wie das leichte sinnliche Gewand der an der Seite der Mutter sich entfaltenden Sittlichkeit sich in die reine hohe Kraft derselben umwandelt! Und nun, am Ziel der höchsten inneren Veredelung blicke hinunter auf das irdische Leben des Kindes, und fasse den Einfluß dieses hohen Ganges der Entfaltung seiner Kraft auf die Veredelung und Beseligung dieses seines äußeren Seins ins Auge! Siehe besonders, wie dem Kinde durch diesen Gang des Lebens Anhänglichkeit an seine Verhältnisse und an seinen Stand kraftvoll eingeübt und der erste Keim des heiligen Heimwehs in dasselbe gelegt wird, indem alle seine Kräfte, Anlagen und Neigungen im Zusammenhang mit diesen Verhältnissen belebt und entfaltet werden! Sein Verstand wird auf dieser Bahn gleichsam als der Verstand seines Standes, sein Herz als das Herz seines Standes, seine Tätigkeit und seine Kunst als die Tätigkeit und Kunst seines Standes belebt und ergriffen. Sein ganzes Sein ist auf derselben ein verständiges, liebevolles und kraftvolles Eingreifen des wirklichen Lebens in seinem Stand und des Genusses einer allgemeinen Bildung für denselben, ohne daß es gefahret, in seiner Lage durch fremde sinnliche Reize von der Bahn des Lebens, die von Gottes, von der Wahrheit und des Rechts wegen die seinige und desnahen für ihn die einzige ist, abgelenkt zu werden.
So im Inneren für die Wahrheit und Reinheit seiner Veredelung kraftvoll gebildet, und für seine äußeren Verhältnisse in Unschuld und Liebe mit sich selbst in Harmonie gebracht, geht dann das auf dieser Bahn geführte Kind aus der heiligen Wohnstube in die Welt, in die Schule der Welt hinüber, aber nicht aus der Wohnstubenbarbarei, in der das verwahrloste Kind, in Unkunde der Menschennatur, unerhoben von den menschlichen Verhältnissen, ungebildet für alle Kraft der Menschlichkeit, verwahrloset, hintangesetzt ohne Genuß der Muttersorge, der Vatertreue, der Bruderliebe, ohne Gotteserkenntnis, ohne Gottesglauben, ohne Jesum Christum zu erkennen, gelebt oder vielmehr geserbt hat. Nein, es geht in Unschuld, aber auch göttlich und menschlich gebildet und gestärkt und in sich selbst bereitet, sein Heil, beides mit Vertrauen auf alles Gute, aber auch mit Furcht und Zittern vor allem Bösen zu suchen und, erhoben über Zeit und Welt, den Schein jeder bloß sinnlichen Vollendung verachtend, dahin strebend, vollkommen zu werden, wie sein Vater im Himmel vollkommen ist, aus der Wohnstube in die Welt, in die Schule der Welt hinüber.
Freund der Menschheit, siehe dich um und forsche, ob sich unser Geschlecht anders über sein sinnliches Verderben zur reinen Sittlichkeit erhebe; ob die höheren Kräfte unseres Geschlechts, die Kräfte unseres Geistes, unseres Herzens und unserer Kunst, anders als auf dieser Bahn sich allgemein menschlich entfalten; und ob der Mensch beim Mangel des Betretens dieser Bahn nicht allgemein und unausweichlich auf die ihr entgegengesetzte hinlenke, und allem Herzens-, Kraft- und Kunstverderben derselben Tür und Tor öffnen müsse! Alles, alles, was diese Bahn in ihrer Reinheit und Unschuld, in ihrer Kraft und in ihrer Höhe schwächt, verwirrt und ihre Sicherheit untergräbt, steht dem Erfolg der Menschenveredelung gradezu entgegen und ist mit dem Wohl des Menschengeschlechts und seiner ersten Fundamente im vollen Widerspruch. Dieses ist nicht nur vom offnen Laster, es ist nicht nur vom Leben in Unsittlichkeit und innerem Herzensverderbnis wahr, es ist auch von den Folgen des Zivilisationsverderbens, in dem der Mensch durch Gewohnheitsansichten und Fertigkeiten gleichsam aus dieser Bahn, der göttlichen, einzigen, herausfällt, und soviel als in der Unschuld vom Strom des Weltlebens hingerissen, darin fortschwimmt, ohne die Abgründe zu ahnen, in welche er endlich versinkt. Es ist desnahen von der äußersten Wichtigkeit, daß der Mann, der die reine Entfaltung des Menschengeschlechts und eine darauf zu gründende Volks- und Nationalkultur wünscht, sich über den Geist der Zivilisation, ihrer Tendenz und das Wesen ihres Geistes und ihrer Schranken nicht täusche, daß er das Bedürfnis der Erhebung seines Geschlechts über ihre Schranken richtig erkenne und tief fühle. Ohne das findet unser Geschlecht die reine, einzige Bahn der Bildung zur Menschlichkeit, im wirklichen Leben sich weder im Umfang irgendeines Staats-, noch Privatverhältnisses geöffnet, und der Name Volksbildung und Nationalkultur ist dann ein täuschender Traum, der in der Wahrheit nicht besteht. Die Bemühungen dazu sind unter diesen Umständen denjenigen eines Toren gleich, der, wenn er seinen Acker ungebaut verwildert liegen läßt, dennoch glaubt, wenn er einige Körner guten Samens auf ihn hinwerfe, so werde er doch eine gute Ernte machen. Seine Hoffnung ist eitel. Volkskultur und Volksbildung sind bei der Hintansetzung und Verwahrlosung des Volkes, sie sind beim Mangel der naturgemäßen Entfaltung unserer Kräfte und beim Abweichen von der einzigen ewigen Bahn der wahren Entfaltung derselben ein Traum, und das Menschengeschlecht muß bei ihrem Mangel zu allen Zeiten und unter allen Umständen der Zivilisationseinseitigkeit ihrer Beschränkung und ihrem Verderben unterliegen; und wenn je ein Zeitpunkt in der Welt war, in welchem diese Gefahr dem Menschengeschlecht im Großen vor Augen gestellt war, so ist's derjenige, in die unsere Lebensperiode gefallen. Oder sollten wir uns hierüber noch trügen, könnten wir die großen Begegnisse unserer Tage bei uns vorübergehen gesehen haben, ohne den Geist derselben und die Quellen zu erkennen, aus denen sie alle hervorgegangen?
Können wir uns verhehlen, daß die Menschenleiden so vieler Jahre und so vieler Staaten das höchste Zivilisationsverderben in seinen verschiedenen Formen und Gestalten zu seiner Quelle und zu seiner Ursache hatten? Können wir die verschiedenen Formen dieses Verderbens, wie wir sie in einem unglaublich kurzen Zeitpunkt nicht bloß vor uns vorübergehen, sondern eigentlich über uns herfallen und uns beinahe ganz zerdrücken gesehen, schon vergessen haben?
Was hindert mich, dieser vielleicht künstlichen Vergeßlichkeit zur Hilfe zu kommen und die verschiedenen Arten der Erscheinung des Zivilisationsverderbens an den Fingern herzuzählen? Erstlich diejenige der äußersten Abschwächung aller Staats- und Nationalselbständigkeit. Zweitens die durch diese äußerste Nationalabschwächung allein möglich gemachte sanskulottische Völkerempörung. Drittens diejenige des durch eben diese Ursachen allein möglich gemachten Übergangs von dem Zustand der sanskulottischen Barbarei zu einer Regierungsbarbarei und zu einer bis zur Ausrottung der Menschenstämme selber hinlenkenden raffinierten Kunsttyrannei. Was hindert mich selber noch die Frage hinzusetzen: Sind wir nicht gegenwärtig gleichsam nur im Schrecken über diese dreifachen Formen und Gestalten unserer Übel und gleichsam nur flüchtend vor ihnen zu den Grundsätzen der Menschlichkeit, des bürgerlichen Rechts und der Großmut hinübergegangen, oder kann man wohl in Abrede stellen, daß die verschiedenen Formen, unter denen das Zivilisationsverderben unter uns wühlte, nicht die unwidersprechlichen Ursachen aller der Übel seien, denen unser Weltteil in diesem Zeitalter unterlag? Können wir in Zweifel ziehen, daß die höchste Erschlaffungsepoche, die dem Geist der Revolution vorhergegangen, nicht eine Folge des durch Menschenalter eingewurzelten und verhärteten Zivilisationsverderben gewesen? Können wir ferner in Abrede stellen, daß der sanskulottische Versuch, sich aus dem unerträglichen Zustand dieser an Zernichtung aller Staatskraft und bürgerlichen Selbständigkeit grenzenden Staatenabschwächung zur Erneuerung der Staatskräfte und der bürgerlichen Selbständigkeit zu erheben, aus dem tief eingewurzelten Verderben einer unbegründeten kulturlosen Zivilisation entsprungen, und ebenso, daß die Gewaltsepoche, die unsere sanskulottische Verwilderung und Gesetzlosigkeit in eine tyrannische und die Greuel der höchsten Volksunmenschlichkeit in diejenigen der höchsten Regierungsunmenschlichkeit umschaffte, nur darum möglich gewesen, weil sie eben wie die vorhergehende Epoche aus dem nämlichen Verderben hervorging? Können wir uns endlich verhehlen, daß wir selber in der freundlichen Näherungsepoche zum Recht und zur Großmut, in die wir aber, wie ein aus einer schweren Krankheit heraustretender Rekonvaleszent, nur mit schwachen Füßen hinübergegangen, auch heute noch, und zwar mehr als tausende denken, gefahren, wieder in die Übel des Zivilisationsverderbens zu versinken, aus dem wir so eben entronnen?
In welcher Form und Gestalt dies geschehe, ist eigentlich das, was hierin am wenigsten bedeutet; das, was hierin allein wesentlich ist, ist, daß wir nicht wieder darein versinken. Denn was hilft's im Grunde, daß wir den höchsten und selber den unerhörtesten Fieberacceß der Zivilisationsgewalttätigkeit überstanden, wenn wir uns eingestehen müssen, daß wir die Ursachen, welche uns diesen Acceß zugezogen haben, in uns selber erhalten, und daß die nämlichen Ursachen früher oder später die nämlichen Wirkungen hervorbringen werden? Was hilft es uns, wenn die Art der Krankheit und ihre äußere Erscheinung sich geändert, und einen minder grellen Charakter angenommen, wenn das Gift derselben fortdauernd in unseren Adern wallt? Denn gesetzt, wir können auch mit Sicherheit annehmen, für einmal weder sanskulottische Volksexzesse noch schreiende Regierungsexzesse zu gefahren, weil uns der Moderantismus, der an der Tagesordnung ist, vor diesen beiden Übeln mit Sicherheit bewahrt, so gefahren wir hingegen ebenso gewiß, daß dieses Mittel leicht seine innere Wahrheit verliere, und in einen bloßen Scheinmoderantismus hinübergeht, hinter welchem die Quellen der höchsten Zivilisationsgewalttätigkeiten wieder hervorzubrechen nur auf gute Gelegenheit lauern werden. Wir gefahren sogar schon gegenwärtig, durch die Erscheinung unseres schon jetzt mehr als zweideutigen Moderantismus, mit schnellen Schritten der Staatserlahmung wieder entgegenzugehen, die den Exzessen der sanskulottischen und dynastischen Gewalttätigkeiten immer vorhergegangen, und durch unpassende Festhaltung des veralteten Routinegangs und aller seiner Elendigkeiten, die wesentlichen Ursachen aller der Übel wieder zu erneuern, deren grellste Erscheinung wir eben überstanden haben. Es ist traurig, aber die neusten Begegnisse machen, daß ich es für mehr als möglich achte, daß wir den Zirkel unseres bürgerlichen Verderbens nochmals durchlaufen, und indem wir die Früchte unserer Anstrengungen gedankenlos einernten, und ein jeder den Zusammenhang seine Individual- und Personallebensgenießungen mit der Menschennatur und den aus dem Heiligtum ihres ewigen Rechts herfließenden Ansprüchen aller Individuen unseres Geschlechts auf ein menschlich befriedigendes Dasein aus den Augen setzen, in dieser bösen Vergeßlosigkeit wieder gewaltsam zu den in jedem Fall sanskulottischen Gelüsten hinlenken, den tierischen Ansprüchen unserer Natur selber in bürgerlich-rechtlichen Formen ein entscheidendes Übergewicht über die höheren und edleren Kräfte ihres göttlichen Wesens einzuräumen, und diese Kräfte in der großen Mehrheit des Volkes, wo nicht allgemein gering zu achten, doch im allgemeinen ohne Wartung, Pflege und Sorge in sich selbst zugrunde gehen zu lassen, und die reinen heiligen Ansprüche der Menschennatur mit Leichtsinn und in Rücksicht auf das Ganze und Große der Staatsangelegenheiten als eine Nebenangelegenheit zu behandeln. Diese Leichtfertigkeit aber kann ganz gewiß den Zustand der europäischen Menschheit zur eigentlichen Auflösung aller zarten und reinen Gefühle der menschlichen Vereinigung aller Staatsbürger hinführen. Wir denken es uns aber nicht, was die Menschheit gefahret, wenn das Gefühl von dem Wort:
"Heilig, heilig ist das Band, das die Menschen bindet, ist geknüpft von dessen Hand, der die Welt gegründet", im Inneren des Herzens gesellschaftlich vereinigter Menschen ausgelöscht ist. Wir denken es nicht, daß das Auslöschen dieses Gefühls die europäische Menschheit dahin bringen kann, den teuer erworbenen besseren Gehalt unserer Rechtsbegriffe wieder zu verlieren, ihnen schiefe Anmaßungen, Zweideutigkeiten, Kabalen und Niederträchtigkeiten, mit einem Wort den ganzen Apparat des bürgerlich geformten Tiersinns unserer sinnlichen Natur zu substituieren, wodurch denn auf der einen Seite die rasenden Neigungen zu Gewalttätigkeiten beim noch jetzt unerhobenen und ungeänderten Volkshaufen wieder erwachen und an die Tagesordnung gelangen, und auf der anderen sinnlose und taktlos selbstsüchtige Possidenti, von dieser Gefahr aufgeschreckt, sich nicht mehr anders zu helfen wissen möchten, als mit dem Namen Jakobiner und Jakobinerklubs herumzuwerfen, nicht nur, wenn irgend etwa ein Unrecht leidender gemeiner Mann, der von einem böswilligen niederträchtigen Oberen gekränkt und übel behandelt worden, es wagt, ein festes und lautes Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, sondern sogar auch in dem Fall, wenn ein Menschenfreund zugunsten des in jeder Landesverwirrung am meisten leidenden Volks- und Mittelstandes der heiligen Menschenrechte auch nur mit einem einzigen Wort gedenken, oder sonst auf irgendeine Art das böse Geschwür ihrer kleinlichen Selbstsucht auch nur mit einem Finger berühren möchte; denn wir dürfen uns nicht verhehlen, daß dieses böse Geschwür bei jedem gereizten Zivilisationsverderben beim Besitzstand ebenso giftig und brennend wird als beim eigentumslosen Mann.
Wir sind gewarnt! Wir sind gewarnt, wie die Menschheit selten gewarnt worden ist. Tausend blutende Wunden rufen uns auf eine Weise zu, wie sie in Reihen von Jahrhunderten der Welt nie zugerufen haben. Es ist dringend, daß wir uns einmal über die Quelle der bürgerlichen und gesellschaftlichen Verirrungen, aus denen die Gesamtheit der dreifach hintereinander zurückgelegten Epochen der verschiedenartigen Zivilisationsverirrungen hervorgegangen, erheben, und einmal in der Veredelung unserer Natur selber die Mittel gegen alle die Leiden und alles das Elend suchen, gegen die wir die Edlen unter den Höheren und Niederen, unter den Eigentümern und unter den Eigentumslosen gemeinsam nicht als erschrockene Schwächlinge, sondern als Männer auftreten sollten, die ihre Nachwelt, ihre Kinder und das Menschengeschlecht mit Ernst und Würde fest ins Auge fassen, und ihm mit männlichem Mut und mit der Überzeugung entgegenwirken, daß die Leiden, denen wir ausgesetzt waren, so wenig überstanden sind als die Irrtümer und Schwächen, durch die wir sie uns zugezogen haben; und daß hingegen die Stunde wirklich da ist, in der wir mit Kraft ihren Quellen entgegenzuwirken hoffen können. Das ist in jedem Fall gewiß, unsere Leiden, unsere Übel sind noch nicht überstanden, unsere Wunden bluten noch und rufen uns laut, sie rufen es auf eine Weise, wie sie es der Menschheit Jahrhunderte nicht zugerufen haben: Laßt uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können, und nicht durch Unmenschlichkeit zur Unfähigkeit des Bürgersinns und durch Unfähigkeit zum Bürgersinn zur Auflösung aller Staatskraft, in welcher Form es auch immer geschehe, versinken!
Indem ich aber das Wort ausspreche: "Laßt uns Menschen werden!", weiß ich gar wohl, unser an allem Edlen, Guten und Großen mehr als zweifelndes Geschlecht wird mir dieses Wort mit dem Spottwort zurückgeben: "Das ist eben die Kunst; aber diese Kunst ist noch nicht erfunden, und das Geschwätz von ihr hat sich noch nie praktisch erwahret." Ich möchte dem ungläubigen Geschlecht antworten: "Hebe dich hinter mich, Satan, denn du bist mir ein Ärgernis!", und den Menschenfreund, dem diese Äußerung zu hart scheint, bitten: Fasse es zu Herzen, und siehe, ob es nicht im höchsten Grad ein Ärgernis ist, zu welchem Grad der Unglaube der Zeit gegen alles Gute und Edle sich erhoben. Die Frechheit desselben hat es dahin gebracht, daß er sich zu einer eigentlichen Verschwörung ganzer Volkshaufen, und ich möchte fast sagen, ganzer Staaten gegen alles Edle, Hohe und Reine in unserer Natur erhoben! Ob sich diese Frechheit mit der stillen Sorgfalt eines zivilisierten Weltmannes oder in ungebildeter Rohheit laut ausspreche, das ist gleichviel, sie streitet in ihrem Wesen gegen die höchsten Interessen der Menschennatur. Die Kunst, Mensch zu sein, Mensch zu werden und Mensch zu bleiben, die Kunst, den Menschen menschlich zu machen, so gut als diejenige, ihn menschlich zu halten, diese Kunst, die du leugnest, unsinnig verkehrtes Geschlecht! und als nicht erfunden verhöhnest, ist gottlob nicht zu erfinden. Sie ist da, sie war da, sie wird ewig da sein. Ihre Grundsätze liegen unauslöschlich und unerschütterlich in der Menschennatur selber. Sie sprechen sich in den Gesetzgebungen und Einrichtungen der Vorwelt, in allen Epochen der Geschichte, die sich als unverschroben, als unverkünstelt, als kraftvoll, als menschlich auszeichnen, in Erfahrungen und Tatsachen entscheidend aus. In der Religion sind sie von den ersten Urkunden des menschlichen Glaubens an Gott an bis auf die höchste Veredelung desselben durch Jesum Christum als das Gesetz Gottes geoffenbart und haben sich in allen Epochen des Christentums, die einen wirklich religiösen Geist an sich trugen, als praktisch ausführbar, und als Grundsätze des von Gott befohlenen Pflichtlebens, des eigentlich göttlichen, des wahrhaft naturgemäßen menschlichen Lebens unseres Geschlechts erwiesen. Aber die Verschrobenheit des Zeitgeistes und seine mit sich selbst im Widerspruch stehende, tief verhärtete und verwirrte Selbstsucht, dieses schreckliche Resultat des schnellen gewaltsamen Wechsels des verschiedenartigsten und grellsten Zivilisationsverderbens, das bei unserem Denken und in unserer Mitte stattfand, hat uns, es könnte nicht mehr, von den einfachen Ansichten der Menschennatur, des Menschensinns und Bürgersinns abgelenkt, und die Veteranen und Meneurs beides, des tumultuarisch-rohen und des stillen gewaltigen Tierlebens, die jetzt zwar beiderseits für den Augenblick etwas betroffen und verlegen dastehen, aber dabei, ungeändert sich selbst gleich, weniger als jemals weder einen Funken religiösen Sinn, noch einen Tropfen reines Bürgerblut in ihren Adern haben, finden im positiven Zustand der Volksmasse und der öffentlichen Ansichten noch immer genugsam Mittel, uns forthin auf ihren beiderseitigen Wegen wie bisher von den Gesichtspunkten des Glaubens, der Liebe und der Wahrheit allgemein abzulenken, und uns dadurch die Fundamente der religiösen, sittlichen und bürgerlichen Kräfte zu rauben, durch die unser Geschlecht allein vermögend ist, sich über den Tumult leidenschaftlicher Ansprüche und über die Lieblosigkeit gewalttätiger Maßregeln gegen jeden Schwächeren zu überheben.
Der sittliche, geistige und bürgerliche Zustand unseres Zeitvolkes, wie er jetzt als das unwidersprechliche Resultat unseres in so kurzer Zeit dreifach gewechselten Zivilisationsverderbens in unserer Mitte erscheint, kann nicht anders als ein buntes Gemisch sowohl der sich wieder erhobenen Schlendriansschwäche, als der noch nicht erstorbenen sanskulottischen Volkswut und des ebensowenig ganz verschiedenen exzentrischen Despotismus angesehen werden. Wahrlich, neue Staatsgebäude auf die Trümmer dieses bösen Gemisches aufzubauen ist nichts weniger als anlockend. Wir fühlen es - schlafen, und fragen denn so halb im Schlaf, oder wie Leute, die auf der Straße verirrt, hier und da einen Vorbeigehenden, welch einen Weg wir nach der Heimat einschlagen müssen; werden denn von diesen von Pontio zu Pilato gewiesen, und in gegenseitig sich widersprechenden Ansichten wie in ein Labyrinth hinein geführt, aus dessen Irrgängen sich herauszufinden es wahrlich weit mehr braucht als gegenwärtig im allgemeinen an uns ist. Was soll der Menschenfreund, was der Mann, dem das Wohl seines Geschlechts und der Menschenbildung und Volkskultur wahrhaft am Herzen liegt, diesfalls tun? Ich möchte mit dem Dichter antworten:
"Ach, ich bin des Treibens müde. Süße, heilige Natur, Laß mich gehn auf deiner Spur! Führe mich an deiner Hand, Wie ein Kind am Gängelband! Wo kann der Mensch, und ebenso der Staat, wenn er in sich selbst verirrt, Hilfe finden gegen sich selbst; wo kann er Wahrheit und Recht finden gegen seinen Irrtum, gegen sein Unrecht? Wo soll er helfende Mittel finden gegen die Übel, unter denen unser Geschlecht leidet, als im Innersten seiner Natur, in sich selber, wie er getrennt vom Einfluß des Weltverderbens in sich selbst, in seiner Unschuld und Reinheit im lebendigem Gefühl der Wahrheit aller seiner besseren Kräfte dasteht? Und wo soll er die Anfangspunkte dieses einzigen Rettungsmittels unseres Geschlechtes suchen und finden als im Tun der Mutter, insofern dieses gleichsam instinktartig durch Ruhe, Anmut, durch eine sich aufopfernde Hingebung auf die Entfaltung der Menschlichkeit ihres Kindes hin, und hingegen der Entfaltung unruhiger Triebe, anmutsleerer Lebendigkeit und blinder Gewandtheit unserer tierischen Natur entgegenwirkt? So offenbar die allgemeine Quelle des Zivilisationsverderbens in allen seinen Erscheinungen und Formen in dem Übergewicht des Sinnlichen, Tierischen über das Sittliche und Geistige unserer Natur zu suchen ist, so unleugbar ist es, daß die Quelle dieses Verderbens sich schon von der Wiege an wirksam erweist. Wie die Natur im Tier selbst kunstlos durch seine Organisation schnell zur sinnlichen Lebendigkeit seiner Kräfte hinlenkt, so lenkt das Zeitweib, die bloß sinnliche Mutter, die durch das Zivilisationsverderben ihren reinen Natursinn verloren, und sich darin nicht über den sinnlichen Standpunkt zu ihrer Bestimmung zu erheben vermag, mit tierischer Gewaltsamkeit eben dahin, daß ihr Kind gewandt werde, ehe es kraftvoll, listig, ehe es verständig, anmaßlich, ehe es gehorsam, mutwillig, ehe es ruhig ist, kurz, daß das Tierische seiner Kräfte sich schnell und zum Nachteil des Reinen, Edlen und Göttlichen seiner Natur entfalte; wodurch sie denn selbst im Heiligtum der Wohnstube den Urgrund zu allen Maßregeln und Einrichtungen legt, wodurch das Zivilisationsverderben gleichsam als ein Resultat des öffentlichen und allgemeinen Einflusses der gesellschaftlichen Vereinigung auf das Individuum erscheint. Die Mutter, die das Gegenteil von allem diesem begründen und erzielen sollte, wirkt dann der Entfaltung aller Anfangspunkte der Menschlichkeitsbildung selber in diesem Heiligtum, von wo aus sie hervorgehen sollte, geradezu entgegen. Das gierige Streben des tierischen Sinnes der Menschennatur entfaltet sich dann bei ihrem Kind nicht mehr erst beim Eintreten in die Welt; es erwartet in der Wohnstube der sinnlichen Welt-Mutter nicht mehr der reiferen Jahre, um die Unschuld unseres Geschlechts, und die eigentlichen, ursprünglichen Sicherungsmittel unserer Natur gegen unseren tierischen Sinn in dem Kinde zu untergraben. Wie der Satan in das Herz der heiligen Unschuld, also greift das gierige Streben des tierischen Sinnes, dieser schreckliche Keim alles menschlichen Unrechts und aller gesellschaftlichen Gewalttätigkeit in diesem Fall schon in das Heiligtum der Wohnstube selber, um die Unschuld unseres Geschlechtes gegen den Eindruck der heiligen Mutterführung zu überwältigen. Schon in den unmündigen Jahren werden dann im Kinde Gefühle der tierischen Anmaßung, der tierischen Gewaltsamkeit rege gemacht, Betrug und List, wie sie sich im Fuchs entfalten, werden im schnöden Buben belacht, und Affenzierde und Pfauenstolz dem Mädchen zur Natur gemacht, ehe die Zartheit seines entfalteten jungfräulichen Sinnes ihm diese Zierde und diesen Stolz so verächtlich darstellen kann, als die Unschuld und die Unverschrobenheit unseres Geschlechtes sie allgemein fühlt. Ich mag dieses Bild der Wohnstube nicht weiter fortführen; es ist traurig, aber es ist gottlob nicht das Bild der dem Menschengeschlecht von Gott gegebenen Wohnstube, es ist das Bild der Modeschwäche und des naturwidrigen Bontons unseres verirrten Zeitgeistes, es ist das Bild des Resultats des vom Zivilisationsverderben begangenen Raubes an dieser göttlichen Gabe unseres Geschlechtes, an der Wohnstube, und ihrem geheiligten Geiste.
So wie der tierische Zustand des bürgerlichen Lebens ein Resultat dieses Raubes ist, also ist der menschliche Zustand dieses Lebens ein Resultat der reinen Bewahrung dieser göttlichen Gabe. Der Gang der Entfaltung des Menschengeschlechts, der von ihr ausgeht, und durch Glauben, Liebe und Hoffnung unser Geschlecht allgemein veredelt, ist ewig und unveränderlich. Jede Abweichung davon, jede Hinlenkung zu einem von der Reinheit und Unschuld der Wohnstube ablenkenden, und dem stillen, ruhigen, glauben-, liebe- und hoffnungsvollen Gang in der menschlichen Entfaltung entgegenstehenden Spielraum irgendeiner sinnlichen tierischen Kraft, ist gegen das innere heilige Wesen der Menschenbildung, sowie gegen jedes auf die höheren und edleren Grundlagen der Menschennatur zu bauenden Lebens in Wahrheit, Liebe und Treue, und jeder dieses Leben bezweckenden Volks- und Nationalkultur. Wir können und sollen uns indessen nicht verhehlen, daß die Abweichung von diesem Pfade, ob er gleich der einzige wahre Pfad zu einer wahrhaft menschlichen Entfaltung unseres Geschlechts ist, einerseits in der Lebendigkeit unserer sinnlichen Natur, also in uns selber große anziehende Reize findet; ferner, daß diese Reize andererseits im ganzen Umfang unserer Umgebungen durch die allgemeinen Sitten und Lebensweisen der Zeit mit großer Kraft und Kunst unterstützt und belebt werden; daß also dieser höhere Weg der Natur sich nicht von selbst gibt, sondern dem Individuo unseres Geschlechts eigentlich eingeübt und gegeben, daß er durch Erziehung, und besonders durch ihren heiligen Anfangspunkt, durch die Weisheit, Liebe, Anmut und Kunst der Wohnstube angebahnt, eingelenkt, unterstützt und geleitet werden muß. Aber die Welt, wie sie ist, steht dieser reinen Basis des Menschenglücks und der Menschenbildung mit täglich größerer Gewaltsamkeit entgegen; sie nimmt täglich mehr Teil an dem Wohnstubenraub, der wider Gott und die Menschennatur ist, indem er das reine menschliche Gemüt verhärtet, und gegen sein Unrecht und gegen sein menschlichkeits-, lieb- und anmutsloses, tierisch sinnliches Sein und Treiben in allen Privat- und öffentlichen Verhältnissen des Lebens unempfindlich macht.
Ich bleibe aber im Kreis meines Gegenstands. Das Weib der Zeit wird in allen Ständen täglich mit größerer Gewalt und mit mehr raffinierter Kunst aus der Reinheit ihres mütterlichen Seins und ihrer mütterlichen Kraft herausgerissen. Die Einseitigkeit unserer exzentrischen Zivilisation verwirrt sie täglich mehr im Innersten ihrer Natur. Trügende Scheingenießungen eines eitlen, verderblichen Tandes lenken sie immer mehr von den Realgenießungen ihres Muttersinnes und von dem hohen Heilsgefühl eines steten, ununterbrochenen, sich hingebenden Lebens in aller Menschlichkeit der Muttertreue und der Mutterfreuden ab. Eine kulturlose, nur von der Sinnlichkeit ausgehende, aber auch mit großer Sinnlichkeitskraft eingeübte künstliche Lebensgewandtheit, wie sie es in Jahrhunderten nicht war, überwältigt die Unschuld und Schwäche der Natur in der Mehrheit der mütterlichen Wesen unserer Zeit in dem Grad, daß sie im Gefühl ihrer inneren Verwirrung sich nicht mehr selbst zu helfen imstande sind, und bei der Welt, die wider sie ist und ihnen selber die reinste Kraft ihres mütterlichen Sinnes geraubt hat, dennoch Hilfe und Handbietung suchen müssen, ich will nicht sagen, um ihren innerlichen mütterlichen Sinn in sich selber zu erneuern und wieder herzustellen (sie wissen in ihrer Verwirrung kaum, daß er ihnen mangelt), ich will nur sagen, um ihren Kindern auch nur halb zu sein, was sie ihnen gerne ganz wären, und auch nur halb aus ihnen zu machen, was sie wohl sehen, daß sie ganz aus ihnen machen sollten. Auch dieses Wenige müssen unsere Zeitmütter außer sich und bei der Welt suchen. Sie suchen es auch alle, aber sie finden es nicht, oder gewiß die Wenigsten von ihnen finden auch nur dieses Wenige bei ihr. Die meisten werden beim ungeleiteten und unverständigen Suchen dieser Hilfe, wie ich oben gesagt, auch nur dafür von Pontio zu Pilato gewiesen, und müssen so gewiesen werden. Die Sache, die sie suchen und bedürfen, mangelt im pädagogischen Zeitalter vielseitig selbst, und wo die Sache, die man sucht, mangelt, da ist denn freilich kein Wunder, wenn man ihrerhalb vom Pontio zu Pilato gewiesen wird. Gewiß ist, sie finden die Halbhilfe, mit der sie sich, weil sie höchstens Halbmütter sind, begnügen würden, in unserer Zeitwelt, in der sie sie suchen, wo nicht gar nicht, doch höchst selten. Was die Welt ihnen dafür darbietet, was ihnen diesfalls Anleitung und Wegweisung sein sollte, was Staat, Kirchen und Schulen diese Handbietung bezweckend leisten, ist mit dem Zeit- und Zivilisationsverderben, dem die Mütter selber unterliegen, so verwoben und von ihm so abhängig gemacht, daß sie im Wesen ihrer Bedürfnisse mehr dadurch verwirrt und stillgestellt als gefördert werden. Die Zeitwelt, die indessen die Folgen des Wohnstubenraubes und der durch ihn eingeführten und angebahnten Abschwächung des mütterlichen Sinnes und der mütterlichen Kraft wohl fühlt, aber es weder sich selber und noch weniger jemand, der danach fragt, gern gesteht, verbreitet freilich ein großes Stillschweigen darüber. Aber eben dieses Stillschweigen ist ein Eingeständnis ihres Unrechts, und mir ein Beweggrund mehr, darüber offen und geradeheraus zu sagen, was ich denke. Am Rande des Grabes sucht sich das menschliche Herz zu entladen, und findet tausend Beweggründe, die junge Leute abhalten, ihre Überzeugung frei zu äußern, nichtig und unbedeutend.
Sogar das Heiligste, das Höchste, das dem Menschen zur Erhaltung des Göttlichen in seiner Natur gegeben ist, die Religion, kann heute den armen Rest ihres geschwächten Einflusses an so vielen Orten fast nur durch eine ihr inneres Wesen entkräftende Amalgamation mit allen Formen des Zeit- und Zivilisationsverderbens erhalten, und muß es selber dulden, wenn die Entheiligung des Sonntags etc., etc., etc. mit einer Politik, die oft ihrer Armseligkeit halber nicht einmal mehr Politik zu heißen verdient, entschuldigt wird. Die geist- und weltlichen Stützen, die den reinen Natursinn der Mutter beleben und erhalten sollten, sowie die richtigeren und edleren Ansichten über den Gegenstand der Menschenbildung und Volkskultur mangeln fast allenthalben. Sie müssen wohl. Das Zivilisationsverderben richtet den Sinn und den Geist dieser Stützen vorzüglich an den Stellen zugrunde, von denen ihre bürgerliche Kraft eigentlich ausgehen und aufs Volk wirken sollte, daher denn der Fall so oft eintritt, daß sonst edle und erleuchtete Geschäftsmenschen über alles, was Menschenbildung und Volkskultur betrifft, weit hinter sich selbst zurückstehen, und Vorschläge, die diesfalls öffentlich oder privatim an sie gelangen, nur mit einen Kopfschütteln oder Achselzucken zurückscheuchen. Wir dürfen uns auch darüber nicht verwundern, das Beste, das dieser Gegenstände halber irgendeiner Behörde kann vorgeschlagen werden, muß seiner Natur nach dem Zivilisationsverderben und allen seinen Ansprüchen ans Herz greifen, sonst taugt es nichts. Desnahen aber müssen auch solche von diesem Verderben gleichsam ganz umwundene Menschen fast notwendig alle Ansichten und Vorschläge, die nicht an der Tagesordnung dieses Verderbens sind, und besonders nicht mit der Lebensweise und oft gar nur mit den Lebensemolumenten des sie umgebenden Personals in Übereinstimmung stehen, auch als der Wahrheit der Menschennatur und des Menschenlebens selber widersprechend, folglich als in aller Welt unausführbar und unmöglich erklären. Solche Menschen können niemals mit den diesfälligen besseren Einsichten freier unbefangener Menschen gleichen Schritt halten, und sind auch dieser Gegenstände halber mit ihnen fast beständig im Widerspruch. Als Männer der Masse - des Volkshaufens und seines äußeren Dienstes, drängt sich ihre Tätigkeit fast immer nur um die große Mehrheit, um die Masse unseres Geschlechts, folglich um seine prononcierte Schlechtheit herum, und wirkt mit ihrer, wenn auch hierin noch so großen Gewandtheit nur auf diese und durch diese. Die Volksmasse, in der sie leben, ist gleichsam ihre Atmosphäre, und wenn die ganze physische Welt sich mehr und minder nach der Atmosphäre, die sie umgibt, gestaltet, sich ausdehnt und zusammenzieht, so haben es solche im Mittelpunkt des Zivilisationsverderbens als in ihrer eigentlichen Atmosphäre lebenden Menschen natürlich sehr schwer, dem Einfluß so stark auf ihr inneres Leben einwirkender und dasselbe zusammenziehender, ich möchte fast sagen einschnürender, Umgebungen zu widerstehen, und sich nicht nach ihrer sie diesfalls verengernden Atmosphäre zu gestalten. Sie können fast nicht anderes als die Volksmasse, die ihre tägliche Tätigkeit, ich möchte sagen, den ganzen Umfang ihres Lebens anspricht, als das Menschengeschlecht selber, und ihr allgemeines Benehmen als ein Resultat der Menschennatur selber ansehen, und werden desnahen durch eben das, was auf der einen Seite ihre Standesgewandtheit begründet, hingegen aber das höhere innere Wesen ihrer Menschennatur beschränkt, selber von der Einfachheit und Unschuld der menschlichen Ansichten, die der Idee der Menschenbildung und Volkskultur wesentlich zugrunde liegen, abgelenkt.
Das, was ich diesfalls sage, ist eigentlich zur ernsten Entschuldigung der unrichtigen Begriffe, die so vielseitig auch selber in den bedeutendsten Stellen über Menschenbildung und Volkskultur stattfinden, gesagt, aber um deswillen ist das Gesagte gleich wahr, und in Rücksicht auf den diesfälligen Zustand der Zeitwelt gleich wichtig. Es ist vielleicht auch das schwierigste Problem in der Welt, größere oder kleinere Menschenhaufen im Zivilisationsverkehr unter sich zu haben, und eingreifend in ihre Verhältnisse neben ihnen zu leben, ohne die höhere Kraft, wahrhaft und rein auf die Menschenbildung, auf die Menschenkultur zu wirken, in sich selber zu schwächen, wo nicht zu verlieren. Wer überhaupt sein Brot mit Arbeit in Holz und Stein, Stahl und Eisen verdient, oder auch Ruhm und Ehre in einer Kunst und in einem Beruf findet, wo ihm noch viel Holz, Eisen, Silber, Leder und dergleichen durch die Hand geht, der ist im Ganzen und Allgemeinen (die Ausnahmen abgerechnet) für die richtige Erkenntnis der Menschennatur und die unbefangene Teilnahme an dem ganzen Umfang der wesentlichen Menschenfreuden und Menschenleiden und dadurch für allen Bonsens des Lebens in einer weit besseren Lage als der, der dadurch zu Brot, Ehre und Ruhm gelangt ist, daß ihm ganze Menschenhaufen, eben wie dem anderen Holz und Stein, zum Manipulieren durch die Hand gehen und er in äußerlichen oder innerlichen selbstsüchtig belebten Verhältnissen mit ihnen verbunden ist. Es sind auch ebenso überhaupt auf Gottes Boden keine Menschen, die im allgemeinen von der Menschennatur und dem Menschenwert unwürdigere Begriffe haben als Untervögte, Schulzen, Weibel, Amtleute, Schreiber und Behördenmenschen, die sich auf der Leiter solcher Menschenmanipulationsstellen höher gehoben. Mögen indessen solcher Menschen noch soviel in diesem Fall sein, das Höchste und Heiligste der Menschennatur mit den Brot-, Fleisch- und Geldangelegenheiten der Volkshaufen, unter denen sie leben, zu verwechseln, und infolge dieser Verirrung die Angelegenheiten der Menschenbildung und Volkskultur in einem Geist und in Formen zu behandeln, die allfällig für die Richtung eines Husarenregiments, einer Spinnstube oder sonst eines zünftigen Berufes ganz schicklich, hingegen für die Bildung des Geistes und für die Erhebung des Herzens und die Führung ins Wesentliche und Menschliche der Kunst ganz unschicklich und eigentlich verkehrt sind, so ist um deswillen für die Menschenbildung und Volkskultur doch nicht alles verloren. Diese ist in jedem Fall von dem Personale, das als Männer der Masse, des Volkshaufens und der öffentlichen Einrichtungen angesehen werden muß, nicht so abhängig als es äußerlich scheint. Sie geht im Gegenteil bestimmt von heiligeren und höheren Kräften und Verhältnissen der Menschennatur aus, und wenn auch die Welt durch den Irrtum und das Verderben ihrer äußeren Formen entkräftet, verwirrt, entwürdigt und schwach, und selber im Personale ihrer Formen- und Gewaltsmenschen noch so verwirrt, entkräftet und schwach ist, und nur scheinkraftvoll dasteht, so ist um deswillen die Menschennatur in ihrem Wesen doch nicht auch selber also entkräftet, entwürdigt und schwach; und wenn auch die große Mehrheit unseres Geschlechtes schlecht ist, und alles, was sie als Masse für die Bildung des Menschengeschlechts, für die Menschenbildung, für sich selbst oder durch ihre Behörden tut, dafür nicht genugtuend ist, und sogar nichts dafür taugt, so mangeln um deswillen die wahren Fundamente der Menschenveredelung einem Volk, einem Staat nichts weniger als ganz. Diese ruhen wesentlich in dem Umfang alles Edeln, Guten und Großen, das im Staat wirklich da ist, und in Taten und Worten auf die Individua desselben einwirkt.
Es mag also der öffentlichen Einrichtungen halber auch in dem Mehrteil unserer Staaten stehen, wie es will, so sind in jedem derselben dennoch tausend und tausend Individua vorhanden, die unser Zeitverderben in seiner Wurzel erkennen, und die Leiden und das Elend der vergangenen Jahre mit dem Bewußtsein, daß es aus den verschiedenen Arten unseres Zivilisationsverderbens entsprungen, nicht bloß oberflächlich und teilnehmungslos ins Auge fassen, sondern im Hochgefühl ihrer Pflicht und ihrer Kraft danach streben, ihm in allen seinen Zweigen entgegenzuarbeiten. Diese Menschen haben nur eine Erweckungsstunde, nur einen höheren, einen sie erweckenden, reinen, sie vereinigenden Mittelpunkt notwendig. Gott gebe, daß sie ihn bald finden! Aber ob er auch nicht da ist, ob seine Stunde noch nicht gekommen, der Menschenfreund muß diesen ersten Trost für die Wiederherstellung eines edleren Menschenlebens sich nicht rauben lassen, er muß ihn im Gegenteil im Glauben ergreifen und festhalten, und wenn er tief überzeugt ist, daß unser Zeitpunkt mehr als kein anderer der Hilfe eines solchen Mannes, eines solchen Mittelpunkts der zu belebenden Menschlichkeit des Zeitalters bedarf, so muß er im Gefühl dieses Bedürfnisses in seinem Innersten mit dem Wort unserer Väter: "Wenn die Not am größten, so ist Gottes Hilfe am nächsten", sich dahin erheben, in seiner Lage alles zu tun, was ihm möglich. - Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Pfade richtig!! Es tut in der Lage, in der wir sind, not, wie es lange nicht nottat, die edlen Männer eines jeden Landes für das, wozu sie bereit sind, zu beleben, ihre Tätigkeit zu erleuchten, und wo möglich die verschiedenen Ansichten ihres gemeinsamen Edelmuts unter sich selber in Harmonie zu bringen. Es ist wesentlich, ihnen Ansichten und Mittel vorzubereiten und zur Hand zu bringen, die ihrer Tätigkeit eine bestimmte zweckmäßige und sichere Richtung geben, und sie in Stand zu setzen, in ihren Lagen und ihren Verhältnissen ihrem Herzen gemäß die heiligsten Angelegenheiten des Volkes mit Erfolg zu befördern, und namentlich auf die Menschenbildung und die Volkskultur mit erleuchteten Einsichten und veredelten Kräften einzuwirken. Es ist gewiß, das Bedürfnis der Zeit ruft heute jedem edlen Mann, herrsche er als König auf dem Thron, diene er für das Volk dem König, sitze er als Edelmann in seinem Eigentum und unter den Seinen, lebe er durch bürgerliche Tätigkeit in Verbindung mit dem Volke, sei er von Gottes wegen ihr Lehrer und Tröster, baue er das Land umgeben von Söhnen und Töchtern, von Knechten und Mägden in Wohlstand und Ehre, oder sitze er verborgen in der niedersten Hütte, nur seinem Weib, seinen Kindern und seinen Nachbarn als ein edler Mann bekannt, ihm und allen Edlen ruft der Zustand der Dinge heute zu, wie es seit Jahrhunderten nie geschehen: Was der Staat und alle seine Einrichtungen für die Menschenbildung und die Volkskultur nicht tun und nicht tun können, das müssen wir tun. Vaterland!
Deutschland! Unter den Tausenden, die sich durch den Schrecken der vergangenen Jahre zur Besonnenheit einer gereiften Selbstsorge erhoben haben, ist nur eine Stimme: Wir müssen unsere Kinder besser und kraftvoller erziehen als es bisher geschehen; und selber auch dem Staatsmann, der diese Begegnisse unbefangen ins Auge gefaßt, und nicht als ein für den wahren Dienst des Staates unfähiger Mann nur einseitig, ich möchte sagen nur einäugig darein geblinzelt, kann es, er mag übrigens über Volksbildung und Menschenkultur denken, wie er will, durchaus nicht entgehen, daß es für unsere Staaten ebenso nottut als für die Privatleute, daß die Kinder des Landes besser und kraftvoller erzogen werden als dieses bisher geschehen.
Die Menschennatur müßte sich selber verloren und das Menschengeschlecht sich selber weggeworfen haben, wenn es nicht dahin gekommen wäre. In allen Ständen sind edle Individua für das Gefühl dieses Bedürfnisses gereift. Aber wo sollte dieses eher der Fall sein, und wo sollten die Gefühle des Bedürfnisses einer kraftvollen Erziehung, wo sollten die Gefühle für eine gute Aufnahme alles dessen, was den Haussegen der Bürger begründen und zur Äufnung seines ewigen Fundaments, der Wohnstube, beitragen könnte, sich lebendiger, kraftvoller und reiner ausdrücken als in deinen Bergen und Tälern, als in deinen Städten und Dörfern, Vaterland? - Vaterland! Was du immer bist, das bist du durch sie, durch deine seit Jahrhunderten von deinen Vätern begründete und lange, lange auf Kindeskinder herunter erhaltene heilige Kraft deiner gesegneten Wohnstube. Vaterland! Du bist das, was du bist, nicht durch die Gnade deiner Könige, nicht durch die Gewalt deiner Gewaltigen, nicht durch die Weisheit deiner Weisen, du bist es durch deine Wohnstube, du bist es durch die in der Weisheit deines Volkes erhabene Kraft deines Hauslebens. Vaterland! Heilige wieder dieses alte Fundament des Segens deiner Wohnstube. Ihr allein dankst du noch heute den Mut deiner für leibliche und geistige Freiheit kämpfenden und siegenden Väter, ihr allein den stillen inneren Frieden, der dich Jahrhunderte segnete; ihr allein den hohen Grad deines allgemeinen Haussegens und die fast allgemeine Umwandlung deiner dürresten Anger in blühende Triften. Ihr allein dankst du den Grad der Geistes- und Kunstbildung, der in verschiedenen Epochen deiner Geschichte so viele deiner Städte und Gegenden vor so vielen Städten und Gegenden großer Reiche auszeichnete. Ihr dankst du auch, aber - mir fällt heute eine Träne vom Auge, da ich dieses berühre - ihr dankst du auch den mäßigen, bescheidenen, in den Schranken bloß bürgerlicher Ansprüche festen und edlen Magistratursinn deiner Ahnen, und das als Erbgefühl ihrer Erhebung zu einem Freistand in ihnen lebendig und kraftvoll erhaltene Bewußtsein des Unterschieds ihrer Lage und der Lage souveräner und von Souveränen erhobener, im monarchischen Dienst stehender adeliger Familien. Vaterland! Ihm, deinem Wohnstubensegen dankst du den nur unter einem solchen obrigkeitlichen Geist möglichen kraftvollen, in jedem Fall mit Leib und Gut zu dir stehenden Gemeinsinn unserer Väter.
Vaterland! Vaterland! Du, das du unter den Staaten Europas das große Heil deiner Wohnstube so ausgezeichnet als das Werk deiner Bürger und ihres Verdiensts anerkannt, und dieses Heil als das Werk deiner Bürger durch ihren Verdienst allgemeiner und fester begründet und höher emporgehoben hast, als du es in Gegenden, die deinen Freiheitssegen nicht hatten, nirgends findest; du, meine Vaterstadt! deren allgemeine innere Ehrenfestigkeit, selber deiner ärmeren Bürger und gemeinen Berufsmänner, fast seit undenklichen Zeiten als das Resultat einer reinen und festen Wohnstubenweisheit und Wohnstubenkraft anerkannt und gepriesen worden; Vaterstadt! deren erste Staatsmänner offenkundig den heiligen Segen der Wohnstube seit so viel Jahrhunderten als die erste Stütze ihrer Staatskraft, d.h. in unseren Verhältnissen, ihrer freien Bürgerkraft ansahen, und ihre Weisheit mit allen Ehren und Würden des Vaterlands belohnten; Vaterstadt! deren erste Männer der Kirche von Zwingli an bis auf die Zeiten unserer Väter als feste, unerschütterliche, als geheiligte Stützen des Haussegens der Wohnstube zu Stadt und Land dastanden; Vaterstadt! die du noch im verehrten Bodmer den Nachhall der diesfälligen Denkungsart der alten Zeit erkanntest, ihn aber in der neueren wichtigen Zeit verkanntest; Vaterstadt! ich rufe dir mit Wehmut einen Zeitpunkt ins Gedächtnis zurück, in welchem du die wahre ewige Basis der vaterländischen Kraft momentanen Zeitansichten nachgesetzt, und dadurch einen Gemütszustand im Land veranlaßt hast, an dessen Folgen die Edlen im Land und auch diejenigen, die es nicht sagen, ganz gewiß mit zerrissenem Herzen gedenken, indem wir in den kurz darauf folgenden Jahren, in welchen die Eidgenossenschaft mehr als je ein Herz und eine Seele hätte sein sollen, den Samen der Zwietracht wie tief eingewurzeltes Unkraut im unbesorgten Acker aufgehen und allen guten Samen ersticken gesehen. Lavater schrieb in diesen Tagen (ich las das Billett in seiner Hand) an eines deiner ersten Regierungsglieder: "Ihr werdet die Rechtsunförmlichkeit eurer gegenwärtigen Handlungsweise mit blutigen Tränen bereuen", und er hat wahrlich mit diesen Worten das, was hernach geschehen, prophetisch verkündigt.
Zensurlücke, die ich mir selbst mache. Lavater, Lavater! Ach, daß du noch lebtest, ach, daß du in den Tagen, in denen das letzte begegnet, was wir erfahren, noch gelebt hättest, wir hätten denn doch auch einen Mann gehabt, von dem tausend und zehntausend und Hunderttausende gesagt hätten: Gott, das Vaterland und die Menschheit ruhen in Unschuld in seinem Herzen. Du, du Einziger hättest in der Stunde unserer gegenseitigen Umtriebe und unseres gegenseitigen Unglaubens im Land Glauben gefunden, und wärst in der Mitte der streitenden Väter und unserer alles Innere, Heilige der menschlichen Verhältnisse vergessenden Selbstsucht da gestanden, wie einst ein heiliger Mann von deinem Herzen in Stans im Kreis der empörten Väter des Vaterlands rettend dastand.
Und daß auch du nicht mehr unter uns bist in unserer entscheidenden Stunde, du, vor dem sich der Tor in seiner Torheit, der Schalk in seiner Schalkheit und der Unwissende in seiner Unwissenheit hätte schämen müssen - Mann der Wahrheit und der Freiheit, edler vaterländischer Müller! Ach, daß auch du sterben mußtest, ehe der Tag kam, an dem es so wichtig, so entscheidend gewesen wäre, dem eitlen Schwatzen vom Recht, das dem Unrecht mit ganzer Seele huldigt, historisch und diplomatisch beurkundet zu zeigen, was das wahre, ursprüngliche Recht der verschiedenen Stände des Vaterlandes, und das wahre Verhältnis der allgemeinen, positiven und konstitutionell gesicherten Freiheit des schweizerischen Volkes sei: und worin ihre, der Verfassungen fromme und stille, aber ernste und wahre Kraft zur Beschränkung der Regierungsmacht und zur Verhütung ihrer Ausartung in willkürliche Gewalt und in die vom damaligen Zeitgeist so gefürchtete Rückkunft der Regierungsgrundsätze und der Regierungsmaßregeln des hörnenen Rates, der Vögte und der Zwingherrengewalt bestanden.
Lavater! Müller! Ihr hättet der Wahrheit das Zeugnis gegeben, das wir heute bedürfen. Aber ihr seid nicht mehr, ihr hört den nicht mehr, der euch achtet, euch sieht auch der nicht mehr, der euch liebt, und ihr seid auch dem ab den Augen, der sich schämen müßte, wenn ihr da wäret. Ach! daß das Vaterland eurer mangeln mußte in der Stunde seines größten, dringendsten Bedürfnisses. - Im tiefen Fühlen des Wortes: Wenn diese schwiegen, so würden die Steine schreien, erhebt sich mein in Schwachheit und Alter Lavater und Müller verehrendes Herz, und ich wage es in den Mund zu nehmen und auszusprechen, was beide in dieser Stunde dir, Vaterland, gesagt hätten.
Vaterland! würden sie zu dir sagen: Eintracht ist das erste, das jetzt nottut! Aber, Männer des Vaterlandes! die ihr sie gesetzlich zu begründen den hohen Beruf habt, glaubet nicht, daß ihr durch Verachtung des Volkes, durch Unterdrückung seines vaterländischen Herzens und mitten durch Beleidigung alter, in ihrem Wesen edler Nationalgefühle die Eintracht erzielen werdet, "die eure Väter im Wetter heißer Schlachten groß gemacht", glaubet nicht, daß ihr sie anders als auf dem Wege des Nationalwillens, und auf dem Fundamente der Recht- und Freiheitsansprüche der Väter, durch die wir zu einem Volk, zu verbündeten Eidgenossen geworden, erhalten werdet. - Väter! würden sie zu euch sagen, durch Vernachlässigung dieser Staatsfundamente der Eidgenossenschaft würdet ihr Zwietracht im Vaterlande säen, und "Wer Zwietracht säet, wird Zwietracht ernten". Würdet ihr's tun, eure Kinder würden einst alle Schlauheitsmittel gegen die ausgebrochene Zwietracht umsonst erschöpfen; sie würden umsonst dagegen streng sein. Im Volk der Eidgenossen heuchelt sich die Eintracht, die heilige, nicht ein und prügelt sich nicht ein - aber die Sicherheit des Rechtes gebiert Vertrauen, das Vertrauen führt zur Ruhe, und in der Ruhe liegt das Wesen der Eintracht; für diese muß die Gesetzgebung sorgen, das höchste Mittel der Eintracht ist sie selber. Vaterland! würden sie zu dir sagen, die Irrtümer und die Unbill des Gesetzgebers gehen über die Unbill und den Irrtum der Könige. Der Irrtum und das Unrecht der Könige werden mit ihnen begraben, aber das Unrecht der Gesetzgeber dauert von Geschlecht zu Geschlecht, und ihre Leidenschaften und Schwächen drücken auf die aufgeopferte Nachwelt - bis Gott hilft.
Im hohen Glauben an diese Ordnung Gottes, an diese Hilfe Gottes würden sie, Vaterland! heute zu dir sagen: Du bist über die Elendigkeit schwacher Menschen erhaben, die, wenn sie einem noch Schwächeren Unrecht getan haben, wie die spanische Inquisition zum Preis der Versöhnung von ihm fordern, daß er sich über das erlittene Unrecht nicht beklage, sondern desselben halber das Gebot des Stillschweigens bei hoher Strafe und Ungnade heilig halte und Gott danke, um der Gerechtigkeit willen gelitten zu haben.
Mitbürger! Söhne edler, freier Männer! würden sie zu uns sagen: Ihr seid über jedes Geheimnis der Finsternis erhaben, und kennet keine Versöhnungsarten, die das Menschenherz im Scheinfrieden mehr zerreißen als es im offnen Kriege je zerrissen werden kann. Vaterland, du bist nicht kleinlich genug, die wahre Kraft deiner selbst als eines Ganzen der Scheinkraft eines kleinen Teils dieses Ganzen, dem eitlen Schimmer einiger weniger aus dir aufzuopfern, oder wohl gar dieses Ganze zum Schimmerdienst dieser wenigen herabzuwürdigen. Vaterland! du erniedrigst dich nicht dahin, die gesetzliche Freiheit des Landes, das ist, des Volkes und seine ihm von den Vätern angestammte Würde, sein ihm von den Vätern angestammtes höheres als landständisches, sein ihm von den Vätern angestammtes Freiheitsrecht in der inneren Wahrheit seines Geistes und seines Wesens zu schwächen, um der Selbstsucht einiger weniger deiner Bürger zu frönen. Söhne edler Väter, würde jeder von ihnen sagen, ich sehe das Vaterland in der Höhe eures vaterländischen Herzens, ich sehe in euch deutsche Männer, die nicht mit Worten spielen. Ihr kennt kein Völkerrecht ohne ein Volksrecht, und kein Volksrecht ohne ein Menschenrecht. Ihr erkennet das Menschenrecht freilich nicht in den Gelüsten des Volkes, in seiner Schwäche, seiner Anmaßung und seinem sinnlichen tierischen Sinn, wohl aber in dem ewigen unveränderlichen Wesen der Menschennatur. Ihr achtet diese Menschennatur, ihr achtet das Heilige in ihr hoch, und was das Höchste unserer Natur, die sittliche und geistige Kraft derselben einschlummert und vergiftet, das achtet ihr nicht für Recht.
Eingedenk des Wortes: "Wenn ich auch die ganze Welt gewönne, litte aber Schaden an meiner Seele, was würde ich zum Gegenwert meiner Seele haben", achtet ihr das, was das Geistige und Sittliche unserer Natur einschlummert und vergiftet, für lauter Schaden. Ob es euch gleich Geld eintragen, ob es euch gleich zu Ehre und Ansehen erheben, und euch und alle Eurigen sinnlich und physisch wohl und behaglich setzen würde, ihr achtetet es dennoch für Schaden. Es ist ewig von euch ferne, edle Männer des Vaterlandes, irgendeine Art von Rechtsansprüchen auf einen Zustand der Dinge zu gründen, der die sittliche und geistige Entfaltung unseres Geschlechts zu stören und das Göttliche und Heilige in der Menschennatur einzuschlummern und zu vergiften geeignet wäre. Vaterland, du bist ewig ferne davon, daß deine edleren Söhne Rechtsansprüche auf die lange Dauer irgendeines Unrechttuns gründen und auf den langen Genuß der Folgen eines fortdauernden solchen Tuns einen Verjährungsgrundsatz gegen das Recht bauen!! Du bist ferne davon, das Urteil irgendeiner Selbstsucht, die in ihrer eigenen Angelegenheit als Partei und Richter gesprochen und die Stimme des Rechts mit Blutgerüsten so zurückzuschrecken vermocht, daß sie wie das Echo eines einzelnen Tons in den Bergen verhallen mußte, und nicht mehr wiederkommen durfte, als das Fundament eines rechtlichen Zustands freier Männer anzuerkennen!
Vaterland, dein einziges großes Unrecht seit Jahrhunderten, die einzige Quelle deiner Erniedrigung, deiner Zerwürfnisse und deiner Schande war die Lücke deiner Verfassungen, die, indem sie es hier und da der rechtlosen Selbstsucht mehr und minder möglich machte, sich auf die Magistratur- und Richterstühle deiner edlen Väter zu setzen, die Rechtlosigkeit der Untergebenen gegen sie selber, folglich das Wesen des Sanskulottismus dadurch konstituierte und es dahin brachte, daß Verbesserungsvorschläge und überall jede Äußerung vaterländischer Wünsche einer rechtlichen Verfassung, die vom Volk und auch von den Edelsten im Volk ausgingen, als Aufruhr, als Hochverrat angesehen und behandelt werden konnten.
Vaterland, der einzige wahre, der einzig mögliche Hochverrat in deiner Mitte, das eigentliche Majestätsverbrechen gegen dich selbst ist gesetzlich eingelenkte und verfassungsmäßig geheiligte Rechtlosigkeit deiner Bürger. Aber, Vaterland! du wirst sie nicht unter dir dulden; du wirst nicht dulden, daß in irgendeinem Winkel deiner Lande die Gewalt verfassungsmäßig über das Recht herrsche, und daß das Unrecht der Gesetzlosigkeit sich durch Vereinigung aller Gewalten in die Selbstsucht einer einzigen gesetzlich sanktioniere. - Nein! gewiß nein! Erste Männer des Vaterlandes, die ihr berufen seid, das Glück, die Ruhe und die Freiheit des Landes durch sein Recht, durch die Sicherstellung des Rechts aller Bürger verfassungsmäßig zu begründen, ihr seid ewig fern davon, im Umkreis des durch das Blut der Väter von der Vögte und Zwingherrn Gewalt befreiten Landes, Verfassungen einzulenken und zuzugeben, durch die ein in Persönlichkeits- (Personal-) Geist umgewandelter Regierungsgeist dahin wirken konnte, das Volk von der Regierung innerlich zu trennen und mit ihm unvermeidlich auf Kind und Kindeskinder hinab zu entzweien. - Söhne edler Väter, ihr seid ferne davon, den Fall möglich zu machen, daß eine aus tiefen Bedürfnissen entsprungene Volksstimme selber verfassungsmäßig heute mit Spott verhöhnt - morgen mit Gewalt unterdrückt werden könnte, ihr seid ferne davon, es möglich zu machen, daß die Anerkennung und Erhebung irgendeiner vaterländischen Tugend und Verdienstes selber verfassungsmäßig unmöglich gemacht, hingegen einseitige Gewandtheit, schlaue Rechtsverfänglichkeit und böse Kniffe im Dienst der Willkür und zugunsten der rechtslosesten Selbstsucht selber verfassungsmäßig angebahnte Wege zu den Ehren und Würden des Vaterlands fänden.
Nein, Vaterland, du bist über die Niederträchtigkeit erhaben, durch Begünstigung der Mutwillen-Rechtslosigkeit eines sich vornehm dünkenden Pöbels, die Jammer-Rechtslosigkeit deines so geheißenen gemeinen Volkes gesetzlich zu konstituieren und auf Kind und Kindeskind hinab dauern zu machen.
Edle Männer, die ihr am Werk unserer Erneuerung der seit Jahrhunderten gesegneten Verfassung des Landes arbeitet, ihr seid ferne davon, daß irgendein Mann im Schweizerland durch die Folgen der Abänderung unserer Verfassungen ein rechtsloser Mann, und irgendein Dorf im Schweizerland ein rechtsloses Dorf, und irgendein Stand im Land ein rechtsloser Stand, und irgendeine Tugend eine rechtslose und dadurch eine entehrte, eine entweihte, eine kraftlose Tugend im Land werde.
Erste Männer in unserer Mitte, ich bin gewiß, Lavater und Müller würden heute mit diesem Vertrauen, mit dieser altschweizerischen Erhebung für Recht und Freiheit, mit diesem ernsten Hinblick auf die Gefahren, die ihnen drohen, und mit dieser Sorgfalt und Kraft für die Belebung des allgemeinen bürgerlichen Freiheitssinnes mit euch reden, sie würden ganz gewiß zu dir sagen: Dein Tag ist da, er ist heute da, an dem du die erste Quelle deiner Erniedrigung, deiner Zerwürfnisse und deiner Schande enden kannst und enden sollst.
Von einer anderen Seite, bin ich ebenso gewiß, würden sie zu euch sagen: - Erste Männer in unserer Mitte! Eure Würde, die Würde eurer Magistraturrechte ist groß. Sie ist größer als die Würde der Magistraturrechte auch der größten beherrschten Städte, und es ist recht, daß ihr sie behauptet, aber auch, daß ihr nicht vergesset, daß sie von wegen der Freiheit eurer Mitbürger und ihres Gemeinwesens und nicht von wegen eurer selbst und eurer Ratsstubenrechte also groß ist. Im Gegenteil, der äußere Schimmer der Ratsstubenrechte muß immer in dem Grad kleiner erscheinen, als eure Bürgerschaften und ihr Gemeinwesen wahrhaft gesetzlich und republikanisch frei sind. Edle Männer! erkennet, daß das Vaterland und die Freiheit des Vaterlandes euch und eure Väter groß gezogen! Ihr, die ihr heute als die ersten Männer unseres allgemeinen schweizerischen Freistaats in unserer Mitte dasteht, vergesset es nicht, es erhebe euer Herz, daß die Ahnen der meisten von euch aus dem gemeinen bürgerlichen Erwerbsstand herstammen, und daß es das Vaterland und die Freiheit des Vaterlandes allein ist, die sie und euch zu dem Wohlstand und zu dem Ansehen erhoben, in dem ihr jetzt in unsrer Mitte lebt.
Edle Männer, würden sie zu euch sagen, ihr fühlt im Innersten eures Herzens, daß keine Änderung der Zeit aus euch persönlich in unserer Mitte etwas anderes gemacht hat als was eure Väter in der Mitte der unseren auch waren. Wir sind alle, seien wir Vermögens und äußeren Ansehns halber heute so verschieden als immer möglich, standes- und rechtshalber noch Eidgenossen und freie Männer geblieben, und stehen diesfalls gegen die Edelsten im Land in eben dem rechtlichen Verhältnis, in dem beim Erwachen der Freiheit und bei ihrer ersten Begründung der gemeine, aber freie Mann des Landes gegen den Edlen im Land dastand, Söhne edler Väter, es liegt in eurem Herzen, diesen ursprünglichen Zustand des vaterländischen Segens dem Vaterland allgemein zu erhalten und heute, wo es nottut, zu erneuern. Edle Männer, es muß als Erbgefühl eures Freistandes in eurem Herzen liegen, dem Kern des Landes, dem Mittelstand, der auch den Besten unter euch an Kultur, an Vermögen, an Verdienst, an Tugend und innerer Würde gleichkommt, es gesetzlich nicht nur möglich, sondern verhältnismäßig nach seinem Verdienst leicht und verhältnismäßig nach dem Bedürfnis des Landes es gewiß zu machen, sich den Weg zu allen Ehren und Würden des Landes zu öffnen und dadurch die Konkurrenz der Einsichten und des Verdienstes, dieses einzige ewige und unwandelbare Mittel der Veredelung der Nationen bei allen Landeskindern allgemein zu machen, wie der Weg zu allen Ehren und Würden des Landes unter euren Vätern, die so vielseitig durch die freie Konkurrenz ihrer Tugend und ihres Verdienstes aus gemeinen Landeskindern Landesväter geworden, offen und frei war.
Vaterland, würden sie sagen, du änderst zwar heute das Äußerliche in deinen bürgerlichen Verhältnissen, aber denke, daß es nur die äußere Gestalt des heiligen eidgenössischen Volks-Vereins und des vaterländischen Freiheits-Bundes ist, dessen Form du verwandeln darfst. Laß das Ewige, Heilige unangetastet bleiben, indem du das Äußere, Wandelbare veränderst. Vaterland! mögen deine neuen Verfassungen heute von der Demut und Wahrheit deiner Regenten ausgehen, und deine Bürger zur Demut und Wahrheit ihrer Väter hinführen, dann wird der Segen deiner neuen Verfassungen Jahrhunderte auf dir ruhen, wie er Jahrhunderte auf deinen alten Verfassungen ruhte. Vergiß sie nicht, deine alten Verfassungen, Vaterland! sei nicht undankbar gegen sie. Du warst unter ihrem heiligen Schatten gesegnet, solange du sie in Wahrheit und Demut gebrauchtest, und du tatest dieses, solange ihr Geist wahrhaft in dir selbst lebte. Du verlorst ihren Segen nur dadurch, und du sahst sie selber nur dadurch vor deinen Augen zu dem morschen Gebäude werden, das sie seit einiger Zeit vor aller Welt Augen sind, weil du das alte Heiligtum ihres wirklichen Geistes in deiner Mitte sich hast abschwächen und ihren toten Buchstaben dahin mißbrauchen lassen, daß inner den Gräben des Landes, von dem die Alten sangen:
"Als Demut weint und Hochmut lacht, Da ward der Schweizerbund gemacht" ein böser Hochmut hier und da wirklich viel - viel zu viel zu lachen, und die fromme Demut viel - viel zu viel zu weinen fand. Besorgt, begeistert, und in seiner Geschichte bewandert, würden sie das Vaterland anreden und zu ihm sagen: Vaterland! du hast, indem du schon seit langem dem Weltverderben einer tief verirrten Zivilisation in allen und auch in den, dem Geist der Freiheit und der rechtlichen bürgerlichen Selbständigkeit widersprechendsten Formen und Gestalten gleich sein, oder wenigstens gleich scheinen wollen, dadurch die reinsten und wesentlichsten Fundamente deines großen, deines ausgezeichneten städtischen und ländlichen Haussegens verloren, und es dahin gebracht, daß man heute hier und da inner deinen Grenzen deine Kraft und deine Würde pro imperio (um angemaßte Herrschaft) aufs Spiel setzt, uneingedenk, daß deine Kraft und deine Würde, daß die Kraft und die Würde deines Volkes dein einziges Imperium ist und daß du ohne diese keines hast. Vaterland! Unsere Ahnen haben durch ihre mit dem Geist ihrer ursprünglichen Freiheitsverfassungen übereinstimmende bürgerlich bescheidene Denkungs- und Handlungsart dem Zivilisationsverderben, das die Greuel unserer Tage seit langem bereitete, mit einer Kraft entgegengewirkt, die der Schwäche gleichkommt, mit welcher ihre Söhne durch Entkräftung des inneren Geistes unserer ursprünglichen Landesrechte und Freiheitsverfassungen, durch Untergrabung der Realkraft des Gemeingeistes unserer Bürger, durch Substituierung von Tand und Schein an die Stelle kraftvoller Sitten und besonders durch die eitle Neigung der Umwandlung der althelvetischen Regierungs-Einfachheit in die anmaßungsvollsten Formen von fürstlichen Behörden unsere Schwäche zur höchsten leidenschaftlichen Teilnahme an eben dem Verderben, dem unsere Väter entgegengearbeitet, hingelenkt. Vaterland! würden sie im tiefen Gefühl dieses Verderbens ihm zurufen, Vaterland! erhebe dich wieder zu dem, was du warst! Erkenne dein Glück! Du bist unter den Völkern des Weltteils, die unter den äußersten Folgen des Zivilisationsverderbens das Äußerste litten, das erste, fast das einzige glückliche gewesen. Sei jetzt auch eines der ersten, die Quellen dieser Jammertage der Welt rein in dir selbst zu erkennen, und mit Begierde die Mittel zu ergreifen, dein Volk und die Nachwelt dagegen zu schützen!
Vaterland! du bist hingegen unter den Völkern Europas, die für die Rettung des Weltteils von den äußersten Folgen des Zivilisationsverderbens Gut und Blut aufgeopfert, das letzte gewesen, und konntest nur das geringste sein. Aber sei jetzt das erste, das errungene Gut der Selbständigkeit der Staaten mit Weisheit und Kraft für den allgemeinen Haussegen deiner freien edlen Bürger, und mit ihm für die Erneuerung deiner Staatskraft und ihrer heiligsten Fundamente zu benützen.
Väter des Landes, im tiefen Gefühl eurer erhabenen Stellung und eines Berufes, wie er seit Jahrhunderten keinem in unserer Mitte zuteil wurde, würden sie euch anreden und zu euch sagen: Erste Männer des Vaterlands! Die Retter Europas ehren in euch die letzten Republikaner und haben das Heil unserer Nachkommen in eure Hand als in die Hände edler Republikaner gelegt. Eure Stellung ist schön, euer Glück groß, aber auch furchtbar ernst, und es fordert eine seltene Höhe des Geistes und des Herzens, in eurer Stellung eures und unseres Glücks würdig zu handeln. Ihr seid dem Vaterlande, euren Zeitgenossen und unseren Nachkommen, ihr seid der Menschheit verantwortlich. Die Mächte Europas haben in unserer Schwäche die Rechte der Menschheit geehrt. Erste Männer des Vaterlandes! Ehret wie sie die Rechte der Menschennatur in der Schwäche eurer Mitbürger und benutzt das Übergewicht eures bürgerlichen Einflusses auf die neue Konstituierung des Vaterlandes mit eben der Unschuld, mit eben der edlen Unbefangenheit und selbstsuchtslosen Willensfreiheit, mit welcher die Retter Europas uns als ein freies Volk mit gesetzlicher Sicherstellung der ersten Rechte wahrhaft freier Verfassungen konstituiert wissen wollen und unser Schicksal, das Heil unsrer Nachkommen mit hohem Vertrauen in eure Hände, als in die Hände republikanischer Väter des Landes gelegt haben. Erste Männer des Vaterlandes! Sie, die Retter des Weltteils haben die Gaben ihres Edelmuts in eure Hand gelegt, um sie aus eurer Hand in die Hand auch des Niedersten unter uns, in die Hand der Gesamtheit des schweizerischen Volkes hinübergehen zu sehen. Möchtet ihr in der Verfassung, die Friedrich Wilhelm dem königlich freien Neuenburg gab, den Geist dessen erkennen, was der Edelmut der Retter Europas erwartet, daß ihr dem republikanisch freien Schweizerischen Volk nicht geben, sondern nur erhalten sollet.