War Pestalozzi ein Ausbeuter?
Pestalozzi, die Indienne-Druckerei Laué und die Kinderarbeit
Kapitel 7 - Kinderarbeit für Pestalozzis Lebensunterhalt ...
... ist freilich etwas ganz anderes. Wie bereits gezeigt, sieht Stadler - im Gegensatz zu obiger These - in den Laué-Briefen den Beleg, dass sich Pestalozzi als Zulieferer des Hauses Laué, mithin als Kleinunternehmer mit Hilfe von Kinderarbeit zum eigenen Brot verholfen hat. Frau Dr. Heidi Neuenschwander, Mitverfasserin der "Chronik von Möriken-Wildegg", die sich auf Stadler stützt, zieht denn auch den von ihrem Gewährsmann Gewährsmann suggerierten Schluss, dass "die kleine Baumwollmanufaktur" auf dem Neuhof Pestalozzi "mühselig genug seinen Lebensunterhalt einbrachte" Anmerkung. Doch das trifft nicht zu. Pestalozzi war Laué gegenüber kein Zulieferer. Er war auch kein selbständiger Unternehmer in der Textilbranche und hat sich seine Existenz nicht mit Kinderarbeit gesichert. Vielmehr arbeiteten auf dem Neuhof Kinder unter der Anleitung von Malermeistern als Angestellte des Hauses Laué, und Pestalozzi versah - ebenfalls im Auftrag Laués - als freier Mitarbeiter die Funktion des Personalchefs (dies lediglich, was die Kinder und nicht etwa die Vorgesetzten anbelangte) und des Rechnungsführers, der die Übersicht über den von Wildegg nach Birr verlegten Betriebszweig zu wahren und die Löhne korrekt auszuzahlen hatte.
Für diese Sicht der Dinge sprechen sämtliche durch die Briefe und Pestalozzi-Schriften belegten Tatsachen:
- Zuerst ist einmal festzustellen, dass Pestalozzi den Charakter dieses Betriebs auf dem Neuhof (der zwischen 1784 und 1796 belegt ist) selber eindeutig beschreibt. Im Memorial über Tuchhandel und Baumwollindustrie im Kanton Bern ("Beantwortung der Fragen des Berner Kommerzienrates über den Stand der Baumwollindustrie") kommt er auf das Haus Laué zu sprechen und schreibt u. a.: "Diese Fabrik verbreitet auch auf das Amt Königsfelden einen wahrhaft wohltätigen Einfluss, indem sie auf meinem Gute eine Mahlerstube erhaltet und durch diesen kleinen Nebenzweig ihres Verkehrs etlich Jahr nacheinander bey fl. 4000 in die Dorfschaften Birr, Lupfig, Brunegg geworfen ..." (PSW 10, 36; Unterstreichung durch AB). Der Betrieb auf dem Neuhof war - in heutigem Jargon - ein ausgelagerter Betriebszweig und damit ein Teil des Hauses Laué, und auf keinen Fall ein eigenständiges Pestalozzisches Unternehmen im Sinne eines Gelderwerbs. So finden wir denn auch keinerlei Hinweis auf ein solches in seinen verschiedenen autobiographischen Darstellungen.
- Kein Unternehmer könnte existieren, wenn er bloss einen einzigen Kunden hätte. Bei Stadler liest sich die Geschichte mit Laué wie ein Beispiel für das behauptete Kleinunternehmertum. Aber es gibt in den Dokumenten nirgends den geringsten Hinweis, dass Pestalozzi vom Neuhof aus noch mit irgendeinem andern Geschäftspartner in Beziehung gestanden hätte. Auch die beiden letzten Abrechnungen aus dem Jahr 1796 betreffen direkte Auslagen, die Pestalozzi Laué verrechnete. Dabei erfahren wir, dass Laué damals auf dem Neuhof - neben einer nicht ersichtlichen Anzahl "Lehrkinder" - 37 Arbeiter(innen) beschäftigte. Das lässt vermuten, dass ein Grossteil der Kinder, die Mitte der achtziger Jahre als Lehrkinder in den Laué'schen Betrieb eintraten, nun als Arbeiter(innen) einen festen Arbeitsplatz gefunden hatte.
- Gerade die Abrechnungen von 1796 belegen, dass es sich beim Betrieb auf dem Neuhof nicht um ein Kleinunternehmen handeln konnte. Pestalozzi wäre niemals in der Lage gewesen, einem gewinnorientierten Unternehmen mit einer Belegschaft von mindestens 40 Personen eigenverantwortlich als Eigentümer und Unternehmer vorzustehen, ganz abgesehen davon, dass er damals auf der Platte in der Gemeinde Fluntern weilte. Und noch viel weniger hätte dies Pestalozzis Sohn Jakob gekonnt, auch wenn Emanuel Dejungs Vermutung in diese Richtung geht (PSW 10, 487). Denkbar und wahrscheinlich ist, dass Jacques die Funktion des "Abrechners" von seinem Vater übernommen hat - mehr nicht.
- Sodann ist festzustellen, dass ein Unternehmer für die eigene Infrastrukur selber zuständig ist. Anders Pestalozzi: Am 6. Sept. 1784 bittet Pestalozzi Laué um zwei Stühle und am 25. Sept. 1784 um ein Fass Kalk. Offensichtlich sind gewisse bauliche Anpassungen nötig. Im selben Brief erfahren wir, dass "Meister Hauert um Latten" bittet. Wäre Meister Hauert ein Angestellter Pestalozzis, trüge dieser sein Anliegen - wenn überhaupt - nicht im Namen des Angestellten vor, sondern als eigene Bitte. Im Registerband 1, S. 206 der Kritischen Pestalozzi-Ausgabe erfahren wir denn auch zutreffend, dass Hauert ein "Malermeister bei Wildegg" und "seit 1784 auf dem Neuhof für die Zeugdruckerei tätig" war. Er hat also als Angestellter von Laué auf dem Neuhof die Kinder angeleitet und beaufsichtigt. Am 14. Mai 1785 schreibt Pestalozzi: "Ich muss bitten, wegen den Tassen Befehl zu geben. Die Mahlermeisterin ware am Jahrmarkt by ihrem Haffner in Lenzburg, [aber] es waren noch keine fertig" (PSB 3, 214). Offensichtlich hatte die in Laués Diensten stehende Malermeisterin zwar die Kompetenz, für Tassen am Markt besorgt zu sein, doch konnte der mit Laué in Geschäftsverkehr stehende Hafner die Ware nicht liefern. Kein eigenständiger Unternehmer käme auf den Gedanken, einen Kunden mit solchen Details zu behelligen. Die Kompetenz lag aber bei Laué, und deshalb bittet ihn Pestalozzi, "Befehl zu geben".
- Ein Weiteres: Jeder in geschäftlichen Dingen Bewanderte weiss, dass ein Zulieferer mit dem Auftraggeber Preise des fertigen Produkts aushandelt und niemals auf die Idee käme, ihm gegenüber offen zu legen, welche Löhne er den eigenen Arbeitskräften zahlt. Genau so wenig verrät er seinen Arbeitern, welchen Preis er dem Auftraggeber verrechnet. Nur durch diese Taktik ist es ihm möglich, einen ihm genehmen Gewinn zu erzielen. Pestalozzi hat aber, wie die Briefe Nr. 607 vom 17. Januar 1786, Nr. 677 vom 6. März 1790, Nr. 749 vom 27. August 1796 und Nr. 750 vom 10. September 1796 zeigen, Laué gegenüber jeweils eine genaue Rechnung vorgelegt, was er den einzelnen Kindern (im Dezember 1785 waren es deren 13) und den weiteren Angestellten ausbezahlt hat bzw. auszubezahlen war. Er erhielt somit von Laué genau das, was er an Lohnzahlung vorgeschossen hatte. Aus verschiedenen Briefen geht hervor, dass Pestalozzi jeden Monat nach Auszahlung der Löhne, die zweimal im Monat entrichtet wurden, mit Laué abrechnete. Wich er von dieser Regel einmal ab, sah er sich zu einer Rechtfertigung veranlasst. So gab es z.B. im Januar 1787 nur einen Zahltag (vermutlich konnte wegen herrschender Kälte in Wildegg nicht produziert werden), und so verrechnete er diese Auslage erst am 9. März mit den beiden Zahltagen vom Februar: "Da der Jener nur einen Zahltag hatte, verspätete ich seine Einsendung bis mit dem Hornung" (PSB 3, 241). Dass Pestalozzi nicht immer über genügend Mittel verfügte, um den Zahltag vorzuschiessen, belegt Brief Nr. 601 vom 14. Oktober 1784. An diesem Tag war Donnerstag, und im Hinblick auf den am Samstag auszurichtenden Zahltag schrieb er an Laué: "Wenn von Ihnen bis Samstag niemand komt, so wiederholle die Bitte, durch Trager dies (gemeint ist: durch den Träger dieser Tuchsendung) mir etwas Gelts zu senden" (PSB 3, 206). Die Funktion, die Pestalozzi hier wahrnimmt, entspricht in keiner Weise jener eines Unternehmers. Vielmehr steht Pestalozzi hier im Dienste das Hauses Laué, und seine Stellung ist am ehesten beschreibbar als die eines freien Mitarbeiters. Als solcher hatte er offensichtlich neben dem Stundenlohn für jedes Kind einen gewissen Fixbetrag - genannt "Stehgeld" - vorzuschlagen, den er allerdings vom Unternehmer Laué genehmigen lassen musste: "Hiermit folgen 15 Tücher nebst dem Auszug der Stehgelter bis End August, welche beliebe mit bykomendem Buch zu confrontieren. Ich gedenke disen Abend im Rukweg von Wildenstein einen Augenblik die Ehre zu haben, zu Sie zu sehen, und wenn Sie die Bezahlung diser Stehgelter jetzt genehmigen, so will ich mir dann den Betrag davon ausbitten" (PSB 3, 222). Die Kompetenzen betr. Entlöhnung der Kinder lagen eindeutig bei Laué, und Pestalozzi führte bloss aus, was der Chef bestimmt hatte.
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Dr. Arthur Brühlmeier
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