War Pestalozzi ein Ausbeuter?
Pestalozzi, die Indienne-Druckerei Laué und die Kinderarbeit
Kapitel 6 - Kinderarbeit auf dem Neuhof...
... ist natürlich ein Tatbestand, der heutzutage einigermassen skandalös klingt. Es erwies sich als sehr aufwändig, sich ein Bild über die genaue Tätigkeit der Kinder auf dem Neuhof und den genauen Charakter dieses Betriebs zu machen. Meine Nachforschungen ergaben folgendes: Bei Laué in Wildegg wurden Baumwollstoffbahnen in Webbreiten zwischen 81 und 105 cm und in Längen zwischen 8.65 m und (allerhöchstens) rund 30 m an Drucktischen (zur Zeit der Hochblüte über 100) mit Hilfe von Holzmodeln zuerst in verschiedenen Grundfarben [Anmerkung: Erwähnt werden in den Laué-Briefen mehrmals Weiss und Rot, einmal Grau.] bedruckt und dann - teilweise in mehreren Arbeitsgängen und wiederum mit Modeln aus Birnbaumholz - bemustert. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde auch das Reservedruck-Verfahren angewandt, bei dem der Stoff nicht bedruckt, sondern in einem Bad gefärbt wird und schliesslich (nach speziellen heissen Bädern) das in Wachs aufgedruckte Muster als helles Negativ auf dunklerem Untergrund erscheint. Ein - vermutlich eher bescheidener - Anteil der bedruckten Tücher wurde den Kindern auf dem Neuhof überlassen, und deren Arbeit bestand einerseits im Ausbessern, andererseits im Ausmalen von Stoffmustern. Mit andern Worten: Sie wurden durch die praktische Tätigkeit allmählich befähigt, den Beruf der Pinceauteuses auszuüben.
Dabei wurden, was die auf den Neuhof gelieferten Tücher betrifft, relativ einfache Muster verwendet, die von Kindern bearbeitet werden konnten. Die Muster wiederholten sich nicht bloss in der Länge, sondern oft auch (vermutlich 2- bis 4-mal) in der Breite, so dass schliesslich die Tücher zerschnitten und sog. Mouchoirs (Tücher jeglicher Art: Kopftücher, Schals, Nastücher) hergestellt werden konnten. Auf dem Neuhof wurden, wie Brief Nr. 600 vom 25. Sept. 1784 zu entnehmen ist, gelegentlich Tücher auch "genäht", was als "gesäumt" zu interpretieren ist. Die noch unzerschnittenen Tücher wurden zumeist von einem Mann hin und her getragen, vermutlich auf dem kürzesten Weg, der über das Schloss Brunegg führt, eine Höhendifferenz von 150 m aufweist und - Hin- und Rückweg gerechnet - rund 3 Stunden Marsch erforderte. Die normale Traglast betrug 20 Tücher (etwas über 30kg) und entsprach - in den Jahren um 1785 herum - der durchschnittlichen Arbeitsleistung von gut 4 Tagen.
Keine Frage: Es dreht sich hier alles um Kinderarbeit, womit für viele Menschen unserer Tage das Urteil gefällt ist. Kinderarbeit galt indessen bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein als völlig selbstverständlich und war auch notwendig für das Überleben der bäuerlichen Bevölkerung. Zum Problem wurde sie erst durch zwei gesellschaftliche Entwicklungen: einerseits durch die aufkommende Industrialisierung, andererseits durch die Einführung der allgemeinen Volksschule. Solange nämlich die Kinder keinen Schulunterricht versäumten (weil es ihn einfach noch nicht gab) und ihrem Alter und ihren Kräften gemäss von den eigenen Eltern zur Mithilfe in Haus und Hof herangezogen wurden, war diese Form von Kinderarbeit höchstens ein individuelles Problem, insofern etwa hartherzige Eltern keine Rücksicht auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten ihrer Kinder nahmen, aber es war kein gesellschaftliches Problem im Sinne eines allgemeinen Skandals. Das wurde es erst, als es im Zuge der Industrialisierung möglich und für viele Teile der Bevölkerung leider auch nötig wurde, ihre Kinder gegen minimalen Lohn Arbeiten ausführen zu lassen, die ihnen in keiner Weise angemessen waren. Am extremsten findet man diese Art der Ausbeutung von Kindern im Bergbau. Dass bei einer solchen Form der Ausbeutung keine Rede mehr sein kann von geregeltem Schulbesuch, versteht sich von selbst.
Pestalozzis Wirken fällt zeitlich zusammen mit dem Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft. Diese Übergangszeit ist charakterisiert durch das Aufkommen der Textilindustrie im Sinne der Heimarbeit. Die von Verarmung bedrohten Bauern liessen sich von Unternehmern Spinnräder und Webstühle ins Haus stellen, und die ganze Familie - einschliesslich der Kinder - verdiente sich mit Spinnen und Weben in Akkordarbeit ein Zubrot. Pestalozzi hat sich dieser gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur theoretisch in zahlreichen Schriften [Anmerkung: Siehe dazu etwa die "Tscharner-Briefe" 1776/77 sowie "Über den Bauern" im "Schweizer Blatt" (1782), aber auch "Lienhard und Gertrud“.] gestellt, sondern auch praktisch bei der Konzeption dessen, was man gemeinhin (aber nicht ganz zutreffend) seine "Armenanstalt auf dem Neuhof" nennt.
Bei seinen Erwägungen ging Pestalozzi auf der einen Seite davon aus, dass diese Entwicklung schon darum nicht aufzuhalten war, weil die Landbewohner bei der damaligen Bevölkerungsvermehrung nicht mehr damit rechnen konnten, sich weiterhin durch die Landwirtschaft erhalten zu können. Andererseits sah er aber auch die Gefahren dieser Entwicklung: den Identitätsverlust und die geistige Entwurzelung der Menschen durch raschen Gelderwerb, aber auch die Versimpelung der Menschen durch die eintönige Routinearbeit. Sein Neuhof-Experiment war der Versuch, die neuen Möglichkeiten zu nutzen, ohne den Gefahren zu erliegen. So organisierte er für Kinder, die sich als Alternative dem Bettel hingegeben hätten, auf dem Neuhof ein etwas erweitertes Heimarbeits-Angebot und entwickelte ein Konzept, nicht bloss die Fertigkeiten des Spinnens und Webens erlernen zu lassen, sondern diese an sich eintönige Arbeit einerseits durch Anleitung zum sog. "kleinen Feldbau" aufzulockern und zu ergänzen, andererseits aber mit bewusster sittlicher Erziehung und geistiger Bildung zu verbinden. So war er beispielsweise davon überzeugt, die Kinder könnten und sollten sich während des routinemässigen Spinnens gleichzeitig schulischen Stoff aneignen und einprägen.
Wie man weiss, scheitere Pestalozzi mit dieser Idee, nicht zuletzt deshalb, weil er sich der Illusion hingegeben hatte, durch den Verkauf der durch Kinderarbeit erzielten Produkte könnte der Anstaltsbetrieb allmählich selbsttragend werden. Dies war hauptsächlich deshalb nicht möglich, weil die Eltern ihre Kinder, nachdem diese die grundlegenden Fertigkeiten erworben hatten, aus der Anstalt holten und auf eigene Rechnung arbeiten liessen. Auch flossen die öffentlichen Gelder nicht wie vorgesehen und erwünscht, weshalb Pestalozzi 1780 den Internatsbetrieb einstellen musste.
Wenn nun Pestalozzi erneut Kinder auf dem Neuhof arbeiten liess, so war das aus seiner Sicht nichts wesentlich anderes als die unter den neuen Umständen noch mögliche Fortsetzung seines grundlegenden sozialen Anliegens: die heranwachsenden Menschen im Rahmen der sich wandelnden ökonomischen Situation arbeiten zu lehren, damit es ihnen möglich würde, sich selbst ein Brot zu verdienen, statt dem Bettel oder der Verwahrlosung anheim zu fallen.
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Dr. Arthur Brühlmeier
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