Die Rezeption Pestalozzis in Preußen im Spiegel neuerer Veröffentlichungen
Heinz Stübig
I.
In seiner Einleitung zu der Arbeit von Renate Hinz "Pestalozzi und Preußen" weist Horst Scarbath, der Betreuer dieser Hamburger Dissertation, darauf hin, daß trotz zahlloser Studien zum Werk Pestalozzis und eines anhaltenden Interesses an den pädagogischen Konzepten der preußischen Reformzeit eine eingehendere Verknüpfung dieser beiden Fragerichtungen bisher unterblieben sei und begründet so die Beschäftigung mit dieser Thematik (Hinz 1991, S. I). Der Feststellung Scarbaths ist durchaus zuzustimmen, wenngleich Ruth Schefold 1944 - angeregt durch den Historiker Rudolf Stadelmann - in Tübingen eine Dissertation mit dem Titel "Der Einfluß Pestalozzis auf die preußisch-deutsche Erhebung (besonders in den Jahren 1807-09)" vorlegte, in der sie die Rezeption Pestalozzis durch die preußischen Politiker und Beamten sowie die Versuche einer Umsetzung seiner pädagogischen Ideen in die Praxis, einschließlich der Aufnahme Pestalozzis durch die Militärreformer, eingehend untersuchte. Allerdings hat diese Dissertation, die insofern einen Sonderfall darstellt, als sich in ihr keine Konzessionen an die nationalsozialistische Ideologie finden, die weitere Forschung kaum beeinflußt, da sie nur in maschinenschriftlicher Fassung vorliegt und deswegen schwer zugänglich ist.
Auch von daher markieren die Untersuchungen von Renate Hinz einen neuen Anfang in der Rezeptionsforschung. Aktuelle Beiträge zum Thema "Pestalozzi und die preußische Reformzeit" finden sich ferner in der mittlerweile abgeschlossenen Pestalozzi-Biographie von Peter Stadler (Stadler 1993, S. 441ff.) sowie in der seit 1993 auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Untersuchung von Peter Paret "Clausewitz und der Staat" (Paret 1993, S. 210-257) - eine Arbeit, die im englischen Original erstmalig 1976 publiziert wurde. Während in diesen Darstellungen die Bedeutung der Ideen Pestalozzis für die sektorenweise Erneuerung des preußischen Staates im Rahmen der angestrebten "defensiven Modernisierung" (Wehler) im Vordergrund steht und dementsprechend die politischen Aspekte dominieren, geht es in den jüngsten Publikationen zur Rezeptionsproblematik, die im Rahmen eines von Jürgen Oelkers geleiteten Forschungsprojektes am Institut für Pädagogik der Universität Bern entstanden sind, um die Historisierung Pestalozzis, vor allem um die Entstehung der "Pestalozzi-Legende" sowie um die Einschätzung von Pestalozzis Wirksamkeit als Pädagoge, und in diesem Zusammenhang auch um seine Aufnahme in Preußen (Oelkers und Osterwalder 1995; auf die Schweiz bezogen: Osterwalder 1996).
Im folgenden soll die Deutung des Rezeptionsvorgangs in diesen Arbeiten erörtert werden. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst das Interesse der preußischen Reformer an Pestalozzi und insofern das Verhältnis von Politik und Pädagogik in der preußischen Reformzeit (Stübig 1982). Ferner soll die Darstellung der Rezeption selbst untersucht werden, insbesondere die Zugänge, die im Einzelfall gewählt worden sind, um den Verlauf der Rezeption und deren Bedeutung für die preußische Reformpolitik herauszuarbeiten. Und schließlich sollen die Arbeiten nach ihrem Verständnis des historisch-politischen und pädagogischen Kontextes befragt werden, in dem sich die Auseinandersetzung mit Pestalozzi vollzieht.
II.
Hinsichtlich der Beziehungen der preußischen Reformer zu Pestalozzi sind sich Hinz, Stadler und Paret weitgehend darüber einig, daß zwischen den politischen Zielsetzungen des Reformwerks und den pädagogischen Ideen Pestalozzis eine starke Affinität bestand. Peter Paret formuliert diesen Sachverhalt mit Blick auf die Reformer folgendermaßen: "Im Kern war das Reformwerk eine Aufgabe der politischen Erziehung, mit deren Hilfe die absolute Monarchie und die ständische Gesellschaft mit ihren Einschränkungen und Barrieren in einen weniger behinderten, zu mehr Leistung fähigen, kraftvollen Organismus umgewandelt werden sollte. Indem er dem einzelnen mehr Entfaltungsmöglichkeiten bot, würde der Staat stärker werden; die Entwicklung des Staates und die des Individuums bedingten sich also wechselseitig" (Paret 1993, S. 256f.). Bei Stadler heißt es über die Gemeinsamkeiten zwischen Pestalozzi und der preußischen Reformpartei: "Entscheidend aber war, um es in der Sprache Wilhelm Diltheys zu sagen, "dass diese Ideen des grossen Propheten der modernen Volkserziehung in einer inneren Übereinstimmung mit den Gedanken der Staatsmänner und Philosophen dieser Epoche standen" (Stadler 1993, S. 447f.).
Renate Hinz geht noch einen Schritt weiter, indem sie die inhaltliche übereinstimmung zwischen den Bestrebungen Pestalozzis und dem Erneuerungswillen der preußischen Reformer weiter zu präzisieren versucht, wobei sie den Begriff der "Versittlichung" in den Mittelpunkt ihrer diesbezüglichen Überlegungen stellt. Anhand von Pestalozzis Erziehungskonzeption erläutert sie dieses Beziehungsgefüge folgendermaßen: "Die als Hilfe zur Selbsthilfe verstandene Erziehung heißt dabei: Ausbildung der latent vorhandenen Kräfte in der Individuallage zur Ertüchtigung für die individuelle familiäre, gesellschaftspolitische und ökonomische Situation durch Vermittlung einer sittlich fundierten Handlungskompetenz, die als eines auf dem Autonomieprinzip beruhenden 'salto mortale' in der freien Entscheidung des Menschen liegt. Mit dieser Freiheit der Entscheidung zum 'sittlichen Handeln' schafft Pestalozzi die Grundlage für den Erziehungsprozeß und zugleich die Voraussetzung zur Überwindung der je schicksalhaft zugewiesenen individuellen Lebenslage" (Hinz 1991, S. 113). - Einer der frühen Propagandisten Pestalozzis in Königsberg, Gotthilf Friedrich Wilhelm Busoldt, hatte auf diesen Sachverhalt bereits hingewiesen, als er die Pestalozzische Methode als "Selbstentwicklungslehrart" charakterisierte (Schefold 1944, S. 99).
Neben den spezifischen Affinitäten zwischen den Vorstellungen des Schweizer Pädagogen und der preußischen Politik nach 1806 als wichtigstem Movens der Rezeption werden von den Autoren zwei weitere Faktoren genannt, durch die der Rezeptionsprozeß wesentlich gefördert wurde: Dabei handelte es sich zunächst um die seinerzeit bereits vorliegenden Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung der Pestalozzischen Methode in der Schweiz und die sich darauf gründende Hoffnung ihrer schnellen Realisierbarkeit in Preußen. Darüber hinaus hatte die Einführung der Methode in den Augen ihrer Befürworter auch den Vorteil, daß sie kostengünstig war - ein Argument, das angesichts der finanziellen Lage des preußischen Staates durchaus schwer wog (Hinz 1991, S. 249ff.).
Was den Rezeptionsprozeß im einzelnen anbelangt, so unterscheiden sich die herangezogenen Darstellungen dadurch, daß Stadler sich von der Chronologie der Ereignisse leiten läßt, während Hinz den Rezeptionsvorgang systematisch - bezogen auf die jeweiligen Rezipienten bzw. Rezipientengruppen - darstellt und dementsprechend die unterschiedlichen Rezeptionslinien herausarbeitet.
Stadler setzt mit der Pestalozzi-Rezeption vor 1806/07 ein und erörtert zunächst die Gneisenau-Denkschrift aus dem Jahre 1803 sowie den Pestalozzi-Aufsatz von Clausewitz. Im Kontext dieser frühen Hinweise befaßt er sich auch mit den ersten Versuchen, Pestalozzis Lehrart in Preußen heimisch zu machen und kommt dabei zu folgender Feststellung: "Wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt, setzten die Bemühungen aber nicht etwa in den Stammgebieten der Monarchie ein, sondern in der erst kürzlich gewonnenen, mehrheitlich polnisch besiedelten Provinz Südpreussen. Offenbar sah man in diesem Entwicklungsland ein gegebenes Experimentierfeld für pädagogische Neuerfahrungen". Weiter heißt es bei ihm: "Die Gelegenheit, die vielbesprochene, aber noch unerprobte Methode einmal praktisch anzuwenden, empfahl sich vom Standpunkt preussischer Staatsräson am ehesten dort, wo bei grossenteils unalphabetisierten Volksschichten wenig zu riskieren und zu verderben war" (Stadler 1993, S. 445, 446). Im Anschluß daran behandelt Stadler am Beispiel des Plamannschen Instituts die frühe Adaptation der Pestalozzischen Gedanken in Berlin.
Nachdem er auf diese Weise die Anfänge der Beschäftigung mit Pestalozzi in Preußen skizziert hat, untersucht Stadler die Rezeption Pestalozzis durch den Freiherrn vom Stein, durch Humboldt, Nicolovius und Süvern, deren Übereinstimmungen und Unterschiede kurz umrissen werden. Im übrigen konzentriert sich seine Darstellung auf die Entsendung der preußischen Eleven nach Yverdon und die Tätigkeit Zellers in Königsberg, wobei Stadler den Eleven im Hinblick auf den Rezeptionsprozeß eine herausragende Bedeutung zuschreibt. Er geht dabei so weit, daß er den späteren Abbruch der Kontakte zu Pestalozzi nicht nur auf das veränderte politische Klima zurückführt, sondern auch mit der neuen Generation der Eleven in Verbindung bringt, zu denen Pestalozzi - im Gegensatz zur ersten Gruppe - kein engeres Verhältnis fand.
Bei ihrer Darstellung des Rezeptionsprozesses unterscheidet Renate Hinz insgesamt vier Rezeptionsstränge: erstens untersucht sie die Aufnahme der Pestalozzischen Gedanken unter bildungs- und schulpolitischen Aspekten in der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht (Stein, Humboldt, Nicolovius, Süvern); zweitens befaßt sie sich mit den Bemühungen, die Pestalozzische Methode in den von Plamann in Berlin und Zeller in Königsberg geleiteten Erziehungsanstalten praktisch umzusetzen; drittens analysiert sie die Diskussion der pädagogischen Vorstellungen Pestalozzis durch Gneisenau und Clausewitz und erörtert in diesem Zusammenhang auch die 1809 geführte Debatte über die Einführung der Pestalozzischen Lehrart in den Soldatenschulen; viertens verfolgt sie Fichtes Ringen um eine philosophische Grundlegung der preußischen "Wiedergeburt" und untersucht dessen Nationalerziehungskonzeption auf der Grundlage der Pestalozzischen Pädagogik.
Zwar ergeben sich durch die von Stadler und Hinz gewählten Darstellungsperspektiven unterschiedliche Akzentuierungen in der Bewertung des Rezeptionsprozesses, aber ihre Deutungen stehen keineswegs im Widerspruch zueinander, sondern verhalten sich eher komplementär. Ergänzt werden sie - was die Rezeption der Militärreformer angeht - durch die Untersuchungen von Paret, der Clausewitz' eigene Lehrtätigkeit in die Rezeptionsanalyse mit einbezieht und dabei zu folgendem Ergebnis kommt: "Die Erfahrungen seiner Lehrtätigkeit bestätigten Clausewitz in der Auffassung, daß die Aufgabe des Unterrichts nicht darin bestehe, einen fest umrissenen Wissensschatz zu vermitteln. Er müsse vielmehr in dem einzelnen Schüler Sinn für die Aspekte der Wirklichkeit wecken und seine Fähigkeit stärken, diese Aspekte zu begreifen und mit ihnen umzugehen. [...] Was er ablehnte, war die Ansicht, daß Bildung die eher passive Aneignung von Wissen beinhalte. Ihr eigentliches Ziel sei vielmehr die Schulung der geistigen und Gemütskräfte des Schülers, damit dieser auf der Grundlage erworbener Kenntnisse zu eigener Urteilsbildung und selbständigem Handeln finde und auf diese Weise sein Können fortlaufend erweitere" (Paret 1993, S. 248).
Während bei den genannten Autoren im Hinblick auf die Bestimmung des Interesses der preußischen Reformer an der Pädagogik Pestalozzis und an der Einschätzung der Rezipienten bzw. Rezipientengruppen weitgehende Übereinstimmung besteht, lassen sich - was das historisch-politische Umfeld anbetrifft - durchaus unterschiedliche Interpretationen und Schwerpunktsetzungen feststellen. In diesem Zusammenhang erscheint ein Hinweis von Ruth Schefold wichtig, die mit Bezug auf Fichte darauf aufmerksam gemacht hat, daß das Bildungs- und Erziehungswesen der einzige Politikbereich war, in den die französische Besatzungsmacht während der Reformzeit nicht eingriff, während alle übrigen Politikfelder, also die Außen- und Militärpolitik, die Rechts- und Finanzpolitik usw., von französischen Vorgaben bestimmt wurden (Schefold 1944, S. 50). Schon aus diesem Umstand resultierte eine besondere Bedeutung des Faktors Bildung und Erziehung für den Prozeß der Erneuerung des preußischen Staates nach 1806.
Renate Hinz hebt demgegenüber stärker auf die Physiognomie der Epoche ab und charakterisiert den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert als Umbruchsituation, die sowohl von Pestalozzi als auch von den preußischen Reformern als Krise empfunden wurde. Dies habe zu der Einsicht geführt, "daß nur eine neue Bildung und Erziehung den preußischen Staat aus seiner desolaten Situation retten könne" (Hinz 1991, S. 364f.). Im einzelnen heißt es dazu bei ihr: "Der durch diesen äußeren Druck geborene Erneuerungswille macht in dem sich im Übergang zum 19. Jahrhundert vollziehenden Umbruch, der sich nicht nur als ein politisch-militärischer, sondern wesentlich auch als ein ökonomischer, gesellschaftlicher und sozialer erweist, neue Erziehungskonzepte notwendig. Ihnen liegt im Netzwerk der reformerischen - sich zuweilen ambivalent zueinander verhaltenden - Strömungen als Bildungs- und Erziehungsziel ein Menschenbild zugrunde, das in dem einsetzenden Bewußtseinswandel einer politisch-ökonomischen und zugleich humanen Liberalisierungstendenz bei gleichzeitiger Festschreibung auf die Nationenbildung in weiten Bereichen als eine 'Veredelung des Menschengeschlechtes' umschrieben wird" (Hinz 1991, S. 364).
Während Hinz die Pestalozzi-Rezeption der preußischen Reformer von daher im Kontext des nach 1806/07 einsetzenden Modernisierungsprozesses interpretiert, ist Stadler deutlich zurückhaltender, wenn es darum geht, die gesamtgesellschaftlichen Bezüge für die Interpretation der Pestalozzi-Rezeption in der preußischen Reformzeit mit heranzuziehen. Allerdings lassen seine Hinweise vermuten, daß es jenseits der unter politischen Zielsetzungen rezipierten Pädagogik Pestalozzis noch weitergehende politische Übereinstimmungen zwischen den preußischen Reformern und dem Schweizer Pädagogen gab, die sich an liberalen Positionen orientierten - unter diesem Aspekt ist u.a. auch Stadlers auf den Forschungen von Dietfrid Krause-Vilmar (1978) basierende Einschätzung der politischen Haltung Pestalozzis in den Stäfner Unruhen von Interesse (Stadler 1988, S. 406f.). Das Scheitern "einer verfassungsgemäß liberalen Entwicklung" in Preußen gehört daher auch für Stadler zu den wichtigen Faktoren, die das Ende der Pestalozzi-Rezeption, genauer der politischen Pestalozzi-Rezeption, bedingten (Stadler 1993, S. 456), denn auch danach fand eine Auseinandersetzung mit den Pestalozzischen Ideen in Preußen statt. Diese entwickelte sich jedoch, als der Realisierung des Reformprogramms in der nach 1815 einsetzenden Restaurationsperiode der Boden entzogen wurde, mehr und mehr zu einer Angelegenheit der Volksschullehrerschaft.
III.
Genau diese Entwicklung steht im Mittelpunkt des Interesses von Jürgen Oelkers. In seiner Studie "Der Pädagoge als Reformer: Pestalozzi in Deutschland 1800 bis 1830" konzentriert er sich auf die Rezeption des pädagogischen Konzepts Pestalozzis, d.h. seiner Methode, durch die (preußischen) Lehrer. Im Hinblick auf das Muster der pädagogischen Wirkungsgeschichte stellt er dabei folgende These auf: "Wenn Erziehungskonzepte öffentliche Anerkennung finden, dann über den Weg einer emotiven Semantik und in Generalisierung des guten Beispiels, das sich in der Folge gerade nicht auf Dauer stellen läßt" (Oelkers 1995, S. 209).
Auch Oelkers geht bei seiner Analyse der Wirkung der Pestalozzischen Methode in Preußen von den geplanten Eingriffen in das Schulwesen aus und von der damit einhergehenden politischen Nachfrage nach pädagogischen Konzepten. Ebenso wie in den übrigen hier zitierten Arbeiten wird auch bei Oelkers der politische Kontext, in dem sich die Auseinandersetzung mit Pestalozzi vollzieht, mit den Begriffen "gesellschaftliche Krise" und "Modernisierungsbedarf" gekennzeichnet (Oelkers 1995, S. 216). Entscheidende Merkmale des pädagogischen Rezeptionsprozesses im engeren Sinne sind für Oelkers der Aufbau eines dicht geknüpften Netzes von Pestalozzi-Anhängern - vor allem in den Pestalozzi-Zirkeln in Frankfurt am Main und in Berlin - sowie der Umstand, daß die Elementarmethode nicht isoliert, sondern zusammen mit Pestalozzis Konzept der "Menschenbildung" rezipiert wurde. Nur auf diese Weise konnte die Methode zur Basis der intendierten Schulreform werden, mit der man sowohl die Vorstellung von einer autonomen Volksschule als auch die grundlegende Reform des Unterrichts realisieren wollte (Oelkers 1995, S. 219).
Dabei paßte die von den Pestalozzi-Anhängern entwickelte Vision einer Bildung zum Menschen im allgemeinen und einer Bildung zum Bürger mit Hilfe der Elementarmethode genau in das politische Reformkonzept, wie es insbesondere in der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im preußischen Innenministerium vertreten wurde. Den Lehrern fiel bei der Realisierung dieses Ziels eine entscheidende Rolle zu, was sowohl die Entsendung der Eleven als auch den forcierten Aufbau der Lehrerseminare in Preußen während der Reformzeit erklärt. Besonders wichtig waren in diesem Zusammenhang die Berufung Carl August Zellers 1809 nach Königsberg sowie die Einsetzung Wilhelm Harnischs als erster Lehrer des nach Pestalozzischen Grundsätzen ausgerichteten Lehrerseminars in Breslau 1812. Durch Harnischs praktische Seminartätigkeit sowie die Diskussionsprozesse in der zweiten Generation der "preußisch-pestalozzischen Schule" (Harnisch) veränderte sich jedoch die Funktion des Schweizer Vorbilds entscheidend. Dazu heißt es bei Oelkers: "Der Bezug auf Pestalozzi war nicht mehr die Methode oder das, was in Iferten daraus gemacht wurde, sondern das Konzept der Menschenbildung oder die 'Grundideen Pestalozzi's'" (Oelkers 1995, S. 224). Anders formuliert: Für Harnisch und seine Mitstreiter ging es weniger um die Übernahme der Pestalozzischen Unterrichtskonzeption, die sich nicht generalisieren ließ, als vielmehr um das, was man als Volksbildung mit Pestalozzis Ideen begründete. Nach Oelkers setzt mit dieser Verlagerung des Rezeptionsprozesses die Bildung der Legende "Pestalozzi" ein, oder wie er schreibt: "Was neu zur Wirkung kommt, ist der Nimbus von Person und Werk" (Oelkers 1995, S. 225f.).
Dieser Prozeß kennzeichnet jedoch nicht die Auseinandersetzung während der Reformära, sondern bestimmt erst die Pestalozzi-Rezeption in der Restaurationsepoche: Zu dieser Zeit waren die politischen Reformen bereits gescheitert, der Partizipationsanspruch der Bürger gegenüber der staatlichen Macht war nicht mehr durchsetzbar, konkret das Verlangen nach einer "Repräsentation bei der Regierung" - so die Formulierung in der in Breslau erscheinenden Zeitung "Der Vaterlandsfreund" vom 10. Mai 1809 (Scheel und Schmidt 1986, S. 297). Damit wurde auch die gesellschaftspolitische Funktion der Schule entscheidend beeinträchtigt, was sich jedoch kaum auf den weiteren Prozeß der Professionalisierung der Lehrerausbildung auswirkte. Gerade in diesem Zusammenhang wurde Pestalozzi als Vaterfigur wichtig, als Figur, die das Selbstverständnis des sich formierenden Lehrerstandes wirkungsvoll nach innen und außen repräsentierte. Im Ergebnis bedeutet dies für Oelkers: "Pestalozzi ist der 'Pädagoge als Reformer' schlechthin, der typische Erzieher, der nur noch in dieser pädagogischen Symbolik, also ohne politische, gesellschaftliche Bezüge, wahrgenommen wird" (Oelkers 1995, S. 233).
IV.
Versucht man die wichtigsten Ergebnisse der neueren Arbeiten zur Pestalozzi-Rezeption in Preußen zusammenzufassen, so läßt sich zunächst feststellen, daß die Auseinandersetzung mit den pädagogischen Ideen Pestalozzis immer deutlicher im Zusammenhang mit der nach 1806/07 angestrebten Modernisierung des preußischen Staates gesehen wird. Dies führt dazu, daß den Berührungspunkten, die zwischen dem liberalen Gedankengut der preußischen Reformelite und den politischen Vorstellungen des Schweizer Pädagogen bestehen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Mit dem Hinweis auf diese Zusammenhänge wird zugleich erklärt, warum das politische Interesse an Pestalozzi in dem Augenblick versandete, als die realen Bedingungen für eine Umsetzung des Reformkonzepts in Preußen nach dem Ende der Befreiungskriege nicht mehr gegeben waren.
Wenngleich die Neugestaltung des niederen Schulwesens und der Versuch, den Unterricht der Volksschulen mit Hilfe der Pestalozzischen Methode umfassend zu reorganisieren, unmittelbar in den Zusammenhang des staatlichen Modernisierungsprozesses gehören, so nimmt die pädagogische Rezeption im engeren Sinne doch insofern einen anderen Verlauf, als sie auch dann noch weitergeführt wurde, nachdem das Experiment mit der Methode gescheitert war. Das hängt wesentlich mit dem zweiten Rezeptionsstrang zusammen, der Aneignung von Pestalozzis Konzept der Menschenbildung. Insofern ist der pädagogische Diskurs durch eine Verlagerung der Rezeptionslinien gekennzeichnet: Bestehen bleibt - über die Reformzeit hinaus - der Mythos vom "Vater Pestalozzi" und damit ein Leitbild, in dem das Selbstverständnis der (preußischen) Lehrerschaft seinen andauernden Ausdruck findet.
Festzuhalten bleibt, daß das Thema "Pestalozzi und Preußen" nach wie vor von hohem Interesse ist und daß unsere Kenntnisse durch die neueren Veröffentlichungen beträchtlich erweitert worden sind. Pestalozzi selbst hatte die Thematik gewissermaßen vorgegeben, als er sein Verhältnis zu Preußen folgendermaßen charakterisierte: "Der preußische Staat ist der erste und einzige, der durch fortdauernde Begünstigungen nicht nur wohlthätig auf mein Unternehmen gewirkt, sondern auch das, was ich bis dahin zu geben vermochte, zu benutzen suchte" (PSB 10, S. 411).
V.
Literatur:
Hinz, Renate:
Pestalozzi und Preußen. Zur Rezeption der Pestalozzischen Pädagogik in der preußischen Reformzeit (1806/07-1812/13). Mit einer Einf. von Horst Scarbath. Frankfurt a.M. 1991.
Krause-Vilmar, Dietfrid:
Liberales Plädoyer und radikale Demokratie. H. Pestalozzi und die Stäfner Volksbewegung. Meisenheim a. Glan 1978.
Oelkers, Jürgen:
Der Pädagoge als Reformer: Pestalozzi in Deutschland 1800-1830. In: Oelkers, Jürgen und Osterwalder, Fritz (Hrsg.): Pestalozzi. Umfeld und Rezeption. Studien zur Historisierung einer Legende. Weinheim und Basel 1995. S. 207-239.
Oelkers, Jürgen und Osterwalder, Fritz (Hrsg.):
Pestalozzi. Umfeld und Rezeption. Studien zur Historisierung einer Legende. Weinheim und Basel 1995.
Osterwalder, Fritz:
Pestalozzi - ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik. Weinheim und Basel 1996.
Paret, Peter:
Clausewitz and the State. Oxford 1976.
Paret, Peter:
Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit. Bonn 1993. (Der deutschen Ausgabe liegt die 2. Ausgabe des englischen Originals von 1981 zugrunde.)
Pestalozzi, Johann Heinrich:
Sämtliche Briefe. Bd. 10: Briefe aus den Jahren 1816 und 1817. Bearb. von Emanuel Dejung. Zürich 1968.
Scheel, Heinrich und Schmidt, Doris (Hrsg.):
Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein/Dohna. Berlin (DDR) 1986.
Schefold, Ruth:
Der Einfluß Pestalozzis auf die preußisch-deutsche Erhebung (besonders in den Jahren 1807-09). Tübingen, Phil. Diss. [Masch.] 1944.
Stadler, Peter:
Pestalozzi. Geschichtliche Biographie. Bd. 1: Von der alten Ordnung zur Revolution (1746-1797). Zürich 1988.
Stadler, Peter:
Pestalozzi. Geschichtliche Biographie. Bd. 2: Von der Umwälzung zur Restauration. Ruhm und Rückschläge (1798-1827). Zürich 1993.
Stübig, Heinz:
Pädagogik und Politik in der preußischen Reformzeit. Studien zur Nationalerziehung und Pestalozzi-Rezeption. Weinheim und Basel 1982.
(Der Beitrag von Stübig geht zurück auf eine Veröffentlichung in: Bildungsforschung und Bildungspraxis. Schweizerische Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 19 (1997) H. 1, S. 91-100.)