Nationalerziehung und Revolution:

Johann Heinrich Pestalozzis Fabeln als politische Allegorien

Stefan Nienhaus

I.

Der Menschenmaler

Er stand da – sie drängten sich um ihn her, und einer sagte: "Du bist also unser Maler geworden? Du hättest wahrlich besser getan, uns unsre Schuhe zu flicken." Er antwortete ihnen: "Ich hätte sie euch geflickt, ich hätte für euch Steine getragen, ich hätte für euch Wasser geschöpft, ich wäre für euch gestorben, aber ihr wolltet meiner nicht, und es blieb mir in der gezwungenen Leerheit meines zertretenen Daseins nichts übrig, als malen zu lernen." Anmerkung

Diese erste "Figur", d. h. erste Fabel Pestalozzis in seinem Fabelbuch hat einen biographischen Hintergrund. Nach dem Scheitern seiner Versuche als Landwirt und der Schließung der Armenanstalt auf dem Neuhof im Jahr 1780 war Pestalozzi schließlich dem Rat von Freunden gefolgt und hatte den Versuch unternommen, durch Publikationen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Überblickt man seine Wirkungsgeschichte, so möchte man die Perspektive der Fabel umkehren: Nur zu gerne hat man Pestalozzi "Schuhe flicken lassen", man hat ihn als Pädagogen zur absoluten Autorität erhoben, als größten schweizerischen Philosophen nach Rousseau eifrig studiert und auch seine politischen Urteile nach und nach ernst genommen, nur gerade als "Menschenmaler", als Poeten also, hat man ihn dagegen kaum wahrgenommen. Anmerkung Im Pestalozzi-Kapitel seiner "tragischen Literaturgeschichte" Anmerkung nennt Walter Muschg ihn einen "genialen Schriftsteller", der bisher hinter der Popularität des Pädagogen versteckt geblieben sei. Pestalozzis Schreiben sei allerdings "durch und durch zweckgebunden, tendenziös", in dem Sinne, als es nur einer Erziehung mit anderen Mitteln diene. Sein Stil sei überwiegend entsetzlich unbeholfen, ja häßlich, aber wer sich auf diese jeder ästhetischen Ambition ferne Rede einlasse, stosse dann doch "immer wieder auf Seiten von ganz außerordentlicher Gewalt des Ausdrucks". Muschg spricht von dem Roman "Lienhard und Gertrud", würdigt vor allem aber den politischen Schriftsteller Pestalozzi, den Verfasser der "Abendstunde eines Einsiedlers", der "Reden an mein Haus" und die Streitschrift "An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes". Muschg zeigt sich viel offener als seine literarhistorischen Zeitgenossen einer Literatur gegenüber, die nicht einer politik- und gesellschaftsfernen Autonomieästhetik entspricht. Sein auf die politischen Schriften gerichtetes Primärinteresse führt dazu, daß dieser einzige grundlegende Aufsatz über den "Schriftsteller Pestalozzi" die Fabeln nicht einmal erwähnt. Die Ausweitung des Literaturbegriffs und der Einschluß der Gebrauchsliteratur in den Horizont der Literaturhistoriker hat inzwischen den hohen Rang der literarischen Produktion Pestalozzis, seine Leistungen vor allem auch als politischer Autor deutlicher werden lassen. Doch wie schon Muschg stehen nun auch die Handbuchautoren vor dem Problem, was sie aus dem auf einmal riesig hohen Schriften-Berg auswählen sollen. Man hilft sich meist damit, daß dem nicht zu übergehenden Erfolgsroman ein politisches und ein erziehungstheoretisches Hauptwerk zur Seite gestellt werden. Anmerkung Daher erklärt es sich, daß das einzige Werk, das abgesehen vom ersten Band von "Lienhard und Gertrud" tatsächlich erfolgreich war und noch zu Lebzeiten Pestalozzis mehrere Auflagen erlebte, seine "Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens" oder wie es ab der zweiten Auflage schlichter hieß: die "Fabeln" kaum bekannt sind Anmerkung. Die Texte waren lange Zeit nur schwer zugänglich; zwar wurden einzelne seiner Fabeln in die einschlägigen Anthologien aufgenommen, Anmerkung doch das ganze Werk ist erst seit einigen Jahren wieder greifbar. Anmerkung Dies erscheint umso unbegreiflicher, als - wie die Herausgeber der Historisch-kritischen Ausgabe zu Recht betonen - es sich um "kleine stilistische Kunstwerke" handelt, die, "wie die Handschriften zeigen, von Pestalozzi wieder und wieder der Umarbeitung und bis auf das einzelne Wort sich erstreckenden Nachbesserung unterzogen wurden"(PSW 11, S. 378). Möglicherweise liegt gerade darin einer der Gründe für die zögerliche Rezeption. Denn es handelt sich notwendigerweise um kein Werk aus einem Guß, sondern um außerordentlich unterschiedliche Texte, die meist noch nicht einmal den herkömmlichen Gattungskriterien für die Fabel entsprechen. Vor allem aber berühren sie die verschiedensten Themengebiete, was den Erwartungen vieler Pestalozzi-Leser, die den Autor - gleichsam dessen Erziehmethode auf die Dichtungen übertragend - auf einige wenige Grundpositionen reduzieren möchten, nicht entgegenkommt. Der Vielfalt der behandelten Themenbereiche entspricht eine lange Enstehungsgeschichte, deren Anfänge bis auf die Mitte der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts zurückgehen. In seiner Vorrede von 1823 weist Pestalozzi ausdrücklich darauf hin, daß die Fabeln "in den Jahren zwischen 1780 und 1790" (Billen, S.10) geschrieben worden seien. Lange vor dem Erscheinen der ersten Ausgabe im Jahr 1797 hatte er zumindest den Großteil der Texte bereits verfaßt, wobei "die fertige Fabelsammlung bis zu ihrem Erscheinen bei besonderen Anlässen durch neue Stücke bereichert sein wird"(PSW 11, S. 377). Die bedeutendste Erweiterung erhielt die Sammlung in der "Ausgabe letzter Hand" von 1823, in welcher Pestalozzi den meisten Fabeln Ausdeutungen anhängte, durch die er den Leser "wenigstens von einer Seite auf das Wesentliche des Gesichtspunkts"(Billen, S.10), den er bei der Abfassung im Auge gehabt habe, aufmerksam machen wollte. Diese mitunter tatsächlich erhellenden, meist aber reduktiven und ermüdenden Selbstinterpretationen haben die spätere Rezeption mit Sicherheit nicht befördert. Die frühesten Fabeln standen in einem engen Zusammenhang mit dem Roman "Lienhard und Gertrud" (1781-1787), den Pestalozzi als das "A B C - Buch der Menschheit" bezeichnet hatte und auf den somit die "Figuren zu meinem A B C - Buch" zu beziehen wären. Allerdings hat Pestalozzi die "Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" sein "Neues A B C Buch"(10) genannt und überhaupt gerne diesen Titel verwendet, um den Anspruch auf eine einfache und zugleich grundlegende geistige ‘Alphabetisierung’ zu unterstreichen. Höchstwahrscheinlich hat Pestalozzi noch kurz vor der Veröffentlichung Texte überarbeitet und einige hinzugefügt, um den Bezug zu den einige Monate später im selben Jahr publizierten "Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" deutlicher werden zu lassen. Er selbst sah - und nach ihm einige Interpreten - die Fabeln als ein Bilder bzw. Geschichtenbuch an, daß seine "Philosophie der Politik" veranschaulichen könnte Anmerkung. Doch erscheint es unmöglich und der Variabilität der Texte gegenüber ungerecht, sie auf eine Art Bebilderung des einen oder des anderen philosophischen Gedankengangs reduzieren zu wollen. Insgesamt über 270 Fabeln lassen sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Paul Haller, der Verfasser der einzigen umfangreichen Monographie über "Pestalozzis Dichtung" Anmerkung , hat versucht, die Sammlung wenigstens nach den wichtigsten Themengruppen zu ordnen: Etwa die Hälfte könne man als politische und wirtschaftlich-soziale Fabeln bezeichnen, die sich mit der Wirkung der ökonomischen Unsicherheit auf das Leben der Menschen befassen, nutzlose Anhäufung von Kapital anprangern, von notwendigen und von falschen Gesellschaftsreformen sprechen, sich gegen einen demokratische Verfassung äußern und ähnliches mehr. Die politischen Themen stehen jedenfalls deutlich im Zentrum vieler Fabeln, ob konkreterer Art wie diejenigen, die sich mit guter und schlechter Verwaltung befassen, allgemein-weltanschaulich zum Thema "Freiheit" oder als Beiträge zum dem wichtigsten aktuellen historischen Anlaß, wenn sie für oder wider die Revolution Stellung beziehen. Nicht viel mehr als ein Dutzend Fabeln befassen sich hingegen mit rein pädagogischen Themen. Ein Drittel etwa nähern sich einem Inhalt, der noch am ehesten den traditionellen Fabellehren, der Illustrierung einer sittlichen Wahrheit, einem Moralspruch oder einer praktischen Lebensweisheit entspricht. Wenn auch derartige Gruppierungen nur von außen an die Texte herangetragen werden - jede einzelne Fabel steht für sich alleine und sollte als Einzelstück ernst genommen und interpretiert werden -, so sind doch bestimmte inhaltliche Grundtendenzen deutlich auszumachen. Pestalozzi selbst hat dafür einige Fingerzeige gegeben: Es war in den Tagen der annähernden französischen Revolution und in den ersten Spuren der Gefahren, die ihr Einfluß auf die Schweiz haben könnte, daß meine Volks-, Vaterlands- und Freiheitsliebe mich unwiderstehlich hinriß, diese Bögen zu schreiben. (Billen, S. 9) Diese aus dem Abstand von dreißig Jahren verfaßten Bemerkungen sind keineswegs ein Tribut an die inzwischen auch in der Schweiz eingekehrte Restaurationsphase zu verkennen. In seiner bedeutenden politischen Schrift "An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes" hatte Pestalozzi 1815 unmittelbar nach der Besiegung Napoleons ausdrücklich davor gewarnt, nun die unter der französischen Besatzung durchgeführten gesellschaftlichen Reformen radikal zu beseitigen und reaktionär einfach zum früheren Zustand zurückkehren zu wollen. Er erläutert in seinem leidenschaftlichen Pamphlet, "daß sowohl unter der alten Ordnung als auch im revolutionären Aufstand, als auch unter der Herrschaft Napoleons die Würde und die Rechte des Menschen mit Füssen getreten wurden. Die Lösung des Problems liegt daher weder in der Rückkehr zu irgend einem dieser Zustände noch in einem irgendwie gearteten Kompromiß, sondern vielmehr in der Schaffung einer Verfassungswirklichkeit, die in den natürlichen Rechten des Menschen, in der Menschennatur begründet ist." Anmerkung Der vorrevolutionäre wie der revolutionäre Zustand und genauso die napoleonische Zeit der Unterdrückung werden von Pestalozzi nur als verschiedene Phasen einer im Prinzip vergleichbaren Mißachtung der "Würde und der Rechte des Menschen" gesehen. Seine Stellung zur Französischen Revolution ist bestimmt von seinem schweizerischen Patriotismus, Patriotismus verstanden in dem Sinne, den das Wort im 18. Jahrhundert erhielt: die Liebe des aufgeklärten Bürgers zu seinem Vaterland, dessen Regierung er durch praktische und zweckdienliche Ratschläge unterstützt. Die "Gefahren", die der Schweiz von der Revolution drohten, waren für Pestalozzi gerade solche für das Volk und für die Freiheit. Seine Warnungen wurden sicherlich verschärft durch die jakobinische Terrorherrschaft, aber sie galten insgesamt den Konsequenzen, welche die Gewaltsamkeit des revolutionären Umsturzes für die Grundlegung einer neuen Sozialordnung haben mußten. Welche Prinzipien eine gerechte Verfassung leiten müßten, wie sich die "natürlichen Rechte" des Menschen erkennen und respektieren ließen - davon handelt Pestalozzis politische Philosophie und dies ist das bestimmende Thema seiner Fabeln.

II.

Von entscheidendem Einfluß auf die naturrechtlichen Gedanken Pestalozzis, auf sein utopisches Projekt der "Schaffung einer Verfassungswirklichkeit, die in den natürlichen Rechten des Menschen, in der Menschennatur begründet" sein sollte, war zweifellos die Philosophie Rosseaus. Bekannt ist das negative Urteil des alten Pestalozzi über die schicksalhafte Wirkung, die die Lektüre Rousseaus auf ihn ausgeübt habe: "Rousseau fiel mir, ich fiel in Rousseaus Hand"(PSW 18, S. 356). Für seine Unfähigkeit, seine Ideen praktisch umzusetzen, sein dauerndes Scheitern bei der Realisierung seiner pädagogischen Projekte machte er nun ganz Rousseau verantwortlich: "So wie sein Emil erschien, war mein im höchsten Grad unpraktischer Traumsinn von diesem ebenso im höchsten Grad unpraktischen Traumbuch enthusiastisch ergriffen."(PSW 18, S. 224) Pestalozzi nahm den Roman wörtlich, gab seinem Sohn die Namen Hans Jakob und versuchte ihn ganz nach den Anleitungen aus dem "Emile" zu erziehen. Dieses praktische Mißverstehen von Poesie und Theorie war es, was der alte Pestalozzi bedauerte. Im Grunde machte er Rousseau einen Vorwurf, der nur auf ihn selbst zurückfallen mußte. Daß der "Emile" ein "Traumbuch" war, hätte sein Autor niemals bestritten. Das Problem Pestalozzis war, daß er, obwohl die Schriftstellerei immer mehr im Mittelpunkt seines Lebens stand, sich stets als ein Autor mit einer praktischen Botschaft begriff, als ein Verfasser von Ratgeber-Büchern, der die Poesie nur als Erleichterung für sein Publikum hinzutat. "Er hat Fiktionalität nicht zu akzeptieren und schon gar nicht zu würdigen verstanden. Die Unterschiede zu Rousseau können in diesem Punkt nicht grösser sein."Anmerkung Daher war Pestalozzis Entsetzen groß, als er "Les confessions" las. Daß auch die eigene Lebensgeschichte bei allem Anspruch auf ungeschminkte Wahrheit Gegenstand einer sich vieler Masken bedienenden Erzählung sein könnte, war ihm unvorstellbar. Er sah nun sein großes Vorbild als Schwätzer, der nicht erwachsen geworden war Anmerkung. Aber ohne den Erziehungs-Roman Rousseaus wäre Pestalozzi wohl kaum der Autor von "Lienhard und Gertrud" geworden und ohne die Auseinandersetzungen mit dem Naturbegriff und der Idee des "contrat social" hätte er seine Sozialutopie nicht entwickeln können. Sein rein instrumentelles Verhältnis zur Poesie erklärt, wieso der letzte Text der "Fabeln" (Billen, Nr. 237) nurmehr ein äußerst dürftiges fiktionales Gerüst besitzt, das einen rein erörternden Text, der zudem von seiner Länge her (Billen, S. 296-302) in keinem Verhältnis zu den übrigen des Buches steht, tragen muß: Der Unterschied des Waldlebens und des gesellschaftlichen Zustands. Nerin und Philo, zwei Freunde besuchten sich alle Jahre an dem nämlichen Tag und an dem nämlichen Ort, an dem sie sich zuerst kennenlernten, um das Band ihrer damals geschlossenen Freundschaft zu erneuern. Am vierten Jahre hatten sie im Schatten der Bäume, mit welchem dieser Platz bewachsen, folgendes Gespräch. (Billen, S. 296) Damit ist der fiktionale Rahmen für die nun anschließende Erörterung bereits erschöpft; es ist, als ob der Autor es höchst eilig habe, zum Wesentlichen zu kommen, und die ihm eher lästige erzählerische Einfassung rasch erledigen wollte. Das Wesentliche in diesem Fall ist aber nicht mehr und nicht weniger als eine Kurzfassung der politischen Philosophie Pestalozzis, wie er sie in den "Nachforschungen" ausführlich entwickelt hatte. Aufgrund der notwendigen Pointierung in der kondensierten Form des philosophischen Dialogs ist die Entstehung von Pestalozzis Philosophie aus der Auseinandersetzung mit Rousseau im Fabelbuch unter Umständen noch deutlicher. Die Ausgangsfrage der Erörterung besteht in der Umkehrung von Rousseaus Freiheitsfrage, indem nicht mehr der Naturzustand als freier unversöhnlich und unverbunden im Gegensatz zum unfreien gesellschaftlichen Zustand steht, sondern beide gerade in der Unfreiheit der Schwachen ihr Gemeinsames finden; denn unklar sei, worin der Unterschied zwischen dem Waldleben und dem gesellschaftlichen Zustande eigentlich bestehe; im Gegenteil, ich sehe täglich mehr, daß der Starke in dem einen Zustande eben wie in dem andern den Schwachen augenblicklich als Zange und Angel zu seinem Dienste braucht, sobald er etwas im Wasser oder im Feuer sieht, das er lieber mit einer fremden Hand als mit der seinigen daraus herausnehmen und herausfischen möchte. (Billen, S. 296) Die Freiheit des vorgesellschaftlichen Zustandes ist nur eine frei erscheinende Willkür, ein Sich-Gehen-Lassen der Stärkeren auf Kosten der Schwachen; die Willkür aber ist nur ein Ergebnis der Gelüste und Leidenschaften von "Fleisch und Blut unserer sinnlich-tierischen Natur". Mit dem "Gesellschaftsvertrag" wurde nicht eine Einschränkung der blinden Kraft des Tiermenschen im Sinne seiner sittlichen Veredlung erreicht, sondern die Legalisierung des ungerechten Herrschens mit der Lüge, daß das ganz nach der tierischen Natur Leben-können der Wenigen allen zugute komme. Bei der Menge wird nur die Maskierung der rohen Wildheit erreicht, eine Milderung, "deren täuschendes Blendwerk sich oft bis zum Schein des Ästhetisch-Artigen erhebt". Im gesellschaftlichen Zustand wird der Einzelne nicht als Individuum angesprochen, sondern die "Massakultur" spricht ausschließlich die sinnlichen Bedürfnisse des Menschen, seine Instinkte als Tierwesen an. Der Kultur der Masse, die in der Gesellschaft alternativlos zu sein scheint, muß eine Kultur des Individuums entgegengestellt werden: Die Individualkultur und die wesentlichen Bedürfnisse unserer sittlichen und geistigen Veredlung sowie unseres häuslichen Lebens und Wohlstands gehen überwiegend von den Ansprüchen unsers innern, höhern und göttlichen Wesens aus. (Billen, S. 298) Pestalozzi betont das relativierende "überwiegend", weil es ihm darauf ankommt, daß es bei der Entgegensetzung von "Massa-" und "Individualkultur" um die Favorisierung verschiedener, für die anthropologische Grundverfassung gleich wesentlicher Tendenzen geht. Die Ansprüche des "Fleisches und Blutes" können nicht einfach unterdrückt oder zugunsten des "höhern, göttlichen Wesens" ignoriert, sondern müssen überhaupt erst hinter der ästhetisierenden Fassade erkannt und in einem neuen Zustand aufgehoben werden: Soweit indessen die Kunst dieser Umwandlung der tierischen Rohheit des Waldlebens in gefällige Formen des Zivilisationsverderbens getrieben ist; so ist unstreitig, daß ohne Erkenntnis der höhern Wahrheit, die aus den Tiefen des innern Wesens der Menschlichkeit selber hervorgeht, nicht einmal der einzelne Mensch, will geschweigen, die Masse des gesellschaftlichen Zustands sich über die selbstsüchtigen Gefühle, Ansichten und Neigungen der sinnlichen, tierischen Menschennatur und die ihr wesentlich beiwohnenden Unrechtlichkeit, Lieblosigkeit und Unedelmut zu den Gesinnungen der wahren Menschlichkeit zu erheben vermag. (Billen, S. 299) Sein höheres Wesen kann der Mensch nur in seinem Innern erkennen. Die Selbstschau, die "Erfahrung meiner Selbst", nicht die "Erfahrungen äußerer Dinge" könnten allein zur Erlangung des Zustands "wahrer Menschlichkeit" bringen. Daher erklärt sich Pestalozzis Ablehnung der "confessions", die ihm als ein zielloses "Anekdotengezänk"(PSB 3, S. 107) erschienen, weil er in Rousseaus schonungsloser Selbstbespiegelung keinen wirklichen Impuls zu einer inneren Fortentwicklung erkennen konnte. Rousseau hatte Pestalozzi gelehrt, das Individuum als einzige Ressource der Menschheit ernst zu nehmen. Nun las Pestalozzi die Jugendgeschichte seines Meisters als ein ernüchterndes Zeugnis für die Gefahr, sich in äußeren Einzelheiten zu verlieren und darüber das Erwachsenwerden zu verpassen. Das Subjekt, das in den "confessions" ganz im Zentrum der Darstellung zu stehen schien, war für Pestalozzi darin bloß in seinem Zustand des "Zivilisationsverderbens", in welchem es unablässig von seinem inneren Wesen abgelenkt wird, beschrieben worden. Der Kern der verfehlten Zivilisation bestehe im Fördern und Beschützen der sinnlichen Bequemlichkeiten, in der "Ausdehnung, Sicherstellung und Beruhigung sich angewöhnter Sinnlichkeitsgenießungen", also etwa in dem, was man heute "Konsumgesellschaft" nennt. Da in dieser aber nur die amoralische sinnliche Natur des Menschen, nicht aber seine sittlichen Qualitäten entwickelt werden, herrsche auch allgemein die Überzeugung, daß Recht und Gesetz nur "durch Täuschung, Gewalt, Schrecken und Zerstreuung" durchgesetzt werden können. Die Frage, wie man denn den Prozeß "des Zivilisationsverderbens, das [...] durch die zügellose Selbstsucht [...] so allgemein verheerend auf alle Stände des gesellschaftlichen Zustands einwirkt, Einhalt" gebieten könnte, wurde von Pestalozzi bekanntermaßen wieder ganz in der Nachfolge Rousseaus beantwortet. Die Keime des "Edeln, Guten und Schönen", die sich "in der Tiefe unsers innern Wesens" finden, müßten entdeckt und gegenüber dem sozialen Druck gefördert werden. Es gehe um eine "Erhöhung der Wohnstubenkräfte des Volks", die weitestmögliche Autarkie und Autonomie der Familie. Diese könne nur durch eine Rückkehr "zu der kraftvollern und bedürfnisloseren Einfalt unserer Väter" erreicht werden, womit das soziale Elend der vielen "abhängigen, dienstbedürftigen und gnadensuchenden Landeseinwohner" gemindert und "eine neue Basis einer solidern Selbstständigkeit" geschaffen werde. In guter aufklärerischer Tradition glaubt Pestalozzi an die Kräfte der Erziehung. Schon als junger Vater hatte er sich in einer ersten Distanzierung zum "Emile" Gedanken über die notwendige Einheit im Widerspruch von Freiheit und Gehorsam gemacht: "Freiheit ist ein Gut, und Gehorsam ist es ebenfalls. Wir müssen verbinden, was Rousseau getrennt. Überzeugt von dem Elend einer unweisen Hemmung, die die Geschlechter der Menschen erniedrigt, fand er keine Grenze der Freiheit."(PSW 1, S.126) Nun verließ er auch sein Prinzip der häuslichen Erziehung und schlug außer der "Veredlung des häuslichen Lebens in allen Ständen" die "Errichtung von Landesschulen" vor. Das "Beten, das Denken und das Arbeiten" sollten die Anstalten befördern, stets mit "psychologischer Tiefe" Anmerkung und im engen Kontakt mit den Familien. Was genau in den "Landesschulen" geschehen sollte, spart der Text freilich aus und folgt wenigstens damit der Grundtendenz der Fabeln des Buchs, die Pestalozzis Pädagogik im engeren Sinne, seine "Methode" kaum berühren.

III.

Nicht in den "Figuren zu meinem ABC-Buch", aber in der von Pestalozzis Mitarbeiter Johannes Niederer von 1807 bis 1811 herausgegebenen "Wochenschrift für Erziehung" erschienen mehrere Fabeln, die sich ausdrücklich auf seine "Elementarlehre" beziehen (Billen, Nr. 256; 258; 259 und 260). Diese Texte offenbaren noch deutlicher einen rein instrumentellen Begriff von der Fabel, die im ersten Beispiel der Reihe ausdrücklich als Bezeichnung zurückgeweisen wird: Der Zeugnisgeber über die Wirkungen der Elementarbildung. Keine Fabel (Billen, S. 323) Das "Fabel" wird hier offensichtlich nicht als Name für den bestimmten Texttyp abgelehnt, sondern soll jedes Mißverständnis, daß der Leser es hier etwa mit einer Fiktion zu tun haben könnte, von vorne herein ausschließen. Der auf einen solchen Titel, der explizit die eindeutige Verweisung klärt, folgende Text wird somit auf die reine Funktion einer erläuternden Beispielerzählung reduziert. Pestalozzi versuchte sich mit dieser Fabel gegen die Angriffe zu wehren, die mit zunehmendem Erfolg seiner Lehranstalt und einer stetig wachsenden Berühmtheit ihres Leiters zwangsläufig zunahmen. Der haßerfüllte Gegner, der im Text als "Schalk" abqualifiziert wird, sucht dem Institut zu schaden, indem er nur seine Mißerfolge zusammenstellt, während er seine Erfolge unterschlägt: jemand, der einen Baum "haßte", ließ die Äpfel, die noch an diesem hingen, unbeachtet und zeigte nur die abgefallenen und unreifen herum, um seine mangelnde Fruchbarkeit zu beweisen. Gegen die Beschneidung der staatlichen Mittel für sein Institut wehrte sich Pestalozzi mit einer Fabel, die von ihm den barocken und wieder recht eindeutigen Titel erhielt: Das Unglück des Landes, in welchem die Erziehungsgewalten die einen taktlos begünstigen und die andern taktlos beschränken und doch glauben, dass sie im Besitz der Vernunft seien, wie sie im Besitz der Gewalt sind (Billen, S. 325) Die auf den Titel folgende Geschichte erzählt von einem Junker, der nur seine Pferde liebte und seine Kühe verachtete, diesen daher nur das trockene, jenen des fette Heu verfüttern ließ. Dadurch aber wurden sein Pferde schwach und seine Kühe gaben weniger Milch. Doch selbst die offensichtlichen Nachteile seiner einseitigen Begünstigung bringen den Junker, der sich eben im unverbrüchlichen Besitz der Wahrheit dünkt, zur Einsicht, wie aus seinen Worten hervorgeht, die den Text beschließen: "Es ist doch ein Elend in der Welt, je vernünftiger man handelt, je unglücklicher wird man. Aber es ist eine heilige Sache um die Vernunft, wenn man einen guten Grundsatz hat, so muß man nicht von ihm weichen." (Billen, S. 325) Wenn es um die Verteidigung seiner Lehranstalt ging, war Pestalozzi auch zu beißender Ironie fähig. Während sein internationales Ansehen stetig wuchs, blieben die Schweizer Behörden überwiegend skeptisch. Schon im Juli 1799 berief man ihn nicht zur Leitung der Armen-Erziehanstalt in Stans zurück, die man kurzfristig unter dem Druck des Österreichisch-Französischen Krieges nach nur siebenmonatigem Bestehen hatte schließen müssen. Das von Frankreich eingesetzte Regierungs-Direktorium folgte in dieser Angelegenheit gegen die Stellungnahme des zuständigen Minsters Philipp Alber Stapfer, der Pestalozzi wohlwollte, dem Bericht ihres Kommissär für den Kanton Unterwalden Heinrich Zschokke Anmerkung. Zschokke, der 1796 selbst einmal eine Erziehanstalt in Reichenau geleitet hatte, war schon Pestalozzis Rivale bei der Herausgabe eines von der Zentralregierung finanzierten halboffiziösen Blattes geworden, als man ihm ab Anfang 1799 die Leitung des "Allgemeinen Helvetischen Tagblatts" übertrug, welches Pestalozzis "Helvetisches Volksblatt" ablösen sollte. Nun als Staatskommissar für Stans zuständig, schlug er vor, daß man nach dem Ende der Kriegswirren dem Institut doch bitte "eine solidere Organisation" geben möge Anmerkung. Pestalozzi konnte dann zwar in Burgdorf im Berner Land eine Erziehanstalt eröffnen, doch auch dort wurden ihm, sowie die föderale Verfassung die Kulturhoheit den einzelnen Kantonen zuschlug, die Fördergelder für das Lehrpersonal gestrichen. Doch sein Ansehen war inzwischen so groß, daß selbst sein ihm wenig gewogenes Vaterland ihn nicht ganz ohne Unterstützung lassen konnte. Gefahren drohten seinem Erziehungsinstitut inzwischen eher von Innen, von dem negativen Einfluß, den der große Erfolg und der Zuwachs an Zöglingen auf die pädagogische Praxis haben konnten. Auch davor versuchte er in einem Fabeltext zu warnen: Auch in der Erziehung ist es wahr, wo viel darauf angelegt wird zu scheinen, da ist das Betrogenwerden beinahe unausweichlich (Billen, S. 325) Berichtet wird anschließend in der Beispielerzählung, wie ein reicher Mann ein minderwertiges Grundstück zu überhöhtem Preis kauft, weil er sich durch die geschickte Führung des Verkäufers über die eigentliche Qualität des Bodens hat täuschen lassen. Ein Bericht des preußischen Erziehers Karl von Raumer, der mit seinem Zögling Jahre 1810 das Pestalozzische Institut in Iferten (Yverdon) mehrere Monate lang besucht hatte, zeigt eine verblüffende Nähe zu der selbstkritischen Geschichte. Achim von Arnim hat den Bericht Raumers in einem Brief an Wilhelm Grimm zusammengefaßt: Das Elendwerden der dortigen Jugend, die ihr Vaterland endlich vergessend auch an einander nicht mehr teilnehmen, sondern in Angeberei, Freudelosigkeit, Stumpfsinn und eitler mechanischer Fertigkeit untergehen [...]. Du mußt dabei beachten [...], daß er beinahe drei Monate von Pestalozzi geglaubt hat, daß ihn nur der Mangel an Handlangern hinderte, die Fehler zu bessern, bis er sich überzeugte, daß er, der weder unterrichtete noch speiste noch schlief mit den Kindern, sondern blos ein paarmal betete, seine besseren Ansichten in dem praktischen Gedränge aufgegeben, jetzt mehr für seinen auswärtigen Einfluß und Ruf arbeite als für das innere Beste des Instituts. Als er [...] den Sommer kommen sah, wo die Kinder, statt zu lernen, fast täglich jedem Narren von Reisenden vorexercirt worden, da zog er ab mit dem Kleinen (Fritz Reichardt) und endigte das zeitspielige Experiment, wovor der Himmel alle Kinder behüten mag Anmerkung. Auch wenn Arnim und Grimms Interesse den Ruhm des Instituts noch bestätigen, so hatte es in dieser Zeit den Höhepunkt seines Erfolgs überschritten und bereits sein Niedergang begonnen. Ein Regierungskommission hatte im Frühjahr 1810 einen äußerst negativen Bericht über den Fortgang des Instituts veröffentlicht. Den schlimmsten Schaden hatte ihm aber ein Streit innerhalb der Lehrerschaft zugefügt, in dessen Folge im Verlaufe des Jahres wichtige Mitarbeiter Iferten verließen. Arnims Kommentar beschränkte sich nicht auf die schroffe Ablehnung der praktischen Umsetzung der Elementarlehre, sondern bemerkte darüber hinaus, eine eventuelle Veröffentlichung des Berichtes von Raumer "schlüge so herrlich die Philosophen Fichte u. a. m. zusammen". Es war vor allem auf Fichte zurückzuführen, daß Pestalozzis Pädagogik einen zentralen Einfluß auf die Entwürfe der preußischen Reformen gewinnen konnte. Pestalozzi und Fichte kannten sich schon seit 1788, als Fichte bei der Zürcher Familie Ott eine Hauslehrerstelle innehatte. Als er im Sommer 1793 wieder nach Zürich reiste, besuchte er Pestalozzi. Ohne Zweifel haben die Gespräche beide Seiten beeinflußt. Fichte nahm regen Anteil an der Abfassung der "Nachforschungen" und des Fabelbuchs, die anscheindend 1793 schon im Wesentlichen fertig vorlagen.(26) Es dürfte freilich auch kein Zufall sein, daß Fichte gerade im Spätherbst 1793 auf die Idee zur Lösung des Problems einer Philosophie kam, die wissenschaftlich fundiert sein sollte, und daß er seinen ersten Aufzeichnungen des Titel "Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie" gab Anmerkung.Über zehn Jahre später trat Fichte in Berlin als Propagandist der Pestalozzischen Erziehlehre auf Anmerkung. In seinen "Reden an die Deutsche Nation" pries er sie als die Methode für die geforderte Nationalerziehung der Deutschen an; auf die Frage, wie man sich diese Nationalerziehung praktisch vorstellen solle, gebe er zur Antwort: an den von Johann Heinrich Pestalozzi erfundenen, vorgeschlagenen, und unter dessen Augen schon in glücklicher Ausübung befindlichen Unterrichtsgang soll sie sich anschließen Anmerkung. Wilhelm von Humboldt war bei seiner Erneuerung des Volksschulwesens deutlich von Pestalozzi beeinflußt, ja sogar die Heerereformer Gneisenau, Scharnhorst und Clausewitz (der Pestalozzi in der Schweiz besuchte) waren von Pestalozzis Ideen geprägt Anmerkung. 1809 verhandelte der preußische Staatsrat Nicolovius mit Pestalozzi, der noch im gleichen Jahr fünf zukünftige Lehrer, den Kern für ein neues preußisches Unterrichtssystem, in Iferten zur Ausbildung aufnahm. Selbst von Raumer ließ trotz seiner enttäuschenden Erfahrungen nicht vom Pestalozzischen Erziehungsgedanken ab: 1823 schied er aus dem preußischen Staatsdienst aus und gründete ein Jahr darauf in Nürnberg ganz nach dem Vorbild Pestalozzis eine Lehranstalt für verwahrloste Kinder. In seinem Gleichnis "Die Weisheit des Widerspruchs gegen die Elementarbildung" hatte Pestalozzi ausdrücken wollen, daß seine Methode Zeit und Geduld verlangt. Da verlangte der Bauer vom Zimmermann, sofort unters Dach zu kommen: Dieser antwortete ihm: "Es ist noch keine Rede vom Dach machen; das Fundament mangelt ja noch." [...] "Das will ich hintennach machen [...] und ob das Haus in dreißig oder fünfzig Jahren baufällig wäre, das ist mir gleichviel, wenn ich es nur jetzt bald habe." Wenns so ist", sagte der Zimmermann, "so hast du ganz recht", und bauete ihm das Haus, wie er es gern haben wollte. (Billen, S. 324) Unter den Betreibern der Reformpolitik in Preußen waren die Gegner der pädagogischen und bildungspolitischen Vorstellungen Pestalozzis eindeutig in der Minderzahl, doch Übereinstimmung bestand auch im Bezug auf die anzustrebende gesellschaftliche Entwicklung. Die Erziehung des Untertanen zum mündigen Staatsbürger, die Öffnung der Gesellschaft (wie etwa durch die Schaffung der Gewerbefreiheit) durch tiefgreifende Reformen in einem aufklärerisch-emanzipatorischen Sinn, die nicht zuletzt der Intention folgten, eine Revolution durch eine schrittweise und kontrollierte Modernisierung zu verhindern: diese Ziele hatten die preußischen Reformer und Pestalozzi gemein.

IV.

Pestalozzi traute den Lesern seiner Fabeln nicht. Er glaubte nicht, daß sie aus seinen Beispielerzählungen die Moral der unphilosophischen Vorschule zur philosophischen Schule der "Nachforschungen" herausfinden würden. Da seine Texte auf die explizite Moral verzichten, dachte er nun am Ende eine Art Quintessenz aller Lehrsätze in diskursiver Form nachliefern zu müssen. Doch beschränkte er sich nicht nur auf diesen eigentümlichen Anhang seiner Philosophie in kürzester Form. Die umfangreichen Zusätze, die Pestalozzi in der dritten Auflage von 1823 nahezu allen Fabeln hinzufügte, zeugen von dem gleichen Mißtrauen in die Verstehenskraft seiner Leser wie in den Bedeutungsgehalt seiner literarischen Bilder. Wie wenig die späten Erläuterungen zur Erhellung des Sinns der Texte wirklich beizutragen vermögen, wie sie mitunter gar die Polyvalenz in der Bedeutung der Fabelsätze banalisierend einschränken, zeigt das folgende Beispiel: Das Schuhmass der Gleichheit Ein Zwerg sagte zum Riesen: "Ich habe mit dir gleiches Recht." - Der Riese erwiderte: "Freund! das ist wahr; aber du kannst in meinen Schuhen nicht gehen." (Billen, Nr. 117, S. 99) Soweit der ursprüngliche Fabeltext. Seine Deutung erscheint nicht gerade dunkel, läßt aber verschiedenste Konkretisierungen zu. Im Kontext der revolutionären Forderung nach allgemeiner Gleichheit liest er sich als Erläuterung einer liberalen Position, die vom anthropologischen Prinzip einer natürlichen Ungleichheit überzeugt ist. Auch eine Lesart die in dem Text eine Forderung an die Zukunft entdecken wollte, sollte nicht ausgeschlossen werden: Was heißt es "gleiches Recht" zu haben, wenn das Volk immer noch in Riesen und in Zwerge unterteilt ist? Der Text läßt beide (und sicher noch andere) Interpretationen zu, weitere und engere Ausdeutungen müssen sich nicht ausschließen. Lesen wir nun Pestalozzis Zusatz: Das sollte man dem Dorfvogt antworten, der eine Stadtpolizei auf seinem Dorfe haben möchte, und dem Stadtburgermeister, der eine Macht vor seinem Rathaus und vor dem Stadttor, auf Kosten der Stadt, in fürstlicher Parade aufziehen zu machen gelüstete. Wie eine mehrdeutige Fabel von Pestalozzi auf einen eindeutigen und recht provinziellen Sinn reduziert wird, ist schon fast erschreckend. Der Zusatz ist aber nicht nur bezeichnend für Pestalozzis im Grunde gegen die Poesie und ihre Undeutlichkeit gerichtete rational-diskursive Intention, welche die Bedeutungsvielfalt der eigenen Werke so weit wie möglich beschneiden möchte. Es handelt sich darüber hinaus um ein für die bestimmende Tendenz der Selbstauslegungen und auch einer großen Zahl der Fabeln repräsentatives Thema, auf das Pestalozzi die Lesart einschränken möchte: das für ihn auf dem politischen Gebiet allein entscheidende Problem der Verwaltung. Denn unter Politik verstand Pestalozzi zwei extrem unterschiedliche Dinge, die allerdings gemeinsam haben, daß bei ihnen die Frage einer demokratischen oder einer feudalistischen Gesellschaftsordnung keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Pestalozzi bot als seine Staatsphilosophie in den "Nachforschungen" prinzipielle Überlegungen über die moralisch-ethische Entwicklung des Menschengeschlechts an. Wenn er sich Gedanken über die konkrete Sozialordnung und die praktische Politik machte, so versuchte er seinen politischen Pamphleten und auch in vielen seiner Fabeln in erster Linie Bilder einer gerechten Verwaltung zu geben. Schon im 1781 erschienenen ersten Band von "Lienhard und Gertrud", das den Untertitel "Ein Buch für das Volk" trägt, ist es für die negative Darstellung des Vogtes keineswegs von Bedeutung, daß dieser ein undemokratisches Feudalinstitut repräsentiert. Er ist schlecht, weil er schlecht und eigennützig verwaltet, und er tut dies, weil er in seiner individuellen Entwicklung keine höhere sittliche Stufe erreicht hat, sondern auch im gesellschaftlichen Zustand seinem tierischen Egoismus folgen muß. Der Junker, der ihn absetzt, wird als positiver Charakter dargestellt, weil er seine administrative Kontrollaufgabe ernsthaft und ohne Eigeninteresse ausübt, und er seinerseits handelt so, weil ihm seine sittlich weiterentwickelte Individualität es so vorschreibt, und er daher in jeder gesellschaftlichen Position oder Rangstufe auf die gleiche verantwortliche und unegoistische Weise handeln würde. Pestalozzi, der an die sittliche Entwicklung des Individuums glaubte, war an den gesellschaftlichen Institutionen nur insoweit interessiert, als sie jene fördern oder hemmen konnten. Das gesellschaftliche System war für ihn nur in dem Sinne als gut oder schlecht zu beurteilen, als seine Funktionsrollen von guten oder schlechten Funktionären besetzt waren. Die Geschichte vom bösen Vogt in "Lienhard und Gertrud" ist auch für Pestalozzis Skepsis gegenüber der Souveränität des Volkes bezeichend. Denn ungeachtet seiner schlechten Verwaltung konnte sich der Vogt nur deshalb so lange halten, weil ihn die Mehrzahl der Dorfbewohner unterstützte. Das "Zivilisationsverderben" war nach Pestalozzis Ansicht auch keine Frage des materiellen Wohllebens, obwohl er allerdings davon überzeugt war, daß zumindest das die Existenz garantierende Minimum gegeben sein mußte, wenn ein Abgleiten in tierische Gewalt im Überlebenskampf verhindert werden sollte. Doch davon abgesehen gibt es unter den Armen unter seinen Romanfiguren haltlose Intriganten wie auch die in ihrer Makellosigkeit literarisch unglaubwürdige Lichtgestalt der Gertrud, die trotz ihrer Armut als einzige die höchste Stufe des sittlichen Zustands erreicht hat. Pestalozzi bediente sich deshalb so gerne der Fabelgattung, weil ihm die Tiermaske generell als der passende Ausdruck für einen Stand der Menschheitsgeschichte erschien, den er als von tierischem Egoismus bestimmten gesellschaftlichen Zustand denunzierte. Die in der Stereotype des tierischen Charakters ausgedrückte menschliche Verfehlung als einzelne moralische Belehrung interessierte ihn nur noch wenig. In der zweiten Vorrede ("Die Veranlassung dieses Buchs") wird in einem fiktiven Dialog die Möglichkeit verschiedener Ansichten über die Welt diskutiert. Wenn es auch wahr sei, daß die Welt selbst immer gleich sei, zu verschiedenen Zeiten sich aber in verschiedenem Lichte darstelle, wie Bauer und Bauersfrau feststellten, so komme noch hinzu, bemerkt der Knecht Stoffel, daß sie freilich von einem Stier anders als von einem Pferd, von einem Vogel anders als von einem Stein usw. gesehen werde. Daraufhin wird der kluge Knecht vom weisen Großvater ermahnt: "Vergiß nicht [...], die Welt fällt dem Menschen nur dann recht in die Augen, wenn sie ihm auf eine Art darein fällt, wie sei keinem Gras und keinem Stein und keinem Vieh auf Erden also darein fallen kann." (Billen, S. 8) Die mögliche Anwendung des Tierischen überhaupt auf menschliches Denken und Handeln wird als grundsätzliche Anklage genutzt. In "Lienhard und Gertrud" wird das Beispiel einer Fabelerzählung gegeben, durch die eine Romanfigur mit dem sprechenden Namen Nickel Spitz dem Vogt "Gesalzenes aufgestellt", d.h. ihm einen satirischen Spiegel vorgehalten hat. Der Dialogkontext macht klar, daß des Vogts eigene Worte mittels der Fabel gegen ihn und seine schlechte Regierung gewendet werden: Vogt. [...] Was machen? man muß eben mit allem zufrieden sein, wie es ist. Nickel. Vogt! dein weiser Spruch da mahnet mich an eine Fabel, die ich von einem Pilgrim hörte. [...] ich kann sie zum Glück noch: Es klagte und jammerte das Schaf, daß der Wolf, der Fuchs, der Hund und der Metzger es so schrecklich quälten - Ein Fuchs, der eben vor dem Stall stund, hörte die Klage - und sagte zum Schaf: Man muß immer zufrieden sein mit der weisen Ordnung, die in der Welt ist - wenn es anders wäre, so würde es gewiß noch schlimmer sein. Das läßt sich hören, antwortete das Schaf, wenn der Stall zu ist - aber wenn er offen wäre - so würde es denn doch auch keine Wahrheit für mich sein. Es ist freilich gut, daß Wölfe, Füchse und Raubtiere da sein - aber es ist auch gut, daß man Schafställe ordentlich zumache - und daß die guten schwachen Tiere gute Hirten und Schutzhunde haben gegen Raubtiere. Behüte mir Gott meine Hütte, setzte der Pilger hinzu. Es gibt eben allenthalben viel Raubtiere und wenig gute Hirten Anmerkung. Direkt auf die Figur des egoistischen und unfähigen Vogtes bezogen, spricht die Fabel Pestalozzis Überzeugung darüber aus, daß die "Ordnung" für sich alleine noch nichts bedeutete, es hingegen einzig und allein auf die "guten Hirten", also auf die praktische Umsetzung des Regierens ankomme. Sie ist zugleich ein Beispiel für die Unmöglichkeit, Pestalozzis Texte auf einen einzigen und klaren moralischen Satz zu reduzieren. Wie die späteren Zusätze im Fabelbuch den Sinn der Fabeln in keiner eindeutigen Weise zu erläutern vermögen, sondern oft regelrecht im Kontrast zur früheren Beispielerzählung stehen, so erschöpft der Schlußspruch des Pilgers ebensowenig den Sinn seines Gleichnisses. Abgesehen davon, daß im Text nicht ausgemacht ist, wieso es "freilich gut" sein solle, daß es außer den friedlichen Schafen auch Raubtiere gibt, wird darüber hinaus der Klage des Schafes doch mit dem Hinweis auf die guten Hirten keineswegs eine befriedigende Antwort. Der gute Hirt bewahrt es ja nur vor den Klauen der Raubtiere - um es dann später dem Messer des Metzgers auszuliefern. Auch der Hund ist ja nicht ein Feind, der das Schaf von außerhalb des geschützten Hofbereichs her bedroht. Er steht im Dienst des Hirten und gehört dennoch zu denen, die es "schrecklich quälten". Nicht nur also, weil es der Fuchs ist, der sie verteidigt, läßt die Fabel beim Leser viele Zweifel an der "weisen Ordnung, die in der Welt ist" - und nicht nur an ihren Hütern -übrig. Dem gleichen Thema der gerechten Staatsverwaltung ist eine zusammengehörende Serie von Fabeln (Billen, Nr. 211-214) gewidmet: "Das Rechtsgefühl der Tiere" (Billen, S. 242 f.), "Die Freiheitsbegriffe der Tiere" (Billen, S. 243-245), "Wie die Tiere überhaupt regieren würden" (Billen, S. 246-248) und "Der Elefant motiviert sein Urteil über die Regierungsunfähigkeit der Tiere" (Billen, S. 249). Pestalozzi nutzt hier nicht nur äußerst geschickt das traditionelle Stereotypenrepertoire, er verleiht den Fabeln zudem eine zusätzliche Darstellungsebene, indem er den allegorischen Bezug der Tierrollen auf den Menschen in einen im Text selbst ausgesprochenen verwandelt. So wird die von vorne herein gegebene contradictio in adiecto, insofern sich ein tierischer Freiheits- oder Rechtsbegriff prinzipiell ausschließen, scheinbar noch gesteigert, indem sich der Affe vor den versammelten Tieren fragt: "Wenn wir jetzt auch Menschen wären, und wie sie die Erde regieren könnten, was würden wir auch tun?" (Billen, S. 246) Umgekehrt ist es in einer anderen Fabel das Tier, das sich über die eingeschränkten Begriffe verwundert, die sich seine Mittiere vom Abstraktum "Freiheit" machen: "König Löwe verwunderte sich einmal, was doch die Tiere darunter verstehen möchten, wenn sie von Freiheit reden." (Billen, S.243) Nachdem der weise Elefant seine Reaktionen auf die Regierung der verschiedenen Tierarten beschrieben hat, ist er es, der den Bezug auf die Menschenwelt herstellt. Der Elefant zieht die Schlußfolgerung, daß unbedingt alle Tiere nur daran gehindert werden müßten, nach ihrem eigen "Herzen" und "Kopfe" zu regieren: "Aber das würden wir in keinem Fall leiden", schrie der ganze Tierkreis, und der Elefant antwortete: "Ebenso schreien auch unter den Menschen alle die, so euch gleichen, wenn Recht und Gesetze sie hindern wollen, gewalttätig, hinterlistig, niederträchtig, dumm, herzlos und affensüchtig, das heißt also zu regieren, wie ihr es allenfalls auch könntet, wie ich es aber in keinem Fall möchte." (Billen, S. 248) Um die Grenzen gänzlich zu verwischen, tritt in der letzten Fabel der Serie ein Mensch in die diskutierende Tierwelt ein: "Ein Mensch, der diese Elefantenäußerung hörte, sagte zu ihm: ‘Ich wünschte zu wissen, wie du dein Urteil über die Regierungsunfähigkeit der Tiere gegen sie einzeln begründen könntest." (Billen, S. 249) Während der "ganze Tierkreis" - mit Ausnahme des eben im Tierreich als Tyrann regierenden Löwen - die niederschmetternden Urteile des Elefanten zwar betreten, aber schweigend hingenommen hatte, ist es am Ende ein Mensch, der zusätzlicher Erläuterungen bedarf. So zeigt Pestalozzi auch in der Fabelsequenz, wie wenig er von der Verständniskraft seiner Leser hält, denen er glaubte, nun am Ende noch einmal alles mit einer Übersetzung des in der Tiermaske bereits auf ihn gemünzten explizit wiederholen zu müssen. Der erste satirische Pfeil wird bereits damit abgeschossen, daß es erst der Löwe, dann aber der Affe ist, die sich die den Text generierende Ausgangsfrage stellen. Das Rechtsgefühl des Löwen, dem jedes Tier bloß als potentielle Beute entgegentreten kann, besteht in seinem Anspruch auf uneingeschränkte Macht und darin, für seine Gewalttaten niemandem Rechenschaft schuldig sein zu müssen, also eben darin, ein tyrannischer Löwe zu sein. Daß ihm jede Art von Freiheitsbegriff nur wunderlich vorkommen kann, versteht sich von selbst. Das der erste Satz der Fabel an ihn und seine unangreifbare Position erinnert, gibt allen folgenden Reflexionen, wie egoistisch und widersprüchlich sie auch wieder in sich auch sein mögen, von vorne herein die Basis einer totalen Illusion und Realitätsferne. Die Gewalt des Löwen läßt den anderen Tieren ohnehin keine Freiheit, jeder hatte freilich ohnehin ein rein persönlichen Begriff von Freiheit, der einzig von seinen eigenen engen Interessen bestimmt war, Freiheit auch als Freiheit des anderen zu begreifen, ist in den Phantasien der Tiere ausgeschlossen. Der Affe hingegen ist in Pestalozzis Texten (der darin einer breiten Tradition folgt) das rein unernste Tier, dessen Äußerungen stets vollkommen haltlos und stets schwankend sind. Somit aber wird schon die Frage selbst in ein schiefes Licht gestellt, in welchem sie die folgenden Antworten als müssiges Spiel erscheinen läßt. Die Grundtendenz der vier Fabeln über Rechts-, Freiheitsbegriff und Regierungsfähigkeit ist tief pessimistisch; alle Meinungen werden von verschlagenem Egoismus oder bestenfalls von harmloser Dummheit bestimmt, der weise Elefant darf seine treffenden Urteile ausprechen, aber seine Regierung würden die anderen Tiere "in keinem Fall leiden". Die bürgerliche Gesellschaftsordnung erschien Pestalozzi vom tierischen Egoismus bestimmt, seine Tierfabeln sind keine Darstellungen einzelner zu vermeidender moralischer Verfehlungen, sie sind eine Folge von Satiren auf die herrschenden Verhältnisse, die kaum eine leichte Korrektur vorstellen lassen. Dies ist nicht unbedingt eine Besonderheit der Fabel Pestalozzis. Dolf Sternberger hat in seinem Essay über die Fabel festgestellt: "Keine Furcht und kein Mitleid mischt sich hier ein und verdunkelt den Blick für die Phänomene. Lafontaines zwölf Bücher voll Fabeln bilden einen einzigen schauerlichen Triumphzug der Mordgier und Arglist, obgleich alles mit der heitersten Laune vorgetragen ist." Die Fabel spende "keinen Trost" Anmerkung. Letzteres ist zweifellos auch für Pestalozzi gültig, keinesfalls kann aber der gleichwohl auch den Großteil seiner Fabeln bestimmende Lapidarstil als "heiter" wie im Fall der höfisch-eleganten Verse Lafontaines beschrieben werden. Selten witzig, wenn auch häufig satirisch-scharf treffend, sind Pestalozzis Fabeln Ausdruck seines tiefen kulturkritischen Ernstes. Über die fast ausweglos erscheinende gesellschaftliche Situation, über einen etwa frei geschlossenen contrat social machte sich Pestalozzi keine Illusionen: "Der Mensch als Geschlecht, als Volk, unterwirft sich dem Staat gar nicht als ein sittliches Wesen; er tritt nichts weniger als deswegen in die bürgerliche Gesellschaft, damit er Gott dienen und seinen Nächsten lieben könne. Er tritt in die bürgerliche Gesellschaft, seines Lebens froh zu werden und alles das zu genießen, was er als ein sinnliches, tierisches Wesen unumgänglich genießen muß, um seine Tage froh und befriedigt auf dieser Erde zu durchleben. Das gesellschaftliche Recht ist daher ganz und gar kein sittliches Recht, sondern eine bloße Modifikation des tierischen." Anmerkung Außer der schon genannten (Billen, Nr. 212) befassen sich zahlreiche weitere Fabeln mit dem Begriff der Freiheit (Billen, Nr. 25; 62; 72; 75; 85; 87; 151; 226; 228). Eine theoretische, rechtsphilosophische Definition wird ausdrücklich abgelehnt, Freiheit soll ausschließlich verstanden werden als gelebter und konkret erfahrbarer Zustand, in dem Sinne, wie ihn z.B. der Dialog zwischen dem Bauern Stoffel und dem Magister Kleinschmidt, zwischen dem klugen Mann aus dem Volk und dem verbildeten Akademiker, erläutert (Billen, Nr. 85): Stoffel:" [...] Ich meine, der Mensch sei frei, wenn sein Richter für ihn die Waage brauchen muß; und er sei ein Sklave, wenn er wider ihn den Trottbaum brauchen darf." Magister: "Das sind nur Vergleichungen, aber omne simile claudicat - wenn man den Begriff irgendeines Wortes wahrhaft ergründen will, so muß man denselben auflösen und gleichsam anatomieren. [...] Die Erforschung des Freiheitsbegriffs muß in jedem Falle ganz unabhängend von dem Besitz derselben ins Auge gefaßt werden; die Erkenntnis der Freiheit ist die Sache des innern Wesentlichen der Menschennatur, der Besitz der Freiheit aber ist nur die Sache der äußern menschlichen Verhältnisse oder Umstände." Stoffel: "Ich verstehe diesen Unterschied nicht, aber das Totmachen der Tiere und Menschen, ehe man sie antomieren kann, macht unwillkürlich den Gedanken in mir rege, es möchte beim Anatomieren des Freiheitsbegriffs so ein etwelches Totmachen des Gegenstandes den dieser Begriff bezeichnet, vorhergehen müssen. Ich muß dir gestehen: trotz deines omne simile claudicat scheint mir in dieser Rücksicht das Waagerecht unendlich mehr wert als dein Anatomieren." (Billen, S. 75) Pestalozzi unternimmt nicht den geringsten Versuch, seinem Bauern ein einfaches bäuerliches Sprechen zu verleihen; für seine Beispielerzählung geht es ihm nicht um eine auch nur entfernt realistische Darstellung von Figuren, die mit Namen und Stand genügend gekennzeichnet sind. Bauer und Akademiker stehen für typische Weltanschauungspositionen. Sie haben damit keine andere Funktion als die Tierfiguren, das Holzschnittartige liegt in der Absicht des kurzen Fabeltextes. Während der Magister hervorhebt, daß niemand eigentlich genau sagen könne, "was zwischen Freiheit und Sklaverei für ein Unterschied sei" und selbst gleichfalls nur eine formale Begriffsdefinition zu geben in der Lage ist, gibt der Bauer "Vergleichungen", gleichnishafte Bilder, die mit einem Schlag den Sinn des abstrakten Worts zu erhellen vermögen, in diesem Fall ganz im Lessingschen Sinne der "anschauenden Erkenntnis". Die Mehrheit der Fabeln spricht von Freiheit bloß in einem negativen Sinne, klagt vor allem die Mächtigen an, die ihre Unterdrückung auch noch als Schutz der Schwachen ausgeben; der Zyklop, der den Menschen an immer kürzerer Leine hält ("Zyklopenschutz"; Billen, Nr. 25); der Fuchs, der aus Klugheit alle Eier der Henne und nicht sie selbst frißt, die daher vom Esel auch noch der Undankbarkeit bezichtigt wird ("Die undankbare Henne"; Billen, Nr. 62); die Eiche, die von dem durch ihren Schatten verkümmerten Bodengras Dankbarkeit für den Schutz durch ihre Blätter im Winter erwartet (Billen, Nr. 72). Sehr schweizerisch klingt das Hohelied auf die bescheidene Selbstständigkeit, das in den Fabeln "Zwo Weiden" (Billen, Nr. 75) und "Ein Stier und ein Biber" (Billen, Nr. 226) angestimmt wird. In "Zwo Weiden" verzichten die Tiere einsichtig und freiheitsbewußt auf diejenige der zwei Weiden, die zwar die sattere ist, wo sie jedoch ständig an Leib und Leben bedroht sind, und beschränken sich klug auf die ärmere, wo sie unbehelligt grasen können. Dem Stier dagegen, der sich der Wärme seines Stalls und der Überfülle des ihm zugefütterten Heus dem Biber gegenüber, der doch nur "unter Wasser" leben müsse, gerühmt hatte, wird von diesem folgendermaßen Bescheid gegeben: "Ich aber liebe meine Wohnung, die ich mir selbst baue und in der ich frei bin, und möchte um alles in der Welt nicht eine Wohnung, die mir ein anderer baute, und mich nicht wie dich darin angebunden finden, wenn er dich anjochet und zum Pflug oder Wagen anspannen will." Als wäre dies nicht schon klar genug, fand Pestalozzi in diesem Fall noch den Zusatz notwendig: Wem seine Freiheit und sein Recht nicht mehr ist als seine Bequemlichkeit, der ist in jedem Fall ein armseliger Tropf. Ich habe in meinem Leben unter allen Gefangenen, die ich sah, niemals ob keinem lachen müssen als ob einem an Händen und Füßen gefesselten Manne, der mit stolzer Behaglichkeit in seinem dunklen Loche saß. (Billen, S. 274 f.) Der erste Satz des Kommentars von 1823 ergänzt das Epimythion, dessen Lehre Pestalozzi in der ersten Ausgabe zu Recht schon in der Geschichte klar genug enthalten und in einer derartig penibel-aufklärerisch expliziten Form obsolet erschien. Anschließend übersetzt er den moralischen Satz allerdings erneut in eine Erzählung, die wiederum die Erkenntnis anschaulich machen soll. Worin sollte das Neue bestehen, das die Anekdote der schon erzählten Fabel hinzufügt? Das zweite Gleichnis verlagert die Handlung in die Menschenwelt, erspart damit bloß noch die kleinste Mühe der Übertragung der Tiermaske aufs menschliche Verhalten, bleibt jedoch, was die Bedeutung betrifft, bis hierhin redundant. Einem genaueren Lesen offenbaren sich freilich auch in diesen einfachen Sätzen Pestalozzis irritierende Elemente. Was löste das Lachen eigentlich aus: ein selbstwußtes Komödiantenstück des Gefangenen, der "Behaglichkeit" - sogar übertrieben "stolze" - in offenem Kontrast zu seiner erbärmlichen Lage vorspielte? Zweifel sind angebracht, denn kaum ist anzunehmen, daß das "dunkle Loch" bloß eine unpräzise Metapher ist, wie sie umgangssprachlich für das Gefängnis gebraucht wird. Sie verstärkt einerseits den Kontrast zu "Behaglichkeit", stellt aber andererseits die Situation insgesamt in Frage, denn der Beobachter kann in einem derartigen Verließ den genauen Ausdruck des Gefangenen unmöglich erkennen. Ist er nicht vielleicht selbst der Häftling, der sich über sein eigenes Wohlbehagen im Kerker zu amüsieren versteht? Die Fabeln sind nur dann noch lesenswert, wenn ihr kritischer Spiegel uns allen vorgehalten werden kann. Wir gehören zu "allen Gefangenen", wie wir uns mal im Stier erkennen, mal vor uns als Löwen erschrecken sollen: "Die Fabeln bilden einen Vorrat möglicher Macht- und Rechtsverhältnisse, einen Katalog von Charakteren oder Rollen, die wir in der menschlichen Gesellschaft spielen können. Wir selber, wir Individuen, sind bald Wolf, bald Schaf, bald Löwe, bald Fuchs und bald Esel. Je nachdem."Anmerkung Pestalozzi bliebt nicht bei seinem Bilderreigen für negative Freiheitsbegriffe stehen. In seiner Fabel "Das Wallen und Weben der Menschen" (Billen, Nr. 151) bedient er sich der antiken Symbole des Webens und der Biene und gibt beiden ene moderne Wendung. Der Schicksalsfaden wird nicht mehr von den Göttern als unabänderliche Gesetzmäßigkeit gesponnen, den Webstuhl ihres Schicksal betreiben die Menschen selbst: Der Mensch setzt sich auf den Stuhl der Natur und webt mit seinem Geschlechte ein großes Gewebe. (Billen, S. 127) Doch die Göttin der Poesie, die ihm "zu jedem Gedanken des Herzens ein Bild zeigt", eröffnet dem Fabelerzähler nur "Bilder des Unrechts und der bösen Gewalt". Die menschenverachtenden Tyrannei, in der die Besten durch "Fußtritte zur ewigen Unbrauchbarkeit" verkrüppelt werden; die sinnlose, zügellose Gewalt, die nur alles "in schrecklicher Verwirrung" läßt; dann diejenigen, die im "Totengewebe" ihres Daseins sitzen, von wo aus sie die Welt nur als einen "einzige[n] aus sich selbst gesponnene[n] Faden" sehen können und "in wilder Selbstsucht" nur "lauren, fangen, morden, saugen". Was im hohen Ton begann und wie eine Hymne auf das große Menschengeschlecht einsetzte, endet in der schlimmsten Verfluchung. Der Erzähler, entsetzt über die Bilder zu seinen Gedanken, bittet die Göttin inständig, ihm doch ein positives zur "geselligen Freiheit" und zum "gesellschaftlichen Recht" des Menschen zu schenken. Eines des tätigen, webenden Menschen, steht dazu nicht zur Verfügung. Es bleibt das antike, schon von Aristoteles verwendete, der "geselligen Biene". Der Bienenstaat diente bereits den Patristiker als Vorbild für den idealen Staat der Menschen Anmerkung. Nicht mehr auf die Ordnung der königlichen Herrschaft als solcher liegt der Akzent, sondern auf der freiwilligen Selbstbeschränkung der Bienen untereinander und des Königs gegenüber seinem Volk: Ihre Zellen sind innigst verwoben, aber auch haarscharf getrennt, und die Selbständigkeit der einzelnen Bienen ist gesichert, wie die Selbständigkeit des Korbs. Ihr König hat keinen Zutritt, weder zu ihrem Honig noch zu ihrer Brut. Er ist mächtig, und sie sind frei: aber sie sind nicht frei, weil er mächtig ist; - er ist mächtig , weil sie frei sind. (Billen, S. 129) Eine utopische Vision, die im Text auch als eine solche unterstrichen wird: "die Göttin erschien mir im Lichtglanze des Himmels. Sie hatte in der Rechten einen goldenen Bienenkorb, den eine Sonne umstrahlte" (Billen, S. 128).

V.

Die Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff konnte auch deshalb für Pestalozzi und seine Zeitgenossen keine akademische Disputation bleiben, weil die Französische Revolution und das expandierende Frankreich der Folgejahre bis zum Wiener Kongreß die Gesellschaftordnung und die Autonomie der Schweizer Republiken bedrohten. Es war seine "Volks-, Vaterlands- und Freiheitsliebe", wie Pestalozzi in einer bereits zitierten Vorrede zum Fabelbuch schrieb, die ihn "in den Tagen der annähernden französischen Revolution" vor den "Gefahren, die ihr Einfluß auf die Schweiz haben könnte", hatte warnen lassen. Die 44. Figur ist schon durch ihren Titel: "Nur noch jetzt nicht" in den Zusammenhang der Chronologie gestellt und ist ganz auf die zeithistorische Situation zu beziehen. Der Text ist wohl kaum unter die poetisch gelungenen Fabeln zu zählen und muß eher als eine künstlerisch wenig anspruchsvolle Gleichniserzählung charakterisiert werden. Gerade deshalb liefert er aber auf engstem Raum eine äußerst klare Stellungsnahme zum Problem der Revolution im Gang der Geschichte: Die Woge schwoll, es war keine Rettung für das Dorf, als den Damm im Park zu durchschneiden und ihn mit allen seinen Rebhühnern, Rehen und Hasen den Wellen preiszugeben. Das Volk bat. "Nur noch jetzt nicht", erwiderte der Junker. Die Gefahr ward dringender. Das Volk kniete und bat: "Wir sind [...] verloren, wenn Sie den Damm nicht durchschneiden." Aber der Junker liebte das Vieh im Park und kannte das Volk im Dorfe kaum. Darum schien ihm auch ihre Bitte eine sträfliche Unaufmerksamkeit auf den Parkschaden [...]. Er hielt deswegen auch ihr Knien für eine unanständige Zudringlichkeit [...] und sprach ernst und unwillig: "Nur noch jetzt nicht" - und noch einmal: Nur noch jetzt nicht" war auf seinen Lippen, als der Damm brach, und Land und Park und Rebhühner und Menschen miteinander verschlang. (Billen, S. 44f.) Die alles verschlingende Sturmwelle ist als Allegorie der Revolution nicht weniger eindeutig als die Darstellung des unbeweglichen Feudalinstituts in der Figur des Junkers, der nicht ein Jota seiner Privilegien opfern möchte und in seinem "verhärtete[n] Welt- und Tiersinn", wie es im Zusatz von 1823 heißt, nicht begreifen kann, daß die Klagen des Volks (das im Text für sich selbst steht) eben nicht bloße Angriffe gegen Standesgrenze und Besitz sind, und daß alles sich ändern muß, damit es so bleibt, wie es ist. Egal, was man vor ihr hält, die Revolution wird als eine Naturgewalt gesehen, der nicht zu entkommen ist. Es ist unmöglich, sie einfach zu ignorieren, wer dies versucht, wird von ihr fortgespült. Schon seit den Tagen der Armenanstalt auf dem Neuhof (1774- 1780) hatte Pestalozzi versucht, praktisch neue gesellschaftliche Modelle zu entwickeln und publizistisch - wenn auch bis zum Erscheinen seines Romans erfolglos - für Reformen einzutreten Anmerkung. Seine Reaktion auf die Französische Revolution läßt sich besser begriffen, wenn man Pestalozzis enge Bindung an die bedeutendste und einzig überregionale Aufklärungsgesellschaft der Schweiz, die Helvetische Gesellschaft und andere Sozietäten der Zeit berücksichtigt. Pestalozzi war im wörtlichen Sinne ein Zögling der Schweizer Aufklärung, hatte er doch schon an der Schule bei Johann Jakob Bodmer, der mit seinen Schülern die eben erschienenen Werke Rousseaus las, und bei Johann Jakob Breitinger gelernt. Bereits als Neunzehnjähriger wurde Pestalozzi in Zürich eines der Gründungsmitglieder der von Bodmer gestifteten Helvetischen Gesellschaft, zu der alle bedeutenden Aufklärer der Schweiz, natürlich auch Lavater und Füßli gehörten. Ab 1774 besuchte er deren Zweigstelle in Schinznach, wo er den Basler Ratsschreiber Isaak Iselin kennenlernte, der zur entscheidenden Figur für seinen publizistischen Durchbruch werden sollte. Die Helvetische Gesellschaft war eine typische patriotische Vereinigung, nur, daß in den Schweizer Stadtrepubliken das Selbstbewußtsein der Bürger, einen praktisch-sinnvollen und notwendigen Beitrag zur Regierungsverwaltung des Landes leisten zu können, noch ausgeprägter war als in den meisten norddeutschen Sozietäten, die mit ihren vorsichtigen Verbesserungsvorschlägen meist auf die schroffe Abelehnung durch absolutistische Beamten trafen. Die Zürcher Patrioten hatten keinerlei Bedenken, direkt gegen Mißstände vorzugehen, zwar hatten auch sie mit einer die Helvetische Gesellschaft als lästigen Störenfried empfindenden und manchmal hart zurückschlagenden Verwaltung zu tun (was Pestalozzi 1767 einige Tage Arrest einbrachte), aber die Sicherheit, mit dem Bürger- zugleich ein Mitspracherecht zu besitzen, dürfte für sie nie wirklich in Zweifel gestanden haben. Pestalozzi blieb stets davon überzeugt, daß das Vereinswesen einen zentralen Beitrag zur aufklärerischen Reform der Gesellschaft leisten könne. Außer der Helvetischen Gesellschaft gehörte er der Ökonomischen Gesellschaft in Bern an, die physiokratische Grundsätze zu verbreiten suchte. Wie stark seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer derartigen Beinflussung der Gesellschaft durch das Vereinswesen war, zeigt sich auch daran, daß er 1781 mit den meisten deutschen Intellektuellen Mitglied des von Bayern ausgehenden Freimaurerbundes der Illuminaten wurde Anmerkung. Diese Geheimgesellschaft sollte nach den Absichten ihres Gründers, des Ingolstädter Rechtsprofessors Karl Weishaupt, durch eine Art Unterwanderungsstrategie die absolutistischen Regierungen zu Fall bringen. Pestalozzi wird die Kritik Lavaters an den Illuminaten gekannt haben, der Knigge gegenüber seine Distanz zum Orden damit begründete, daß er nicht arrogant genug sei, die Menschen auf geheimen Wege und nach einer planvollen Strategie reformieren zu wollen, wozu nur Gott in der Lage sei und das Recht habe Anmerkung. Inwieweit Pestalozzi von den geheimen Plänen Weishaupts überhaupt etwas ahnen mochte, mag dahingestellt bleiben, sein Eintritt in den Bund der Illuminaten bestätigt jedenfalls sein ungebrochenes Interesse an den Aufklärungsgesellschaften. Die erste ausführliche Schrift, mit welcher Pestalozzi seine Meinung über die Französische Revolution "ganz und unverhohlen" sagen wollte, war die 1793 verfaßte Abhandlung "Ja oder Nein?"(PSW 10, S. 107). Im Jahr zuvor war er zum Ehrenbürger der Republik erklärt worden. Er war dennoch niemals wirklich ein Befürworter der Revolution gewesen und sein Urteil darüber stand spätestens seit den ersten Nachrichten von den Pariser "Blut-Bachanalien" fest (PSW 10, S. 159). Die "gefährlichen Neigungen einer gewaltsamen Selbsthilf" waren für ihn ein Unheil, das zwangsläufig zur "Anarchie" führen mußte (PSW 10, S.77). Er ließ aber genauso wenig einen Zweifel daran, daß ihm die Revolution unvermeidlich erschien und wer seiner Ansicht nach die eigentliche Schuld an ihr trug; in der Entwurfsfassung führte er zum Ausdruck seiner Position eine Fabel an, die vielleicht gerade wegen ihrer groben Deutlichkeit in der endgültigen Fassung fehlt: Anmerkung Wenn der Wolf oben am Bach auch noch so laut brüllt, das Schaaff sy die Ursach des trüben Wassers, das von oben ihm herab (selber zum Schaaf hinunter rinnt) fließt, so muß man, eh man dem Wolf Recht gibt, vorweg auch sehen, obs denn auch möglich sey, daß er Recht haben könne. Und wenn das nicht müglich, so muß man dem Schaaff Recht geben, wenn man auch nicht hinteren kann, daß der Wolf ihns dafür frißt, und wenn das gefressene Schaaff auch würklich die Krezze im höchsten Grad gehabt hette. Dieses bydes endert sein Recht nicht. Diese Bogen sind ein Versuch, über diesen Gegenstand einiges Licht zu bringen (PSW 10, S. 81). Durch den letzten Satz erklärt Pestalozzi seine diskursiven Erörterungen zur Explikation des Gleichnisses. Sein Aufsatz besteht hauptsächlich in einer ununterbrochenen Kette von Beispielen für das gesellschaftliche Unrecht des absolutistischen Regimes und die Ausbeutung des unterdrückten, rechtlosen Untertanenvolks durch die wenigen Herrschenden. Sie sollten beweisen, daß es nicht möglich sei, daß der Wolf "Recht haben könne", daß also alle Ursachen für die unhaltbare Situation, ausschließlich den nun bedrohten Herrschenden anzulasten seien. Pestalozzi versuchte, alle unterdrückerischen Maßnahmen der absolutistischen Herrscher als Ergebnisse purer Machtkonzentration zu zeigen, als im Reich Ludwigs XIV. auf seiner höchsten Stufe realisiertes Hofrecht, welches das alte Feudalrecht ablöst. Dieses basierte noch auf gegenseitigem Verpflichtungsverhältnisses, in der alten Ständegesellschaft erschien Pestalozzi ein möglicher Ausgleich zwischen Herrschaft und Untertan noch möglich, die höfisch-absolustistische Macht erst machte aus dem Untertanen, der doch einen Rechtsanspruch und ein soziales Selbstbewußtsein besitzen konnte, den rechtlosen und erniedrigten Sklaven, der mit der Zeit seine Würde und sein Ehrgefühl verliert. Ursachen der Revolution seien "große, entschiedene Regierungsirrtümer und drückendes, allgemein verbreitetes Leiden und Unrecht"(PSW 10, S. 77), sei das in Versailles erstmals verwirklichte "höchste Raffinement der Hofallmacht gegen die Menschheit" (PSW 10, S. 86). Der Ruf nach Freiheit sei in der alten Feudalgesellschaft unbekannt gewesen, erst das Gefühl sozialer Verachtung und die materielle Not hätten ihn hervorgebracht: Mit einem Wort, die Allmachtsansprüche der Höffe haben alle alten Banden der alten geselschaftlichen Ordnung aufgelöst, und die gegenwertigen unordentlichen Bewegungen der Völker sind nicht anders als bloße Folgen der schon längst durch die Hand der Könige und aller Gewalthaber pysischer Macht aufgelösten Krafft des bürgerlichen Rechts und der bürgerlichen Geseze. Es ist nicht dem Volk anzulasten, daß es vom "Revolutionsschwindel" (PSW 10, S. 101) erfaßt und den schrecklichen Irrweg der gewaltsamen Veränderung der Verhältnisse eingeschlagen hat. Es gehe ihm daher nicht darum, "die Volksfehler zu rügen", sondern deren Ursachen zu erforschen (PSW 10, S. 142). Keineswegs klagte Pestalozzi irgendeine besondere Regierungsform an. Die Französische Monarchie seit Ludwig XIV. schien ihm ja auch nur eine besonders extreme Entartung des feudalen Systems zu sein, nicht ein Hinweis auf einen in der monarchistischen Herrschaftsform liegender Strukturfehler. Mehrfach bekannte er sich als Republikaner Anmerkung, dies bedeutete aber nicht, daß er die republikanische Gesellschaftsform für per se gerechter und freiheitlicher hielt als andere. Seine Anthropologie ging ja davon aus, daß der Mensch auch im gesellschaftlichen Zustand meist nur nach seinem tierischen Egoismus handelt. Die Sätze von Pestalozzis Revolutions-Abhandlung lesen sich wie eine diskursive Variante nicht nur der in seiner Ausgangsfabel, sondern auch in den anderen politischen Fabeln in Bildern meist klarer ausgedrückten Ansicht. So finden wir die Überzeugung des Elefanten, daß seine Regierung dann am nützlichsten wäre, wenn sie die anderen Tiere daran hindern könnte, nach ihrem jeweiligen Einzelwillen zu herrschen (Billen, Nr. 213, s. o.) in den folgenden beschwörenden Sätzen an die "Gesetzgeber des Reichs" gespiegelt: Bey allen möglichen Formmen der gesellschafftlichen Einrichtungen ist das Wesen der bürgerlichen Freyheit immer ein und eben dasselbe, nemmlich die gesezliche Sicherheit des Bürgers gegen wiederrechtlichtliche Anmaßungen der bürgerlichen Obermacht, heiße diese Obermacht König, Bürgerrath, Nationalconvent oder welchen Nahmen sie auch immer habe. Es ist aber in der Natur des Menschen gegründet, daß diese Obermacht, in so fern sie sich als solche fühlt, immer zum Übergewicht gegen die ihrer Willkühr entgegen stehende Volkskrafft, das ist zur Despotie hinlenke. Das Hinstreben zur Despotie ligt also in allen möglichen Formmen des Gouvernements. Die große Frage der Freyheit ist nur diese: Was sichert die gesezliche Volkskrafft vor der Gefahr, dem egoistischen Hinstreben dieser Obermacht zu unterliegen?(PSW 10, S. 158) Das Unrecht des Wolfs hat Pestalozzi in seiner Abhandlung lang und breit exemplifiziert und bewiesen. Die in der Fabel verneinte Frage, ob man auch verhindern könne, daß der Wolf das Schaf ungeachtet seines Rechts trotzdem frißt, stellte er sich am Schluß der Schrift auf eine sehr komplexe Weise. Die neuen historischen Realitäten, welche die Französische Revolution geschaffen hatte und die sich als Jakobiner-Terror gegen die Versuche einer Konterrevolution und durch die siegreiche Revolutionsarmee gegen die reaktionäre Allianz behaupteten, bedeuteten für Pestalozzi nun allerdings, daß es nicht bloß mehr um die "Krezze" des Schafs, d. h. also den aufführerischen und selbst im Kern verdorbenen Volkscharakter ging, sondern daß nun an die Stelle der "Hofallmacht" die Allmachtsansprüche des Volks getreten waren. Dies wird in der Fabel nicht erzählt und nur kurz angedeutet, denn sie hatte ja auch in erster Linie den Hauptgesichtspunkt der Abhandlung - die Darlegung der Gründe für den Aufstand der unterdrückten Untertanen - in ihrer bildlichen Konzentration zu antizipieren. Der Text verwirrt sich hier deutlich in Widersprüche: Die "trüben Wasser" stehen für den verworrenen und zur Anarchie tendierenden Zustand der Gesellschaft. Die aktuelle Lage in Frankreich hätte in der Fabel allerdings nur in einer Umkehrung der Machtlage zwischen Wolf und Schaf ausgedrückt werden können, die Grenzen der Tiermasken hätten durchbrochen, das Schaf hätte den Wolf verschlingen müssen Anmerkung. Denn für Pestalozzi hatte sich inzwischen das Schaf=Volk längst selbst in den Wolf=Despoten verwandelt. Er warnte genauso eindringlich vor den Auswüchsen der Revolution, wie er ihr nicht vom Volk verschuldetes Ausbrechen begründete. Seine Bemerkung in der Vorrede zur späteren Fassung seiner Abhandlung, daß jetzt "Oestreich und Preußen den Freiheitstaumel mit Glück und ad hominem widerlegen" (PSW 10, S. 106), war keine Revision seiner früheren Positionen, sondern drückte seine Erleichterung über die endlich beseitigte französische Bedrohung aus. Während sein Fabelbuch in leicht zu deutenden Gleichnissen vor den Gefahren der Revolution warnte und den noch Herrschenden - sollten sie sich nicht rasch besinnen - ihren sicheren Untergang in klaren Bildern vorstellte, wandte er sich im gleichen Jahr in einem kurzen und scharfen Pamphlet "Oratio pro domo" direkt an die Regierung seines Vaterlandes. 1797 ging es für die Schweiz nicht mehr bloß um die Niederwerfung lokaler Volksrevolten, wie den Aufstand der Stäfer Bauern gegen die Zürcher Stadt zwei Jahre zuvor. Es drohten blutige Unruhen in der Stadt selbst und es standen vor allem die französischen Heere an den Grenzen und warteten nur auf einen Vorwand zum Einmarsch. Pestalozzi erinnerte in seiner Streitschrift an die Qualitäten der eidgenössischen Verfassung, die ihm weiterhin als vorbildlich und nur durch Kastenegoismus pervertiert erschien. Er zeigte auch in diesem Fall eine enge Verwandtschaft zu seinem Vorbild Rousseau, der seinerseits die Republik Genf als Beispiel eines glücklichen Gemeinwesens gelobt hatte, wie nun er jene Zeiten Zürichs beschwor, in denen es noch einen freien Erwerb des Bürgerrechts gegeben habe und die Landbevölkerung noch nicht bloß arrogant ausgenützt worden sei Anmerkung. Die Grundlage der "lieben Verfassung" des Stadtstaats bestehe in einer "gesellschaftlichen Redlichkeit, der bürgerlichen Gleichheit und der wahren Freiheit" Anmerkung, also dem, was den Kern der revolutionären Forderungen ausmachte. Doch Gruppenegoismen hätten dazu geführt, das nur eine Minderheit der Bürgerschaft die politische Macht für sich allein beanspruche und die Mehrheit davon ausschließe. Gerade der scheinbar nur positive Aspekt des schnell wachsenden Wohlstandes und die "Vermehrung der Sinnlichkeitsgeniessungen und leidenschaftlichen Anprüche" habe, durch Regierungsfehler gefördert, "den Zeitgeist des Revolutionierens" überall "belebt und genährt"; Reformen seien notwendig und angesichts der "Umstände der Zeit", d.h. der französischen Bedrohung, "unaufschiebbar" Anmerkung. Doch die friedlichen und schrittweisen Umgestaltungen der Gesellschaft könne man nur durchführen, wenn man zunächst einmal, "eine vollkommene Beruhigung des Volks" erreiche, also den konkreten Forderungen der Aufrührer entgegenkomme. Vor allem etwa auf die traditionellen Privilegien des Zunftzwangs, welcher der Landbevölkerung keine Berufsfreiheit zugestehe, müsse verzichtet werden, und insgesamt müsse "das endliche Ziel der Veränderung über alle Besorgnisse erhaben" sein und "die Perspektive desselben" dem Volk klar gemacht und zugesichert werden Anmerkung. Das Insistieren auf die Besonderheit der Zürcher Republik gegenüber dem in Hofdespotismus verfallenen oder im Revolutionsstrudel versinkenden übrigen Europa findet sich auch im Fabelbuch. Pestalozzi bemüht bei Texten, die akzentuierte Warnungen angesichts der Revolutionsgefahr enthalten, die prophetischen Qualitäten des Traumes; und der Erzähler unterstreicht in einem Fall, daß der Leser keinesfalls etwa einen fiktiven Traum gelesen habe: Ich träumte das wirklich, und kalter Schweiß triefte wirklich von meiner Stirn herab, als ich erwachte. Auch war der Eindruck, den der Traum auf mich machte sehr groß. Ich konnte nicht anders, ich mußte zu mir sagen, er ist eine Folge der Umstände, in denen ich lebe. (Billen, Nr. 179; S. 159) Die physische und die psychische Wirkung auf das Erzähler-Ich wird zur Steigerung der Glaubwürdigkeit und der Bedeutsamkeit der Geschichte angehängt. Diese Unterstreichung des unmittelbaren Realitätsbezuges ist nur die Vorbereitung für die Hervorhebung der Verweisung, auf die es eigentlich ankommt: diejenige auf die aktuelle historisch-politische Situation. Auch in der Geschichte "Das Erdbeben, ein Traum" (Billen, Nr. 102, S. 88f.) wird der besondere Realitätsbezug des Traums als seherische Offenbarung genutzt, und der Ich-Erzähler suggeriert gleichfalls eine größere Nähe zum Autor Pestalozzi. Im Gleichnis findet sich das Motiv des getrübten Wassers wieder und zwar in der gleichen Bedeutung wie schon in der Fabel vom Wolf und dem Schaf in "Ja oder Nein?". Das Erdbeben läßt Quellen in der Tiefe des Bachbettes hervorsprudeln, die für eine kurze Zeit sein Wasser trüben. Nur schwache Erdstöße sind vom Beobachter zu spüren, rasch ist alles vorbei und die Wasser sind wieder klar. Weiter entfernt lassen sich hingegen an einem Berg glühende Auswürfe sehen, der Träumer verläßt seinen ruhigen Platz am Bach, nähert sich dem Felsen und wird dort plötzlich vom glühenden Sand begraben, worauf er erwacht. Der Erzähler gibt nach dem Traumbericht die explizite Lehre: Gieße über den Brennpunkt des Aufruhrs segnendes Wasser. - Decke ihn nie mit der Last der harten fühllosen Gewalt. - Und wenn es am Rain still ist, so stehe nicht von deinem Sitze auf, um zu sehen, wie es jenseits des Baches brennt. Der letzte Rat lautet im diskursiven Ausdruck von "Oratio pro domo": Ich kenne keine Menschen, die, wie wir, zu Hause sein müssen, um nicht unendlich weniger zu sein, als wir wirklich sind; in kenne kein Land, das, wie das unsrige, so schnell und allgemein zu einem eigentlichen Nichts werden könnte, wenn es plötzlich allgemeine und gewaltsam wesentlich etwas anders werden müsste, als es wirklich ist. Wir können und dürfen uns also nicht revolutionieren, wir müssen im Gegenteil die Lücken, die der Gang der Zeit, die Irrtümer des Weltteils und die Schwächen der Menschennatur auch in unser gesellschaftliches Dasein hineingebracht haben, durch Massregeln auszufüllen trachten, die das Gute, das in unserer Mitte noch da ist, als das unmittelbare Fundament des Bessern, das wir bedürfen, anerkennen Anmerkung. Bei aller Klarheit der Sätze geben die vielen Hervorhebungen im Orginal doch eine Unsicherheit zu erkennen, das Wesentliche durch die Wörter allein vermitteln zu können, und haben den Charakter eines eher mündlichen, erregten Diskurses. Die gleichen Ratschläge, wie man einzig der Revolution in Zürich und in der Schweiz insgesamt begegnen müßte, sind in der Geschichte und in ihren zitierten Lehrsätzen enthalten. Freilich in einer viel kürzeren Form, die deshalb wohl kaum mißverständlicher sein dürfte. Man hat den Eindruck, daß Pestalozzi, nachdem er in seinen Pamphleten so klar und ausdrücklich gepredigt hatte, doch damit nur auf taube Ohren gestoßen war, nun mit seinem Fabelbuch versuchen wollte, "dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen´". Die 1. Auflage seiner "Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens" kann über weite Strecken nicht nur als Sammlung von Beispielerzählungen zur Staatsphilosophie und philosophischen Anthropologie Pestalozzis gelesen werden, sondern auch als letzte eindringliche Warnung an seine Landsleute, wie der blutige Aufstand von Innen und die Besetzung durch das Revolutionsheer von Außen verhindert werden könnte. In der Fabel "Der Stern mit der Rute" (Billen, Nr. 40) bemühte er nicht weniger als eine kosmische Allegorie, um den Schweizer Republiken die Folgen einer Unterlassung der Reformen vor Augen zu stellen. Die Genesis wird darin Metapher für den unaufhaltsam fortschreitenden Gang der Geschichte, diese selbst ist der strafende und gnadenlose Gott des Alten Testaments, wer sich gegen ihn vergeht, ist auf ewig verdammt: Gott schuf! - Millionen Welten wirbelten in neuen Sphären; Sonnensysteme flossen in einem ewigen neuen Gang, wie Regentropfen in einer Rinne, nur ein kleiner Mond wollte stehen bleiben, wo er stand. Da warf ihn ein Engel der Schöpfung aus dem Kreislauf der Welten und gebot ihm: "Wandle du ewig in unermeßlichem Dunkel einen elenden Quergang, nie werde ein Mensch auf deinen Flächen geboren. Wenn du der Sonne dich näherst, so leide in dir selbst marternde Pein, und wenn du den vollendeten Welten erscheinest, so zeige dich ihnen als Irrwirsch." [...] wenn er den bessern Welten erscheint, so geschieht es nicht anders als mit der feurigen Rute, mit der er die elenden Halbwesen züchtigt, die im ewigen Quergang empfinden, daß ihr Mond beim Vorschritte aller Welten hat stehen bleiben wollen, wo er damals stand. (Billen, S. 41) Es dürfte kein Zufall sein, daß diese Fabel zu den ganz wenigen gehört, die Pestalozzi in der dritten Ausgabe des Fabelbuchs mit keinem kommentierenden Zusatz versehen hat. Seine Warnungen verhallten ungehört, die Zürcher Stadtbürgerschaft war nicht mehr in der Lage, eine Erneuerung der Verfassung und eine reformerische Öffnung ihrer erstarrten Gesellschaftsordnung durchzuführen. 1798 wurde die Schweiz von französichen Truppen besetzt, eine zentralistische Bundesverfassung aufoktroyiert. Schon im Februar 1798 hatte die Zürcher Regierung den Forderungen der Landbevölkerung, die nun unter dem Schutz der französischen Waffen den revolutionären Aufstand in die Tat umsetzten, endlich nachgeben müssen. Obwohl genau das passiert war, was er hatte verhindern wollen, versuchte Pestalozzi zunächst, noch das Beste aus der Situation zu machen und publizistisch auf die Neuerungen einzuwirken. Doch nach und nach zog er sich aus der Politik zurück und widmete sich immer ausschließlicher seiner ab Juli 1799 von der Zentralregierung geförderten Lehranstalt in Burgdorf.

VI.

Pestalozzis Fabeln erscheinen mitunter als schlichte Bebilderungen eines klaren und einfachen Gedankens. Seine Gleichsniserzählungen zum dominanten Themenkomplex Reform vs. Revolution erhalten ihre Komplexität aus der schwierigen Situation, aus der sie hervorgingen. Die Bedeutung nicht weniger seiner Geschichten bleibt jedoch auch trotz der kommentierenden Zusätze recht dunkel, oder besser gesagt, verharrt in einer poetischen Vieldeutigkeit. Gerade diese macht den besonderen Reiz vieler Fabeln Pestalozzis aus. Seine theoretischen Schriften sind bekanntermaßen kompliziert, umständlich hypotaktisch gebaut, gelten als schwierig; doch auch der Verfasser der Fabeln ist nur ein scheinbar einfacher Autor. In seiner Vorrede hatte Pestalozzi seine Leser zur kreativen Lektüre aufgefordert: Was soll ich zu diesen Bögen sagen? Wenn du nichts zu ihnen hinzudenkst, Leser, so wirst du ihre Einfalt unerträglich finden. (Billen, S. 7) Pestalozzis Fabeln sollen zum Denken, zum Umdenken anregen. Daß ihnen der moralische Lehrsatz meistens fehlt, bedeutet nicht, daß sie keine moralische Belehrung anstrebten. Doch soll sich diese der Leser selbst erarbeiten. "Sie lehrt und unterrichtet nie." hatte schon Gellert von der poetischen Fabel festgestellt. Pestalozzis weitgehender Verzicht auf einen allgemeinen moralischen Satz steht vielleicht im Gegensatz zur Fabeltheorie Lessings, entfernt sich jedoch keineswegs so sehr von dessen Erkenntnisbegriff, wie dies in der Forschung behauptet worden ist Anmerkung. Pestalozzi war ein gelehriger Schüler der Schweizer Aufklärung Bodmers und Breitingers, ein Weggefährte Lavaters. Daß es ihm nicht mehr um reine Vernunfterkenntnis ging, kann daher kaum überraschen; daß mit am Anfang seiner kritischen Auseinandersetzung mit Rousseau sich der erstaunliche Satz findet: "Die Wahrheit ist nicht einseitig." entspricht dem Stand aufklärerischer Selbstreflexion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Anmerkung. Lessings Aufklärung ist nicht mehr der Rationalismus Wolffs, mit dem manchmal noch verwechselt zu werden scheint. Längst hatte die Aufklärung sich von der einen einzigen und ewigen Vernunftwahrheit verabschiedet, und mit Lessing an ihre Stelle das Streben nach der Wahrheit gesetzt. Pestalozzi schlug den Begriff der komplexen Wahrheit vor, die nicht auf einem Entweder-Oder beruhen muß, sondern oftmals als ein Sowohl-Als-auch resultieren kann. Deshalb sollte dennoch nicht von einer "generellen Ungewißheit" (Billen, S. 345) gesprochen werden. In jedem Fall ist die Suche nach der Wahrheit langwierig, bedarf des geduldigen Erwartens (und noch nicht etwa der wissenschaftlichen Suche nach Indizien, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts in der Sherlock Holmes-Figur repräsentiert werden wird). Was moralisch richtig und wahr ist, kann nach Pestalozzi nicht theoretisch in einem Lehrsystem entwickelt werden, sondern ist eine Frage der individuellen sittlichen Entwicklung; es ist wie in der folgenden Fabel "Der Tiere Gerechtigkeitspflege" (Billen, Nr. 187) gezeigt wird - eine Frage der Zeit: Der Löwe zerreißt das beklagte Tier, denn in seinem Rachen steht geschrieben: "Er ist des Todes schuldig." Um die Wahrheit von dem Beklagten zu ergründen, schlägt ihm der Stier seinen Farrenschwanz über den Rücken. Der Hund sucht sein Bekenntnis durch Beängstigungen [...] zu erzwingen. Der Affe fragt das beklagte Tier aus, aber wie ein Affe, und wenn er dann mit seinen Affenfragen nichts herausbringt, so wird er wild und nimmt zu den Maßregeln des Hunds und des Stiers Zuflucht. Der Elefant hingegen fragt dasselbe, aber auf eine Weise, daß er es, wenn es sich im dritten Verhör nicht selbst verstrickt hat, mit Sicherheit aus seinem Gehege lassen kann. (Billen, S. 176 f.)