Emanuel Dejung:
Pestalozzi und die Politik II (1976)
Christoph Dejung
Im Gedächtnis der Nachwelt lebt Heinrich Pestalozzi als der Volkserzieher und Armenfreund. Der Zürcher Stadtbürger betätigt sich zeitweise als Landwirt, dann als Anstaltsleiter, auch als Kaufmann, bis er mit fast 50 Jahren einem Freunde 1795 schreibt: Ich will Schulmeister werden! Aus dem utopischen Idealisten wird nie ein egoistischer Materialist, aber ein uneigennütziger Realist, der das Schicksal der Allgemeinheit nie aus den Augen verliert.
Zeitlebens hat sich Pestalozzi mit der Politik beschäftigt. In seinem Streben: Vorwärts zur Kultur! bekämpft er nicht nur in der Schulstube die wachsende Unnatur der Zivilisation, wider-strebt auch der Allgewalt des kollektiven Staates. Sein Willen zur Staatsreform bringt ihm viel Beifall, doch bleibt er, mit Ausnahme der Helvetik 1798 bis 1803, stets Gegner der in Erstarrung verharrenden Regenten. Die seit 1927 erscheinende Gesamtausgabe seiner Werke und Briefe macht seine Haltung erst ganz erfassbar (in bisher 38 Bänden, zu denen noch fünf bis sechs Altersbände kommen werden). Dankbare, aber nicht endgültige Vorarbeiten lieferten u.a. A. Rufer, H. Barth, A. Rang und das Marburger Diskussionsbuch von 1972.
Politisch wacher Zeit-Genosse
Aufgewachsen als Sohn eines bevorrechteten Städters in Zürichs innerstädtischer Demokratie und einer vom Land stammenden, zuerst untertänigen Mutter, suchte Johann Heinrich Pestalozzi die Gegensätze seines Elternhauses zu beheben. Gegenüber dem monarchischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts erstrebte er Gleichberechtigung in Staat und Wirtschaft für alle Untertanen. Indem er die Autokraten zu väterlicher Gesinnung bewegen wollte, konnte er 1792 dem befreundeten bernischen Aristokraten von Fellenberg schreiben, er trachte durch seine Staatsreform nach einer Rettung des reinen Konservativismus. Die 1789 einsetzende Revolutionszeit wandelte auch seine Ideen.
Citoyen de la première république française: Die Staatsumwälzung in Frankreich wurde von Pestalozzi als Selbstbefreiung eines Volkes lebhaft begrüsst. Als Dank für diese Anteilnahme erhielt der berühmte Verfasser von «Lienhard und Gertrud» 1792 zusammen mit Klopstock, Schiller, Kosciuszko, Washington u.a. das französische Bürgerrecht geschenkt. Der Wandel der Volksbewegung zur Diktatur Robespierres bewog ihn, seine Haltung zu ändern. Weitsichtiger als viele Regenten und Untertanen erkannte er, dass die Revolution sich dem Eroberungswillen zuwandte, um die Monarchien mittels Tochterrepubliken zu bekämpfen, wobei Holland das erste Opfer wurde.
Wider verfaultes Altes und unreifes Neues: Eine Volksbewegung am Zürichsee, aus der sich 1795 der Stäfnerhandel entwickelte, veranlasste den Pädagogen vom Neuhof dazu, in mehreren Schriften zur Einigung von Stadt und Land gegen die aussenpolitische Gefahr aufzurufen. Zusammen mit Pfarrer Lavater erzielte er eine unblutige Lösung, die aber nicht befriedigte, weil die Stadt Zürich ihrer Landbevölkerung keine Zugeständnisse zugestehen wollte. Trotz vielem Beifall bei Einsichtigen wie Escher von der Linth, Redaktor Paul Usteri, dem Historiker Johannes von Müller u.a. drang Pestalozzi mit seinem Vermittlerwillen nicht durch. In drastischen Worten erklärte er beide Seiten für Narren, weil sie das verfaulte Alte und das unreife Neue mit Einseitigkeit vertraten.
Verkannter Vermittlungspolitiker: Als nun Anfang 1798 der Einmarsch französischer Armeen an der Westgrenze drohte, flammten die Leidenschaften auf beiden Seiten hoch auf. Pestalozzis letzter Versuch, in diesem Zeitpunkt noch seinen Heimatkanton zu einigen, fand keinen Erfolg. Weder in der Vaterstadt Zürich, noch in Wädenswil, der Heimat seiner Mutter, noch in Stäfa, dem Zentrum der Volksbewegung, wollten die Mitbürger etwas von ihm wissen, trotz der früheren Verdienste als Schriftsteller wie als Vermittlungspolitiker. Man drohte ihm am Limmatstrand mit Ertränken, am Zürichsee mit Totschlag, wie er zehn Jahre später seiner Gönnerin, Frau von Hallwil, erzählte.
Die Lebensgefahr muss auf den gefühlsreichen Volks- und Armenfreund einen erschütternden Eindruck gemacht haben. Er entschloss sich, ausser Landes zu flüchten, auch das Berngebiet mit dem Neuhof zu meiden und in Liestal, bei den befreiten Untertanen der Stadt Basel, eine vorläufige Zuflucht zu suchen. Nach einigen Wochen kehrte er in die von den Franzosen eroberte Schweiz zurück, deren nur kantonsweiser Widerstand leicht gebrochen worden war.
Einsatz für den helvetischen Staat: Mancher mit dem Tode bedrohte Politiker hätte sich nun einem andern Beruf zugewandt, sich nicht weiter für die Mitbürger eingesetzt, nicht so Pestalozzi. Zuerst schrieb er Broschüren zugunsten des neuen Staates. In einem Zehntenblatt propagierte er die Abschaffung der Feudallasten und erfasste damit den richtigen Punkt, durch ein gerechtes Steuersystem die Landleute auf die Dauer für die Helvetik zu gewinnen. Vertretern von Kirche und Schule, die aus den Zehnten besoldet wurden, erschien er damals als künftiger schweizerischer Robespierre. Als der europäische Krieg die Zehntaufhebung verunmöglichte, war es auch bald um die Helvetik geschehen.
Die Wende von Stans: Im Herbst 1798 erhob sich Nidwalden zum verspäteten Kampf gegen Frankreichs Armee und fiel einer Katastrophe anheim. Da gab Pestalozzi in Luzern sein Amt als Redaktor des neuen Amtsblattes auf und eilte den Waisen in Stans zu Hilfe. Ein gütiges Schicksal gab ihm damit die Möglichkeit, eine neue Methode des Unterrichts erstmals zu erproben, und in der Folge ist er in Burgdorf und Yverdon gerade durch diese Lehrweise weltberühmt geworden.
Zwischen Pädagogik und Politik
Man darf die Erlebnisse des erfolglosen Politikers im Jahre 1798 nicht als Minderung seines Ansehens deuten. Doch wird verständlich, dass er sich während der Epochen der Mediation und Restauration in die innere Emigration zurückzog und sich seiner Bildungsaufgabe widmete. Zweimal zeigte er sich jedoch bereit, sich in Umbruchszeiten für seine Heimat einzusetzen.
Staatsmännische Versuche: Die erste Gelegenheit bot sich, als er als Deputierter 1802/03 an der Consulta in Paris teilnahm. Da aber Napoleon Bonaparte weder seine Abc-Lehren kennenlernen, noch seine Verfassungsvorschläge annehmen wollte, kehrte er enttäuscht vorzeitig heim. Ohne die Bedrohung und Flucht von 1798 zu kennen, hat man sich immer gewundert, warum Pestalozzi 1804 im blutigen Bockenkrieg zwischen Stadt und Landschaft Zürich nicht eingegriffen hat.
Erst 1814/15 trat er wieder als Staatsmann auf, als Napoleon gestürzt war und die Mächte auf dem Wiener Kongress über eine neue Ordnung für Europa berieten. Zuerst setzte er sich beim Zaren Alexander I. und beim preussischen Freiherrn vom Stein ein, um sie zum Eingreifen in die Schweizer Verfassungsdiskussion zu veranlassen. Dann verfasste er sein politisches Hauptwerk: An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters (1815), nicht für den Tageskampf, sondern zur Besinnung auf das Wesen seiner Politik.
Kollektive und individuelle Existenz: Echte Staatsteilnahme soll nach Pestalozzi sowohl den äussern Menschen und sein Wohl, die «collektive Existenz», umfassen, wie diejenige des Individuums, den häuslichen Kreis, die gesellschaftliche Gerechtigkeit, die Verinnerlichung, Religion und Erziehung. In der Vorrede zu An die Unschuld prägt er den entscheidenden Satz: «Anfang und Ende meiner Politik ist die Erziehung. Heranbildung der Jugend zum Bestehen in einer technisierten Welt muss sich auch auf die innern Werte ausdehnen, da ohne metaphysisches Streben eine staatliche Ordnung keinen Bestand haben kann.»
Erziehung als A und O aller Politik: Alle Welt schätzt an Pestalozzi sein grundgütiges Herz, seinen Helferwillen für Arme, Unterdrückte und Waisen. Weniger bekannt ist seine Ideenwelt, die erst heute durch die Gesamtausgabe allmählich erschlossen wird, sein Einsatz für die Demokratie in einem gerechten Staat. Wenn man seine übertriebene Güte abzulehnen gewillt ist, sind es gerade in unserer Wirtschaftskrise seine Gedanken, die aktuell und überlegenswert erscheinen. Und nicht zu vergessen ist, dass es erst die Verbindung von Geist und Herz ist, welche Pestalozzis Genie ausmacht.