Emanuel Dejung:
Lebensgefahr für Pestalozzi im Frühjahr 1798 (1975)
Christoph Dejung
Man ist gelegentlich erstaunt, wenn die moderne Pestalozziforschung von ganz unbekannten Dingen aus dem Leben und aus dem Werk des berühmten Schweizer Pädagogen zu berichten weiss und sogar von einer eigentlichen Neuentdeckung zu sprechen wagt. Umfasst doch die abgeschlossene Briefreihe, die Nachträge inbegriffen, rund 6300 Korrespondenzen, während die letzte Bibliographie nur deren 1050 verzeichnete. Die noch laufende Werkreihe wird zuletzt mit Nachträgen 29 Bände füllen, während frühere Ausgaben höchstens zwölf Bände umfassten. Aus Raumgründen sei hier nur auf Werkband 25 verwiesen, der eine grössere Anzahl ganz unbekannte Gedichte enthält, während Band 26 Schriften bieten wird, die nur in französischer und englischer Sprache erhalten blieben.
Die vorliegende Miszelle möchte einen Beitrag über eine Zeitspanne in Pestalozzis Leben geben, der in sämtlichen Biographien bisher fehlt, und der zugleich den Angelpunkt seiner Politik bedeutet. Er wird zeigen, in welcher Hinsicht man von einer Renaissance Pestalozzis sprechen darf, auch wenn die Kunde davon noch nicht in alle Kreise gedrungen ist.
Ein privates Quiz könnte folgende Fragen über seine Erlebnisse von 1798 stellen, ohne dass einem Befragten bisher eine Antwort möglich war: 1. An welchen zwei Orten geriet Pestalozzi in Lebensgefahr? (in der Stadt Zürich und am Zürichsee). 2. Welche Gegner drohten ihn umzubringen? (die konservativen Mitbürger und die revolutionären Landleute). 3. Aus welchen Gründen wurde er bedroht? (wegen seiner tragischen Vermittlungspolitik zwischen Stadt und Land). 4. Welche damalige Schrift übte die stärkste Wirkung aus? (sein erstes Zehntenblatt). 5. Mit welchem ausländischen Politiker wurde er gleichgestellt? (mit Robespierre). 6. Wohin flüchtete Pestalozzi? (nach Liestal). 7. Wer hat über seine Erlebnisse berichtet? (Pestalozzi selbst).
In seiner wenig bekannten Schrift: An die Menschenfreunde meines Zeitalters (1817) findet sich eine rätselhafte Stelle, welche in der kritischen Ausgabe (Band 26, S. 7) klargestellt werden konnte. Damals schrieb Pestalozzi: "Dieser Glauben (an die Menschennatur) ist es, der mich in den Wogen der Revolution [von 1798] an Worte glauben und an Menschen verirren liess. Er ist es aber auch, der mich über den Schall alles damaligen Streitgeschwätzes emporhob oder vielmehr von demselbigen losriss, der mich in diesem Zeitpunkt, meinem einzigen Ziel entgegenstrebend, von meiner Hütte nach Basel, von Basel nach Aarau, von Aarau nach Luzern, von Luzern nach Stans, von Stans nach Burgdorf, von Burgdorf nach Buchsee und von Buchsee nach Iferten umhertrieb..." Was Basel damals in Pestalozzis Leben bedeutete, blieb bisher unklar, während man über die weitern Stationen seiner Tätigkeit gut Bescheid weiss.
Unter den vielen unbekannten Schriften, welche in der kritischen Ausgabe gedruckt werden, befinden sich auch Fragmente einer Selbstbiographie: Rechenschaft über mein Thun, mit historischen Belegen, um 1805 verfasst, erstmals in Band 17A, 1973 publiziert. Manchmal nur in Stichworten, oft sogar in dritter Person, hat der Leiter von Yverdon aufgezeichnet, was ihm in seinem Leben bedeutsam erschien. Auf S. 184 des Bandes heisst der Passus über die drangvolle Umsturzzeit: "Während der (helvetischen) Revolution konnte er sich immer am (Zürich-) See aufhalten. Herbert (aus Kärnten) gab ihm hundert Neuthaler, woraus er alle diesfälligen Ausgaben bestritt. Auswanderung nach Liestall." Ein Blick auf die Zeitgeschichte gibt darüber Auskunft, was hinter dieser Andeutung verborgen liegt.
Als der Krieg gegen Napoleon 1813 Europa durchschüttelte, auch zur Besetzung der Schweiz durch Russland und Österreich führte, geriet Pestalozzis Institut in unverschuldete Finanznot. Die Mitarbeiter und ihr Leiter suchten Hilfe bei befreundeten Persönlichkeiten, so beim frühern Minister Rengger, jetzt Arzt in Lausanne, und beim Staatsrat de Rougemont in Neuchâtel. Als Unterpfand für ein Darlehen boten sie die "Rechenschaft" an (vgl. Briefband IX, S. 84, 406f.). Von dieser wichtigen Schrift ist leider nur ein Fragment auf unsere Tage gekommen, das sich in keiner Weise näher über die Gründe zur kurzen Flucht aus der Heimat geäussert hat. Wir müssen im Zusammenhang mit der Politik nach weitern Belegen über das Frühjahr 1798 suchen.
Bekannt ist, dass Pestalozzi im Jahre 1792, zusammen mit Klopstock, Schiller, Kosciusko, Washington und andern das französische Bürgerrecht verliehen wurde, weil er die Beseitigung der feudalen Vorrechte begrüsst hatte. Doch sah er in dem nachfolgenden Terrorismus, in der Diktatur Robespierres 1793/94 eine Entartung der Volksbewegung, die er wie die frühere Willkürherrschaft der Monarchen ablehnen musste. Weitsichtig erkannte er 1795 in der Eroberung Hollands durch französische Armeen eine aussenpolitische Gefahr für die Schweiz. Angesteckt vom Freiheitssinn des Nachbarlandes suchte die Volksbewegung von Stäfa am Zürichsee für die unterdrückte heimatliche Landschaft neue Rechte zu erlangen. Hier gelang es Pestalozzis Eingreifen, zusammen mit Lavater, den Stäfnerhandel unblutig beizulegen; doch fand er kein Entgegenkommen bei den bevorrechteten Städtern und Mitbürgern. In mehreren nachfolgenden Schriften fand sein Gesuch um grössere Freiheit, gerade auch auf wirtschaftlichem Gebiet, beredten Ausdruck, auch Beifall bei Escher (von der Linth), Paul Usteri, Johannes von Müller; die Stadt Zürich aber wollte das Monopol ihres Regiments nicht aufgeben.
Mit prophetischer Klarsicht hatte Pestalozzi erkannt, dass die französische Republik durch Eroberung der Nachbarländer den Kampf gegen die Monarchien Europas weiterzuführen gedachte. Als die Gefahr für die Schweiz zunahm, als Anfang 1798 der Einmarsch französischer Truppen an der Westgrenze drohte, flammten auf beiden Seiten die Leidenschaften auf. Zwar wollten die Schweizer kantonsweise ihr Land verteidigen, nur wenige Politiker sahen die Frage in gesamtschweizerischer Sicht.
Zehn Jahre später hat Pestalozzi in einer hundertseitigen Ode an Frau von Hallwil über ein persönliches Erlebnis vom Frühjahr 1798 berichtet, über die tragische Ablehnung seiner Vermittlungspolitik durch beide Seiten (vgl. Werkband 21, S. 176f.). Nach seiner Ansicht hätten Reformen im Zürcher Staat die Landschaft und die Stadt geeinigt im Kampf gegen die äussere Gefahr. Doch nahm die Ablehnung seiner Vorschläge für ihn selbst bedrohliche Formen an. Mit schmerzlichem Bedauern berichtete er 1808 der mütterlichen Freundin:
"...Man hette dann, was ich für das Vatterlands Heil suchte und wollte, nicht so leicht können ... schnurstrak (ablehnen). Es wäre denn sicher, sicher nicht dahin gekommen, dass mich die Brukkentretter neben dem (Hotel zum) Schwert (gegenüber dem Zürcher Rathaus) in die Limat hinabwerffen, und die Pflastertreter in Stäfa mich mit Wädenschweiler Bengeln tod zu schlagen gedroht. Die arme, blinde Menge des betrogenen Volks hette denn sicher nicht so leicht einigen selbstsüchtigen Tongeberen nachsprechen (können): alles, (was) ich in der bösen Stunde seines Jamers suche und treibe, streite schnurstracks gegen des Vatterlands Heil."
Weder in seiner Vaterstadt Zürich, noch in Wädenswil, der Heimat seiner Mutter, noch in Stäfa, dem Zentrum der Volksbewegung, wollten die Mitbürger, trotz seiner frühern Verdienste als Schriftsteller wie als Reformpolitiker, etwas von ihm wissen. Die Lebensbedrohung muss auf den erfolglosen Staatsmann, den gefühlsreichen Volks- und Armenfreund einen starken, erschütternden Eindruck gemacht haben. Er entschloss sich, ausser Landes zu gehen, auch das Berngebiet zu verlassen, um eine Beruhigung abzuwarten. Dass der gute Patriot sich nicht nach Frankreich wandte, wo er ja Bürger war, dass er in einem Teil der Schweiz seine vorläufige Zuflucht suchte, ist für ihn bezeichnend.
Die Untertanen der Stadt Basel hatten sich, auf französische Hilfe zählend, schon zum Jahresanfang 1798 gegen ihre Herrschaft erhoben, am 17. Januar in Liestal (der Hauptstadt des heutigen Kantons Baselland) einen Freiheitsbaum aufgepflanzt. Vielleicht hat Pestalozzi auch im Aargau die Aufrichtung von Freiheitsemblemen erlebt, etwa im Februar in Brugg, als er vom Zürichsee auf den Neuhof zurückkehrte. Man darf die Auswanderung nach Liestal, vom Neuhof im bernischen Untertanengebiet, wo er ebenfalls seines Lebens nicht mehr sicher war, als Flucht bezeichnen. Gewiss hat er sich nicht bei der bevorrechteten Regierung in der Stadt Basel aufgehalten (wie er seinen spätern Ausgangspunkt verschleiernd nannte), sondern bei den revolutionären Untertanen im Hauptsitz des spätern Kantons Baselland. Doch scheint über seinen dortigen Aufenthalt kaum etwas bekannt zu sein.
Unterdessen nahm das Unheil seinen Gang, die französischen Armeen konnten allmählich die ganze Schweiz erobern, weil deren verblendete Bürger nur kantonsweise sich zur Wehr setzen wollten. Der mächtige Stand Bern musste am 6. März kapitulieren und erhielt vier Tage darauf einen Freiheitsbaum. Die übrigen Stände fügten sich dann der Übermacht, und nur in der Innerschweiz leistete man später noch kurzfristigen, vergeblichen Widerstand. Im Lauf des März dürfte Pestalozzi auf den Neuhof zurückgekehrt sein. Seine Anwesenheit am 12. April in Aarau ist bezeugt, als sich dort die neue Helvetische Nationalversammlung konstituierte und durch eine neue Verfassung die Schweiz in einen Einheitsstaat umwandelte.
Welchen Einfluss hatten die Wochen vom Frühjahr 1798 auf Pestalozzis Leben, auf seine Gedanken, seine Politik, seinen Einsatz für die Gesamtheit? Das Marburger Diskussionsbuch (1972) hat ihm vorgeworfen, schon 1796 von seinen innenpolitischen Ideen abgewichen zu sein, eben angesichts der in diesem Werk übergangenen aussenpolitischen Voraussetzungen. A. Rufer hat im Jahr 1798 den Angelpunkt in bezug auf Politik und Erziehung gesehen, indem die Schweiz schon kurz danach, unter dem Einfluss der Diktatur Napoleons, sich teilweise zu einer Rückkehr vorrevolutionärer Zustände entschliessen musste.
Noch hat Pestalozzi im ersten Revolutionsjahr mitzuhelfen versucht, sein Land zu einem freiheitlicheren Staat umzugestalten. Sein (erstes) Zehntenblatt, welches die Feudallasten durch gerechte Steuern ersetzen wollte, erregte grosses Aufsehen. Zwar musste man die Abschaffung von Zehnten und Grundzinsen zeitweise widerrufen, weil der europäische Krieg unser Land erfasste, ein neues Steuersystem in diesem Moment nicht einzuführen war. Pestalozzi selbst galt damals bei vielen Trägern von Kirchen und Schulen, die aus den Zehnten besoldet waren, als gefährlicher Politiker. So schrieb am 4. Oktober 1798 Georg Müller in Schaffhausen, der Bruder des Historikers Johannes von Müller: "Ich fürchte diesen Schwärmer wie alle der Art. Er hat den Grundsatz: Man muss die Wunde schneiden etc. Dergleichen Menschen, welche, vielleicht mit einem anfänglichen Schein von Gutmütigkeit, nichts als sich und das Durchdringen ihrer philosophisch-politischen Systeme auf Kosten aller Welt suchen - in diesen, und besonders in diesem sehe ich künfftige Robespierres."
Dass sich Georg Müller mit diesem Urteil in Pestalozzi vollkommen täuschte, weiss heute jeder Geschichtskundige. Zwar stimmt die Behauptung in keiner Weise, dass er sich 1798 von der Politik abgewandt hätte. Als die Schweiz 1802/03 durch Napoleon I. die neue Mediationsverfassung erhielt, gewiss als Diktat, nahm Pestalozzi an der Konsulta in Paris teil, als zweifacher Deputierter. Seine Enttäuschung über diese Tagung liess ihn in innerer Emigration, in politischer Zurückhaltung verharren. Erst 1814/16 trat er wieder als Staatsmann auf, durch seine Beziehungen zum Zaren Alexander, zum Freiherren vom Stein. Als aber der Wiener Kongress im Sinn von Metternich entschied, verharrte der Politiker Pestalozzi erneut im Bann des Verzichts. Hatte er 1796 den Stand Zürich wie die Bürger von Stäfa während Jahren zu Reformen zu bewegen gesucht, so schwieg er 1804 absolut, als es im sogenannten Bockenkrieg wieder, diesmal zur blutigen Auseinandersetzung zwischen Stadt und unterdrückter Landschaft kam.
Man darf die Erlebnisse von 1798 nicht als Minderung an Ansehen für den später vielfach mythologisierten Zürcher Pädagogen deuten. Ihre Schilderung gibt ein unbekanntes, wahreres Bild von dieser Episode in seinem Leben. Auch muss unsere Zeit sein passives Ertragen als ein Gegenstück zu seinem aktiven Einsatz im selben Jahr erkennen. Mancher, mit dem Tode bedrohte Politiker hätte sich verbittert einem andern Berufe zugewandt, auf weiteres Opfer für die Allgemeinheit verzichtet, nicht so Pestalozzi. Als im Herbst 1798 Nidwalden, das erneut sich gegen Frankreichs Herrschaft erhob, einer Katastrophe anheimfiel, war es der Redaktor der Helvetik in Luzern, welcher sein Amt aufgab und den Waisen und Unterdrückten in Stans zu Hilfe eilte. Ein gütiges Schicksal gab ihm damit zugleich die Möglichkeit, seine pädagogische Theorie durch Erprobung einer neuen Methode des Unterrichts in ihrem realen Werte zu gestalten. In Burgdorf und Yverdon ist der Zürcher Pädagoge dann später gerade durch seine neue Lehrweise weltweit berühmt geworden.
Den bürgerlichen und sittlichen Niedergang der Schweiz im ausgehenden 18. Jahrhundert hat Pestalozzi fortan nicht mehr durch politische Tätigkeit, abgesehen von den zwei erwähnten Ausnahmen, zu beheben gesucht. Die Unmöglichkeit, während den Epochen der Mediation und Restauration positiv verbriefte Rechte von Stadt und Land einzuführen, bewog ihn zur innern Emigration. Nicht mehr von einer Staatstätigkeit, sondern nur noch "von einer bessern und liberaleren Volkserziehung" erwartete er das Heil seiner Heimat (vgl. Werkband 17 A, Seite 215/16). Vielleicht darf auch heute, angesichts der gegenwärtigen geistigen Krise einer technisierten Welt, Pestalozzi eine weltweite Renaissance erleben.
Seine Gefühlsweise hat die Zeitwelt und die Nachwelt für ihn gewonnen, auch wenn Uneinsichtige ihm übertriebene Güte vorwerfen. Über die zweite Seite seines Wesens, sein gewaltiges Denken, ist man im Unklaren geblieben, zumal Werke und Briefe erst heute voll zugänglich werden. Neben seinem grundgütigen Herzen darf auch sein erzgescheiter Kopf zu seinem Rechte kommen, ist es doch erst die Verbindung von Herz und Geist, die sein Genie ausmacht.