Pädagogisches Schreiben um 1800. Der Status von Schriftlichkeit, Rhetorik und Poetik bei Johann Heinrich Pestalozzi
Korte, Petra
Bern, Stuttgart: Haupt 2003, 451 S.
(Neue Pestalozzi-Studien, Bd. 8)
Diese umfangreiche Schrift ist zugleich Kortes Habilitationsschrift aus dem Jahr 2000 an der Universität Osnabrück. Dem Text ist ein ausführlicher Anmerkungsapparat beigefügt und ein 20seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis (S.431-451) beschliesst die Veröffentlichung.
Korte beginnt ihre Untersuchung mit einem längeren Zitat aus Pestalozzis kurzem Text „Der kranke Pestalozzi an das gesunde Publikum“ (PSW XXIII, S. 213-219) aus dem Jahr 1812. An diesem Text Pestalozzis entwickelt die Autorin ihre Fragestellung: Danach war Pestalozzi zeitlebens ein professioneller Schriftsteller und sein Schreiben „ein fortwährendes Ringen um die handelnde Zustimmung seiner Leserwelt“ (S. 23). Das Schreiben war für Pestalozzi genuin pädagogische Praxis, er tritt auch in seiner Rolle als Autor immer als Pädagoge auf. Korte will die Frage klären, „inwieweit pädagogisches Denken sich in Texten und deren Sprachlichkeit manifestiert“ und „wo in dieser Textualität pädagogisches Denken und pädagogische Handlungskonzepte entstehen“ (S. 26).
Pestalozzis Schreibweise entzieht sich diskursiver Systematik und Ordnung, sie ist geprägt von Emotionalität, durch eine publizistische Vielfalt und ist gleichzeitig geplant auf unterschiedliche Adressatengruppen. Korte will Pestalozzis Schriftstellerrolle analysieren, die vielfältigen Textsorten und das Verhältnis Erzieher (= Autor) und Zögling (= Leser) aufzeigen. Bei Pestalozzi ist die Zweckorientierung beim Schreiben sehr hoch, er will durch die Verbindung von Reden und Schreiben Wirkungen und Handlungen beim Leser auslösen. Daher greift Pestalozzi auf eine Vielzahl von Textsorten zurück, schon in seinen frühen Werken sind dies: Übersetzung, Rede, Ansprache, Fragment, Tagebuch, Gespräch, Dialog, Aufsatz, Brief, Nachricht und Abhandlung. Diskursgrenzen zu philosophischem, literarischem politischem und pädagogischem Denken kennt er nicht. Besonders wird der Zusammenhang von Rhetorik und pädagogischem Handeln bei Pestalozzi offenbar, Schriftlichkeit ist für ihn eine öffentliche Kommunikationsform, sie ist fingierte Mündlichkeit, ist geschriebene Rede. Pestalozzi suggeriert in allen seinen Werken, sich ständig in mündlichen Diskursen, im Gespräch zu befinden.
Ihre Thesen zeigt Korte an frühen Werken auf, beginnend mit „Agis“, „Wünsche“ (1766), „Christoph und Else“ und „Ein Schweizer Blatt“ (1782). Schon in diesen frühen Schriften zeigt sich Pestalozzis Vorstellung von idealer Kommunikation und fingierter Mündlichkeit. Für Pestalozzi ist die Identität von Privatheit und Öffentlichkeit entscheidend, das gilt in den frühen Schriften für seine politische Vorstellung eines erneuerten Stadtstaates Zürich und später für seine Vorstellung von Erziehung. Schon früh wird im Werk „Wünsche“ Pestalozzis Rigorismus deutlich, er erwartet von seinen Lesern bedingungslose Zustimmung. Auch der predigthafte Ton in diesem Werk ist kennzeichnend, Pestalozzi lehnt Unterhaltung ab, nur das Nützliche zählt. Sicherlich ist bei Pestalozzi das zwinglianische Milieu Zürichs mitbestimmend für seinen Tugendfanatismus, er zeigt sich in diesem Werk als literatur-, kunst-, lust- und sinnenfeindlich und wird das auch immer bleiben.
Das pädagogische Verhältnis von Autor und Leser stellt Korte anhand der Werke „Christoph und Else“ und „Ein Schweizer Blatt“ heraus: Es ist ein hierarisches Kommunikationsverhältnis, der Autor ist der Starke, der Wissende, er lenkt das Gespräch, und der Leser ist der Schwache, der Lernende, der die Einstellungen des Autors übernehmen soll. Ein weiteres Merkmal des Pestalozzischen Schreibens ist der hohe Adressatenbezug, er sucht ein persönliches Autor-Leser-Verhältnis. Mit seiner Leseransprache geht eine Selbstinszenierung einher, die Pestalozzi gezielt einsetzt. Die Leseransprachen haben bei Pestalozzi eine grosse rhetorische Breite, sie reichen von Bitten, Entschuldigungen, Fragen, Erläuterungen, Rechtfertigungen bis zu Forderungen und Impulsen. Die mündliche Rhetorik ist die Grundkonstituente Pestalozzischen Schreibens. Als Autor will er schreiben wie einer aus dem Volk, wenn dieser schreiben könnte, und als Schriftsteller will Pestalozzi ein Schriftsteller für das Landvolk sein, wobei er sich autoreflexiv gibt, wenn es um Zuschreibungen und Verantwortlichkeiten geht. Pestalozzis Schreibart zeigt rednerische Elemente, seine Texte haben zumeist „Appellcharakter“ (S. 171), was Korte an Briefen an Iselin im einzelnen herausarbeitet. Der Schriftsteller muss immer das Wohl des ganzen Volkes im Auge haben, er muss gesellschaftlich und politisch verantwortungsbewusst, sittlich, nützlich und engagiert sein (S. 183). Diese Einstellung wird deutlich in Pestalozzis Blick auf Goethe und Voltaire (S. 184-187) oder indem Pestalozzi „Lienhard und Gertrud“ gar als „Chatechismus“ bezeichnet.
Im dritten Hauptkapitel beschäftigt sich Korte mit „Rhetorik und Poetik der Pädagogik“. Dabei ist die gelehrte Bildung ambivalent, denn durch seine Bildung in Zürich am Carolinum steht Pestalozzi der gelehrten Bildung nahe, aber die Exklusivität dieser Teilnehmergruppe ist ihm suspekt, sie tauge nicht für die Unterschichten. Pestalozzi möchte mit seinen Werken alle erreichen, insbesondere das einfache Volk, er will eine Veränderung der Realität, die Aufhebung von Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Verelendung. Pestalozzi spricht das Gefühl an, er will nicht informieren oder unterhalten, sondern seine Adressaten auf emotionale Weise erreichen. Über Anschauung bzw. Anschaulichkeit, des sich vor Augen stellen, soll der Leser zur Nachahmung geführt werden. Die Darstellungsfunktion tritt hinter die Appellfunktion zurück, Pestalozzi bedient sich eines gesteigerten Ethos und Pathos, wenn er seine Leser aufrütteln und in einen Prozess der Auseinandersetzung führen will.
„Lienhard und Gertrud“ ist ein pädagogischer Roman, ein Erziehungs- und Bildungsroman über das fiktive Dorf Bonnal auf den Korte ausführlich eingeht. Pestalozzi will am literarischen Diskurs seiner Zeit teilnehmen und den pädagogischen, sozialpädagogischen und sozialphilosophischen Diskurs vorantreiben. Mit „Lienhard und Gertrud“ identifiziert sich Pestalozzi zeitlebens, er setzt zugleich ein Zeichen der Empfindsamkeit, er macht vieles mit Tränen anschaulich, alle Lernprozesse der Leute sind mit Tränen verbunden, Pestalozzi verlagert erstmalig die Empfindsamkeit in die gesellschaftlich-soziale Struktur (S.255). Die poetischen Mittel der Romanpädagogik in „Lienhard und Gertrud“ sind das Dialogisieren, die Kommunikation der Romanfiguren, die fiktive Empathie und Identifikation und hinzu kommen spannende Einzelgeschichten.
An Pestalozzis „Figuren zu meinem ABC-Buch“ (Fabeln) lässt sich besonders deutlich die Schriftstellerrolle Pestalozzis als politischer Pädagoge und als pädagogischen Politiker darstellen. Deutlich wird dies an den beiden Vorreden von 1797 und 1823 und an seinen Kommentaren, die er 1823 den ursprünglichen Texten beigefügt hat. Den einzelnen Fabeln liegt stets das Elementare zugrunde, sie zielen auf praktische Philosophie, es ist immer ein Spannungsfeld von theoretisch-philosophischem Anspruch und praktischer Lebensführung. Als Verfasser zahlreicher Flugschriften vor allem in der Phase des Helvetischen Einheitsstaats nach 1798 greift Pestalozzi tagespolitische Ereignisse auf. Hier orientiert sich Pestalozzi am Prinzip der fingierten Mündlichkeit und Rede, er spricht mit Leidenschaft im Dienste des Einheitsgedankens des Schweizer Volks und wird zum konsequenten Vermittler zwischen extremen Positionen mit direkter Adressatenansprache und einer Appellstruktur der Texte. Der praktische Redestil der Texte soll grösstmögliche Wirkung erzielen, gleichzeitig soll er eine Stimmungslage entfachen, die Denken und Handeln aufnahmebereit machen (S. 363 f). Das wird auch an der Neujahrsrede 1811 sehr deutlich , in der mit Wiederholungs- und grosser Variationsbreite und einer kreisförmigen Redestruktur gearbeitet wird, die auf Anschaulichkeit und Verlebendigung zielt. Dabei ist die Elevation ein wiederkehrendes Motiv und Emporbildung eine weitere Metapher: „Ich träume mich zu dem Bild hinauf, was wir wären, wenn wir diesen Machtarm der Nationen wirklich besässen; ich träume mich zu dem Bild hinauf, was wir werden können, wenn wir nur darnach streben.“ (PSW XXIV A, 185, Korte S. 379).
In einem letzten Kapitel geht Korte auf die Konfiguration des Weiblichen und das Weibliche als Konfiguration der Mutter ein und untersucht dies an „Lienhard und Gertrud“ und „Christoph und Else“. Gertrud ist als ideales Frauenbild ausgestaltet, sie ist nicht allein auf die Zweisamkeit von Mutter und Kind ausgerichtet, sondern zugleich eine auf Gesellschaftlichkeit ausgelegte Frauenfigur. Um anschaulich zu werden, entwirft Pestalozzi auch das weibliche Negativbeispiel: Das „Weltweib“, das ist die lasterhafte Frau, deren Interesse ausserhalb der Wohnstube liegt, sie ist das Negativbild der wahren Mutter.
Zwar will Korte keinen weiteren biographischen Beitrag der vorhandenen Pestalozziliteratur hinzufügen, aber genau das ist der Fall: Kortes Beitrag ergänzt die umfangreiche Pestalozziliteratur um einen Beitrag, der bisher in dieser Ausführlichkeit noch nicht vorliegt, eine Untersuchung zur Rhetorik und Poetik in Pestalozzis Texten. Korte unterstellt, ihre Analysen würden durchgängig für alle Texte Pestalozzis, seine Werke und Briefe, gelten, aber sie bezieht sich überwiegend auf die frühen Schriften Pestalozzis und von den Briefen werden nur die Briefe an Iselin um 1781 herangezogen, in denen sich Pestalozzi mit seiner Schriftsteller- bzw. Autorenrolle von „Lienhard und Gertrud“ auseinandersetzt. Der VI. Teil „Konfigurationen des Weiblichen oder das Weibliche als Konfiguration der Mutter“ (S. 381-427) passt thematisch nicht nahtlos in den Text der Arbeit, geht es in dieser doch thematisch um die Rhetorik und Adressatenansprache in Pestalozzis Texten. Leider schreibt die Autorin nur in einem Unterkapitel von Teil II ein „Fazit“. Ein solches Fazit sollte viel öfter angeboten werden, um den Text besser und schneller einordnen zu können. Die 10 Punkte der „Schluss-Thesen“ (S. 429-430) sind sehr knapp gehalten, ein etwas ausführlicherer Schlussteil wäre wünschenswert gewesen. Abgesehen von diesen Kritikpunkten öffnet Korte einen detaillierten und überzeugenden Einblick in die Schriftlichkeit und Rhetorik in Pestalozzis Texten. Pestalozzi erscheint in allen Textsorten als ein pädagogischer Schriftsteller, Pathos und Gefühl in den Texten sollen die jeweils grösste Wirkung bei den Lesern erzeugen, Korte fasst zusammen:
„Sein Schreiben war pädagogisches Handeln. Je nach Anlass und Thema seiner Schriften, erzog, bildete und unterrichtete er seine Leserinnen und Leser“ (S. 429).
(Gerhard Kuhlemann)