Heft 2/1997

Hrsg. v. Pestalozzianum Zürich. Zürich: Pestalozzianum-Verl., 2 mal jährlich, ca. 40-60 S.

Aus der Forschung

Thema

  • Pestalozzis "Nachforschungen" - ein Gegenstand der Lehrerbildung? (Arthur Brühlmeier)

Diskussion

Besprechung

  • Werner Bänziger: "Es ist freilich schwer, sein eigenes Bild mit Treue zu malen ..." Die Autobiographien von Pestalozzi, Zschoke und Wessenberg (Rudolf Künzli)

Dokument

  • Mythos Menalk? Neue Fragen zu Pestalozzis Jugend (Daniel Tröhler)

  • Methodische Bemerkungen zu Kontextualisierung und Wirkungsgeschichte in der pädagogischen Historiographie (Daniel Tröhler)

Bibliographie

  • Schriften von und über Johann Heinrich Pestalozzi (Ruth Villiger)

In der Rubrik "Aus der Forschung "(S.3-5) berichtet Petra Korte über ihr Habilitationsprojekt

"Der theoretische Pestalozzi"

Den Anregungen des Zürcher Pestalozzi – Symposium folgend will sie Pestalozzi neu lesen mit dem Ziel, das Theoriepotentioal der Pestalozzischen Schriften auszuloten. Im Verlauf der Forschungen soll Pestalozzi als Theoretiker der Pädagogik dargestellt werden, unabhängig von der Frage ob er in der Lebensrealität Versager, Träumer, Psychopath, schlechter Vater, Kauz oder Visionär war. Zugleich will Korte mit ihrer Arbeit dem von Oelkers und Osterwalder ausgehenden neuen Mythos entgegentreten, demzufolge sich Pestalozzis Werk allein auf die Methode reduziere und aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft ebenso langweilig wie unbedeutend sei.

In dem Beitrag

"Pestalozzi in Japan. Pädagogische Kommunikation durch Publikation und Festlichkeiten"

(S. 6-8) weist Toshito Ito Tendenzen der Pestalozzi-Rezeption in Japan auf. Nach einem kurzen Abriß der Rezeption stellt Ito die Frage, ob mit dem auch in Japan spürbaren Wandel von der unkritischen Pestalozzi-Verehrung hin zu wissenschaftlichen Diskussionen eventuell ein dritter Höhepunkt der Pestalozzi-Rezeption bevorsteht.

In dem Beitrag

"Pestalozzi in Lettland"

geben Altermann und Caure einen Bericht über den Aufschwung der Pestalozzi-Rezeption in Lettland. Die Forschung bezieht sich zum einen auf Pestalozzis Beziehung zum baltischen Raum einschließlich der finnischen und russischen Gebiete um St. Petersburg und zum anderen darauf, von Pestalozzi, der auch in einer Zeit des Umbruchs gelebt hat, Hilfe bei den ungelösten Problemen der philosophischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Erneuerung Lettlands zu suchen.

Brühlmeier vertritt in seinem Beitrag

"Pestalozzis Nachforschungen – ein Gegenstand der Lehrerbildung?"

(S.11-16) die in der Pädagogik nicht unumstrittene Position, daß Lehrerbildung zuallererst Persönlichkeitsbildung der angehenden Lehrer sein müsse. Die Auseinandersetzung mit Pestalozzis Anthropologie, insbesondere eine intensive Auseinandersetzung mit dessen philosophischem Hauptwerk, den "Nachforschungen", kann diese zu einem zentralen Bildungsgegenstand innerhalb der Lehrerbildung machen. Pestalozzis Anthropologie unterscheidet einmal zwischen "niederer" und "höherer" Natur, die sich in einer dreistufigen Entwicklung vom Naturzustand über den gesellschaftlichen Zustand zum sittlichen Zustand entfaltet. Die offenkundigen Widersprüche menschlicher Existenz hinsichtlich ihrer Ursachen und ihres Sinnes erklären sich dabei aus der Tatsache, daß der Mensch diesen drei Zuständen stets gleichzeitig ausgesetzt ist. In zwei Tabellen stellt Brühlmeier exemplarisch einige menschliche Lebensvollzüge analytisch in den zwei Zuständen gegenüber. Abschließend beschreibt Brühlmeier die Aufgabe der Erziehung: "Die Erziehung muss den heranwachsenden Menschen lehren, mit den Ansprüchen des Naturzustandes richtig umzugehen, sie muss mit ihm die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einüben und ihn befähigen, im eigenen Leben die Sittlichkeit zu verwirklichen" (S.15).

Hager arbeitet im seinem Beitrag

"Idee, Bildung und Geschichtlichkeit des Menschen. Reflexionen zur systematischen Bedeutung und zu den philosophischen Voraussetzungen der historischen Pädagogik"

(S. 17-21) die systematische Bedeutung der historischen Pädagogik für die Erziehungswissenschaft heraus. Die historische Pädagogik hat in allen Richtungen der Pädagogik einen hohen systematischen Stellenwert, auch wenn deren unterschiedliche wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen Ziele, Methoden, Wege und auch Ergebnisse historischer Forschung unterschiedlich determinieren. Die Bedeutung historischer Forschung ergibt sich für Hager sowohl aus der wirkungsgeschichtlichen als auch aus der problemgeschichtlichen Fragestellung, gleichgültig ob ein mehr historisches oder mehr systematisches Interesse den Grund legt. Denn aktuelle Erziehungswirklichkeit kann nicht ohne die Frage nach ihrer Herkunft und ihre Entwicklung verstanden werden. Gerade die Pestalozziforschung zeigt, wie sehr der weltanschauliche und anthropologische Hintergrund der Forscher sich nachhaltig auf deren Forschungen auswirkt. So ist für Hager die Pestalozzi-Verehrung nicht nur Auswuchs und Verfälschung, sondern zugleich Ausdruck von der Idee des Menschen, die diese Denker, Pädagogen und Politiker für sich selbst zu realisieren suchten.

Ein redaktioneller Beitrag zu dem am 16. Oktober 1997 verstorbenen

Fritz-Peter Hager

(geb. 1939) folgt seinem Artikel. Darin wird kurz auf seine akademische Laufbahn eingegangen: 1978 wurde Hager als Extraordinarius für Historisch-Systematische Pädagogik an die Universität Zürich berufen und im Wintersemester 1986/87 zum Ordinarius ernannt. Hagers pädagogische Forschungsthemen waren die Geschichte des pädagogischen Platonismus, die Geschichte der europäischen Aufklärungsphilosophie und Aufklärungspädagogik und Forschungen zu Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi.

Das Heft enthält auch eine Besprechung von Bänzigers Dissertation zum Vergleich der autobiographischen äußerungen von Pestalozzi, Zschokke und Wessenberg durch Rudolf Künzli. (S.23). Künzli hebt hervor, daß der Autor sich nicht konsequent für eine an den autobiographischen Äußerungen orientierte Fragestellung habe entscheiden können und sein eigentliches Thema in der Untersuchung des Verhältnisses von Zschokke und Pestalozzi gefunden habe, das aber eher am Rande der Fragestellung der Dissertation liegt.

In der Rubrik "Dokument" stellt Daniel Tröhler im ersten Teil

"Mythos Menalk? Neue Fragen zu Pestalozzis Jugend"

(S.24-27) das wiederentdeckte Haushaltungsbuch der Familie Schulteß vor. Dieses wirft neue Fragen zu Pestalozzis Jugend und der beginnenden Liebe zwischen ihm und Anna Schulteß auf. Die Einträge von Annas Vater legen nahe, daß die Verbindung zwischen den späteren Eheleuten schon 1764 und nicht erst am Sterbebett des Freundes 1767 begann. Des weiteren wird durch diese Quelle fraglich, ob Menalk tatsächlich identisch ist mit Johann Kaspar Bluntschli. In seinem zweiten Beitrag

"Methodische Bemerkungen zu Kontextualisierung und Wirkungsgeschichte in der pädagogischen Historiographie"

(S. 28-29) stellt Tröhler die Frage nach der Bedeutung dieser Erkenntnisse für die Werkinterpretation. Er diskutiert die Frage, ob Wirkungsgeschichte nur als Wirkung einer Person oder eines Werkes zu deuten sei, oder auch die Wirkung auf eine Person oder ein Werk einschließt. Versteht sich wirkungsgeschichtliche Forschung nur als Erforschung dessen was von einer Person ausgeht, so setzt sie voraus, daß diese Person auch in sehr originärer Weise gewirkt hat und legt damit automatisch Grund zu Legendenbildung und Mythologisierung. Auch eine reine Kontextualisierung, also die Erforschung des Umfelds der zu jener Zeit aktuellen Diskussionen reicht zu einer umfassenden Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte nicht aus. Erst die Einbeziehung der Wirkungen auf Pestalozzi, d.h. welche aktuellen Themen seiner Zeit Pestalozzi wirklich gekannt, welche er warum bevorzugt hat und wie er sie in sein Denken integriert hat, kann die Reduktion Pestalozzis auf einen nur pädagogischen Denker oder eifrigen Verfechter seiner Methode aufheben.

Der Beitrag

"Schriften von und über Johann Heinrich Pestalozzi"

(S. 30-40) von Ruth Villinger ist eine Fortschreibung der bibliographischen Dokumentation der Pestalozzi-Literatur. Die deutschsprachige Sekundärliteratur umfaßt etwas über 150 Titel. Darüber hinaus sind fremdsprachige Titel der Primär- und Sekundärliteratur mit ihren bibliographischen Angaben aufgeführt. Vor allem ist auf Werkausgabe und Sekundärliteratur in armenischer, bulgarischer, italienischer, japanischer, lettischer portugiesischer, russischer und spanischer Sprache hinzuweisen(S.30 und S.39-40).