Heft 1/1997

Hrsg. v. Pestalozzianum Zürich. Zürich: Pestalozzianum-Verl., 2 mal jährlich, ca. 40-60 S.

Editorial

Aus der Forschung

Thema

Diskussion

Besprechung

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Dokument

Roger Vaissière erwähnt im Editorial (S. 1), daß die Beiträge in Zukunft nicht mehr nur allein auf die Pestalozzi-Forschung eingeschränkt sein werden, sondern zu Fragen zur Geschichte der Pädagogik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und zur Bedeutung der Geschichte der Pädagogik in der Ausbildung von Lehrern und Erziehern. Ebenso bemerkt er, daß die Neuen Pestalozzi-Blätter sich nach dem Pestalozzi-Gedenkjahr sich nun finanziell selbsttragen müssten, was eine deutliche Preisanhebung und den Verzicht auf farbige Gestaltung der Überschriften und Rubriken zur Folge habe.

1996 besuchte Michael Soëtard zahlreiche wissenschaftliche bzw. populärwissenschaftliche Kongresse und Symposien in Europa und Südamerika und berichtet nun über seine Eindrücke zum Stand der Forschung Pestalozzis in diesen Ländern: "Pestalozzis Erbe - ein versiegeltes Werk? Die weltweiten Auseinandersetzungen mit Pestalozzi anläßlich seines 250. Geburtstages" (S. 3-7). Bei seinen Besuchen wurde Soëtard bewußt, daß Pestalozzi für vieles steht: Für einen Teil nationaler pädagogischer Kultur, für pädagogischen Elan und den pädagogischen Mut, Ungleichheit, Armut und Gewalt entgegenzutreten. Immer noch scheint Pestalozzi zwischen Restauration und Revolution, zwischen Beharren an Altem und den Forderungen nach einer neuen Schule und einer neuen Erziehung, gefangen zu sein. Das Defizit in der Pestalozzi-Forschung sei das Defizit der Forschung über das Werk Pestalozzis selbst, sowohl in Zürich und im deutschsprachigen Raum, aber erst recht in den anderen Ländern auf Grund fehlender Orginaltexte. Ständig wird aus "Lienhard und Gertrud", "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" und dem "Schwanengesang" zitiert, die "Nachforschungen", der "Stanser Brief", die "Abendstunde" und die anderen Texte bleiben jedoch unbeachtet. So habe das Erbe in Pestalozzis Werk, die philosophischen Grundlagen der Erziehung zu durchdenken, sowohl ihre Idee als auch ihre Bedingungen, das Prinzip als auch die Realität, ihren Durchbruch immer noch nicht geschafft.

1996 konnten Stefan Graber, Basil Roger und Kurt Werder die beiden letzten Bänden der Kritischen Werk- und Briefausgabe vorlegen und schildern ihre Editionstätigkeit: "Die Werk- und Briefreihe der Kritischen Ausgabe Pestalozzis sind fertig. Ein Werkstattbericht" (S. 8-12). Als Beispiel ziehen sie einen bis dahin unbekannten Brief Pestalozzis an Nicolovius vom Dezember 1811 heran und schildern daran die verschiedenen Arbeitsgänge, von der Echtheitsprüfung über den Unbekanntheitstest und die Transkription bis hin zur editorischen Aufbereitung.

In "Pestalozzi-Gedenkjahr 1996. Versuch einer Bilanz" (S. 13-16), legt Hans Gehrig mit seinem Artikel eine Bilanz des Pestalozzi-Gedenkjahrs vor. Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus seiner Ansprache anläßlich der Abschlußveranstaltung des Gedenkjahrs am 9. November 1996 in Yverdon. Gehrig schildert die Vorbereitung des Gedenkjahrs und sieht deutliche Unterschiede bei den Pestalozziforschern je nach ihrer Herkunft aus der schulischen Praxis oder der rein universitären Forschung. Nach Gehrigs Meinung ist Pestalozzi immer noch eine pädagogische Provokation und die Rezeptionsforschung darf nicht unter Reizwörtern wie Mythos, Kultfigur, Legende, Nationalheiliger oder ewiger Versager zur Demontage der Person, ihres Werkes oder gar der gesamten pädagogischen Arbeit mißbraucht werden. Der Artikel "Historische Forschung als Kultur geschichtlichen Bewußtseins" (S. 17-25, in der Rubrik "Diskussion") gibt ein Interview wieder, das Daniel Tröhler mit Ulrich Herrmann über den Sinn und die Grundlagen historischer Pädagogik führte. Demnach sollten Lehrer und Lehrerinnen aller Schularten und Altersstufen, von der Institution in der sie tätig sind, von den Alternativen der Schul- und Unterrichtsorganisation und von dem Wandel in den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen geschichtliche Kenntnisse vorweisen können, um beurteilen zu können, was sie leisten können müssen und was nicht, als auch was Neues geleistet werden muß. Weder die Historische noch die Allgemeine Pädagogik können Regeln für pädagogisches Handeln aufstellen. Es kann immer nur Regeln für bestimmte lebensgeschichtliche Herausforderungen oder Problemlagen geben. Schließlich ist auch die pädagogische Theorie immer zeitbezogen, da es im Leben der Menschen ve ränderliche Gesetzmäßigkeiten gibt und deshalb kann der Historiker nicht die Fragestellung an den Anfang stellen, sondern nur einen erklärungsbedürftigen Sachverhalt, und aus diesem erst die Fragestellung entwickeln. Die Geschichte der Pädagogik soll Gegenwart im Hinblick auf Zukunft erklären, aber sie kann kein praktisches Handeln, keine praktische Erfahrung ersetzen. Ebensowenig kann man alle die sozialen, politischen oder ökonomischen Probleme der Gesellschaft pädagogisieren, diese müssen auf politischer Ebene gelöst werden. Hermann sieht Hager und Osterwalder in der Auseinandersetzung über Pestalozzi in eine Selbstillusionierung verstrickt: Osterwalders Problem sei weniger ein Problem von Pestalozzi-Kult als vielmehr von Schulkultur und Hager reagiere auf den Abbau des Mythos mit Ideologie und sieht dadurch die nationale Identifikation der Schweiz als einer liberalen Demokratie gefährdet.

Petra Korte bezeichnet die Veröffentlichung von Germann-Müllers zu Pestalozzis Mutterbild in ihrer Besprechung (S. 26-27) als einen populärwissenschaftlichen und essayistischen Beitrag. Zwar hebt sie German-Müllers eigenständige Interpretation der Gertrud-Figur hervor, wirft ihr jedoch vor, daß sie bisweilen in Pestalozzis pathetische Sprache verfalle und nicht genügend reflektiere, daß "Lienhard und Gertrud" nicht Realität, sondern die Fiktion gelebter Wirklichkeit ist .

In der Rubrik "Anzeige hebt Werner Bänzinger zu seiner Veröffentlichung zu den Autobiographien von Pestalozzi, Zschokke und Wessenberg hervor, daß er die drei Spätaufklärer anhand ihrer autobiographischen Texte vergleichend als Persönlichkeiten zu analysieren und zu würdigen beabsichtigt habe.

Dokument

"Der Großvater Pestalozzis als pietistisch - pädagogischer Vermittler?"

Hinter dieser Überschrift verbirgt sich der Versuch eines kooperativen Kommentars, dessen Anlaß ein Brief von Andreas Pestalozzi, dem Großvater Johann Heinrichs, an August Hermann Francke aus Halle, den damals berühmten pietistischen Pädagogen. Am Anfang steht der Brief, mit einer Einleitung von Daniel Tröhler und von Ernst Martin und Martin Brecht transkribiert, in dem Andreas Pestalozzi Francke bittet, einen ihm bekannten Zürcher Jüngling, Johann Caspar Landolt (1705-1764), in die Francke´schen Anstalten aufzunehmen.

"Aus dem 'sicheren Hafen' auf das 'wilde Meer'"

So lautet die Überschrift des ersten Kommentars, in dem der Verfasser J. Jürgen Seidel nachweist, daß die Francke´schen Anstalten durchaus in Zürich bekannt gewesen sind, aber nur wenige Zöglinge aus Zürich in den Anstalten von Francke nachweisbar sind. Demnach schickten die Eidgenössischen Patrizier- und Pfarrerfamilien ihre Kinder zu Francke, weil sie glaubten, daß sie bei ihm für ihre zukünftigen Tätigkeiten ausgebildet werden würden, nicht weil sie seine pietistische (Bekehrungs-)Frömmigkeit teilten. Auch Landolt hielt es nur wenige Tage bei Francke aus, dann wechselte er eigenmächtig an die Hallenser Universität. Alles in allem läßt sich sagen, daß Franckes Erneuerungsbewegung nur wenig Einfluß auf das Zürcher Kirchenleben zu nehmen vermochte.

"Invisible Loyalities"

Unsichtbare Treuebindungen, generationsübergreifende Muster bestanden zwischen dem Großvater Andreas Pestalzzi und Johann Heinrich. Der Verfasser, Martin Brecht, zeigt weiter in seinem Artikel auf, daß beiden ähnliche pädagogische Interessen, geistlich-pädagogische Sorge um das Wohl der Landbevölkerung eigen waren. Außerdem lassen sich ganz massive Parallelen in den Biographien beider feststellen (Früher Tod des Vaters, früher Tod des jeweils einzigen Sohns). Die Analyse des Briefs ergibt, daß Andreas Pestalozzi wahrscheinlich nur eine äußere Beziehung zum Pietismusgehabt habe, denn man erkenne deutlich, daß der Verfasser sich auf überzogene Weise bemühe, den Erwartungen des Empfängers zu entsprechen.

"Beziehungen Andreas Pestalozzis zu August Hermann Francke und seinen Anstalten?"

Diese Frage, speziell ob Andreas Pestalozzi Pietist gewesen ist, versucht Martin Brecht im dritten Kommentar zu beantworten. Er kommt zu dem Ergebnis, daß trotz einiger Kenntnis über die Anstalt in Halle ein gewisses Unverständnis und eine Unkenntnis gegenüber dem Pietismus besteht, der sich aus dem sehr formalen Brief, durch eine Vielzahl formelhaft verwendeter Bibelzitate und dem angeführten bürgerlichen Erziehungszwecke ableiten läßt, die darauf bedacht sind, den Erwartungen des Empfängers zu entsprechen. Er kommt zu dem Schluß, daß Andreas Pestalozzi pietistischen Weltanschauungen an seinen Enkel weitergab.