Vergleichende Zusammenstellung der Monographien zur Pestalozzi-Forschung und Pestalozzi-Rezeption
Die Überschrift verweist auf drei Linien der Pestalozzi-Rezeption:
- auf Arbeiten, die gezielt die Rezeption Pestalozzis thematisieren,
- auf wissenschaftliche Arbeiten, die Einzelfragen der Pestalozzi-Forschung und Pestalozzi-Biographie behandeln und Bezüge zur Erziehungswissenschaft herstellen und
- auf Monographien, die sich nicht primär als Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Pestalozzi verstehen, sich aber in ihrer Zentrierung auf Pestalozzi als Belege für Pestalozzis fortdauernde Wirkung und Rezeption verstehen lassen.
Nach der vollständigen Verfügbarkeit aller Texte Pestalozzis, nach der Auswertung fast aller Archivmaterialien, die eine Bedeutung für die Pestalozzi-Forschung beanspruchen können, und nach der Behandlung fast aller denkbaren Detailfragen der Pestalozzi-Forschung in mittlerweile ca 20.000 Fachveröffentlichungen, ergeben sich die zentralen Themen neuerer Pestalozzi-Forschung von selbst: die Thematisierung eben dieser Tradition und der Versuch, Pestalozzi als historische Person zu erfassen.
Als Autor dieser Thematik ist besonders Fritz Osterwalder hervorgetreten, der in zahlreichen Veröffentlichungen und vor allem in seiner hier vorgestellten umfangreichen Habilitationsschrift Pestalozzi - ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik und in dem zusammen mit Jürgen Oelkers herausgegebenen Sammelwerk "Umfeld und Rezeption. Studien zur Historisierung einer Legende" die These vertritt, daß zugespitzt ausgedrückt Pestalozzi nach 1848 in Deutschland zum Berufsheiligen der Volksschullehrer und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und anläßlich seines 150. Geburtstags im Jubiläumsjahr 1896 zusätzlich zum Nationalheiligen der Schweiz gekürt wurde. Osterwalder unterstellt dabei der Pestalozzi-Literatur recht pauschal, daß sie allesamt aus dem Standpunkt der Verehrung für den "Heiligen" geschrieben ist und entsprechend dieser Grundposition immer nur eine passend gefertigte Collage aus Pestalozzis Werken vorlegt. Osterwalder kann für seine These eines Pestalozzi-Kultes anschauliche Belege vorbringen, wie beispielsweise die anrührenden Bilder vom Waisenvater in Stans, die Serienproduktion von Pestalozzi-Büsten, zahlreiche Briefmarken und Briefmarkenserien oder die verschiedenen Gedenkplaketten in Gold, Silber oder Schokolade. Osterwalder geht aber einen entscheidenden Schritt weiter und bestreitet Pestalozzis Wirkung mit dem Argument, daß seine in Burgdorf und Yverdon entwickelte und öffentlichkeitswirksam propagierte Methode für das sich herausbildende öffentliche Bildungswesen ohne Wirkung geblieben sei, da der Methode, obwohl im Kern äußerst formalistisch, geradezu eine erlösende Wirkung zugesprochen wurde und Pestalozzi wegen seiner pietistisch verstrickten Denkungsart nicht klar zwischen Wissensvermittlung in einer sich liberal-bürgerlich und demokratisch öffnenden Gesellschaft und dem moralisch-sittlich-religiös sich vollendenden Individuum habe unterscheiden können.
Während Osterwalders Schrift "Pestalozzi - ein pädagogischer Kult" und mit Abstand auch der Sammelband "Pestalozzi. Umfeld und Rezeption" eine eindeutige Interpretationsthese und Sichtweise haben, zeigen die beiden Bände zur Rezeption Pestalozzis in Japan (Ito: Die Kategorie der Anschauung in der Pädagogik Pestalozzis) und China (Pestalozzi in China) schwerpunktmäßig die Aufnahme Pestalozzis in diesen beiden Ländern: die Aufnahme in Japan schon sehr früh in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit einer weitgehenden Reduktion und damit auch Verfälschung von Pestalozzis Konzepten und in China erst sehr viel später, denn erstmals sind in unseren Tagen Pestalozzis Werke in einer Auswahlausgabe quellenmäßig zugänglich.
Ganz anders als Oelkers und Osterwalder sieht Thöny-Schwyn in seiner Studie zur Pestalozzi-Rezeption Nohls Pestalozzis Wirkungsmacht. Zumindest bei Nohl ist Pestalozzis Rezeption nicht kultische Verehrung oder Referenz an einen pädagogischen Mythos, sondern zeigt eine eindeutige theoriebildende Wirkung, die vor allem von der intensiven und lebenslangen Auseinandersetzung Nohls mit Pestalozzis grundlegenden pädagogischen Texten "Lienhard und Gertrud", "Nachforschungen", "Stanser Brief" und "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" ausgeht. Das Beispiel Nohl belegt nach Thöny-Schwyn, daß die Rezeption Pestalozzis eben doch nicht durchweg nur eine rein äu&szliche war, bei der ein ins Mythische entrückter Pestalozzi allein als Zitatengeber für eigene Konzepte und Interessen eingesetzt wird.
Die Forschungsarbeiten von Bänziger (1996) und Tröger (1993) setzen sich mit den autobiographischen Aussagen Pestalozzis auseinander und Bänziger stellt darüber hinaus die autobiographischen Aussagen Pestalozzis denen seiner Zeitgenossen Heinrich Zschokke und Ignaz Heinrich von Wessenberg gegenüber. Während andere Autoren, auch Bänzigers Doktorvater Stadler in seiner "Geschichtlichen Biographie", die autobiographischen Schriften, Aussagen und Einschübe bei Pestalozzi ebenso wie dessen umfangreiche Korrespondenz wegen ihres subjektiven Charakters und ihrer suggestiven Kraft, von der die Rezeption über lange Zeiträume geprägt und die biographischen Aussagen stark beeinflußt waren, für ihre Interpretation übergehen, wollen Bänziger und Tröger gerade die Annäherung an Pestalozzi über seine autobiographischen Aussagen suchen. Hierzu muß man sich mit dem Genre autobiographischer Texte auseinandersetzen, d.h. man darf nicht einfach dem Selbstbild eines Autors folgen, sondern muß aus dem bewußt gestalteten Selbstbild heraus auf Intentionen und Vorstellungen eines Autors schließen, um sich so neue biographische Zugänge zu eröffnen. Der Kontrast zwischen den Veröffentlichungen von Tröger und Bänziger könnte kaum größer sein: Bänziger hat ein sehr weit gefaßtes und theoretisch ungeklärtes Verständnis von Autobiographie, alles was ein Autor über sich selbst und seine Intentionen sagt, wird als autobiographische Aussage genommen. Damit kommt Bänziger zwar von vielen Seiten an seine Gewährsleute heran, aber die Frage der Identitätsfindung durch autobiographisches Schreiben ist für ihn nebensächlich und der Schwanengesang erhält so in Bänzigers Arbeit eine marginale Bedeutung. Anders Tröger, die sich eingehend mit der Geschichte und Theorie der Autobiographie beschäftigt und allein den mittleren Teil des Schwanengesangs für Pestalozzis eigentliche Autobiographie ansieht, in der Pestalozzis Prozeß der Identitätsfindung und verfehlung nachvollziehbar wird. Während Bänziger über Pestalozzi im Verhältnis zur biographischen Literatur wenig Neues einbringt, macht Tröger die Identitätsentwicklung Pestalozzis zum Gegenstand ihrer Arbeit und läßt den für jeden Menschen zentralen Prozeß seiner Identitätsfindung, meist ein Problem des höheren Jugendalters im Übergang von Bildungs bzw. Ausbildungsphase in die gesellschaftliche Tätigkeit, modellhaft am Exempel Pestalozzis anschaulich werden. Beide Arbeiten wollen nicht den Mythos Pestalozzi kultivieren, sondern gerade diesen Mythos entschlüsseln. Beide Arbeiten sind zugleich Dissertationen, wobei für den biographisch oder historisch interessierten Leser die Schrift von Bänziger flüssiger zu lesen ist, Tröger dagegen einen originären Beitrag in die Pestalozzi-Forschung einbringt. In den Arbeiten von Bänziger und Tröger bleiben die Briefe Pestalozzis am Rande, aber in jeder auf die autobiographischen Aussagen Pestalozzis gerichteten Arbeit müßte der Umgang mit seinen über 6000 überlieferten Briefen gesondert thematisiert werden; eine Arbeit, die noch aussteht.
Einen ganz anderen biographischen Zugang zu Pestalozzi haben Keil (Wie Johann Heinrich seine Kinder lehrt) und Kraft (Pestalozzi oder das pädagogische Selbst) gesucht, der nur unter Einbezug zahlreicher Briefe und der Analyse der autobiographischer Texte gegangen werden konnte: Keil und Kraft gehen von Pestalozzi als dem am besten dokumentierten Pädagogen und pädagogischen Denker aus, um zum einen Pestalozzi als Vater und Erzieher seines Sohns Hans Jacob vorzustellen (Keil) und zum andern Pestalozzis Kindheit mit psychoanalytischen Methoden aufzudecken und zu analysieren (Kraft). Beide Arbeiten schließen zwei erstaunliche Lücken in der biographischen Pestalozzi-Forschung, einmal die Kindheit Pestalozzis, deren Beschreibungen in der älteren Literatur weitgehend allein den autobiographischen Aussagen des älteren oder alten Pestalozzi nacherzählt sind und einmal Pestalozzi als Vater seines einzigen Sohnes. Gerade das in Keils Interpretation "mißglückte" VaterSohnVerhältnis wurde in der Rezeption weitgehend übergangen, wohl um in der verehrenden Hagiographie keinen Schatten auf die Person des pädagogischen "Heiligen" fallen zu lassen. Keil und Kraft belassen es aber nicht bei einem Beitrag zur Pestalozzi-Forschung, sondern bearbeiten am Beispiel Pestalozzis ein erziehungswissenschaftliches Problem: bei Keil ist es der Zusammenhang zwischen Erziehungsanspruch und Erziehungswirklichkeit, so auch im Untertitel und noch deutlicher bei Kraft, der im ursprünglichen Titel seiner Arbeit gar nicht Pestalozzi anführte: er will primär eine Psychoanalyse pädagogischen Denkens vorlegen und den Zusammenhang von biographischer Konstellation und pädagogischer Theoriebildung aufdecken, und er tut dies allein wegen der Materialfülle exemplarisch an der Person Pestalozzis. Wenn die mögliche Abklärung dieser erziehungswissenschaftlichen Fragen am Beispiel Pestalozzis auch als eine von Pestalozzis Wirkungen zu beschreiben ist, dann stehen Keil und Kraft diametral zu Osterwalder, der die Wirkungen Pestalozzis letztlich auf die Intensität der Rezeption der Methode reduziert.
Nicht in den Rahmen der wissenschaftlichen Pestalozzi-Forschung paßt der in Horns Schrift (Pestalozzi: Der Mut des Demütigen) durch Textauszüge rezipierte Pestalozzi. Ziel ist nicht die Person des historischen Pestalozzi, sondern eine Zusammenstellung von kurzen Textauszügen, die der Autor als "Worte zum christlichen Glauben" versteht und beschreibt. Die Rezeption Pestalozzis ist damit auch 1996 nicht nur eine kritische (Osterwalder, Oelkers u.a.), nicht nur eine auf den historischen Pestalozzi gerichtete Erforschung (Stadler, Keil, Kraft u.a.), sondern ebenso eine partielle Gesichtspunkte herausgreifende und auslegende Rezeption. Pestalozzis Texte als einen auch solche sektorale Auslegungen ermöglichenden Fundus zu sehen, macht Horns Textauswahl deutlich. Die Neuauflage der Texte von Müller bietet dagegen ein heute kaum akzeptables PestalozziBild und verbindet die Nähe zu Steiners anthroposophischer Pädagogik mit einer starken Distanz zu jedem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Pädagogik.
Die beiden Veröffentlichungen von Tschöpe-Scheffler zu Pestalozzis Leben und Wirken im Zeichen der Liebe und von Germann-Müller zu Pestalozzis Mutterbild vereint eine heute brüchig gewordene Tradition der Pestalozzi-Rezeption: es werden einmal Pestalozzis Aussagen zum Mutterbild und einmal Pestalozzis Aussagen zur sehenden Liebe als Gegenstück des Bösen und Egoistischen, aufgehoben durch die Intensität der mütterlichen ganzheitlichen Umsorgung des Kindes, ganz als Aussagen von heutiger pädagogischer Aktualität gedeutet, ohne dabei Pestalozzis zeitbedingten Kontext zu reflektieren.
Einen anderen Charakter hat die Studie über Pestalozzis Spuren in Glarus (Pestaslozzis "Gemeinde" in Glarus) sie entwirft als Unterrichtsprojekt der Lehramtsschule Glarus ein lokalhistorisch ausgerichtetes Zeitbild der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Den roten Faden dieses Zeitbildes bildet zwar Pestalozzis Rezeption in Glarus und die Darstellung des bildungspolitischen Diskurses jener Zeit, aber die Darstellung endet 1846 mit dem Umschlag zur legendenähnlichen "Verehrung" Pestalozzis, die auch als solche herausgestellt wird. Die bildungshistorische Studie "Pestalozzis 'Gemeinde' in Glarus. 18051846" begrenzt sich auf ihre geschichtliche Fragestellung und eine pädagogische Inanspruchnahme Pestalozzis nach dem Motto "Pestalozzi aktueller denn je" findet nicht statt.
Selbstverständlich ist die Abgrenzung dieses Kapitels nicht trennscharf. Zur Rezeptions und Wirkungsgeschichte im engeren Verständnis gehören sicher noch weitere Veröffentlichungen, vor allem die Bände 3 und 4 der Neuen Pestalozzi-Studien und mehrere Einzelbeiträge in Zeitschriften und Sammelwerken, die allein aus systematischen Gründen in einer gesondereten Liste vorgestellt werden. Aber auch einige Themenhefte von Zeitungen und Zeitschriften und mehrere der im 5. Kapitel vorgestellten Monographien oder einige der in Kapitel 7.2 vorgestellten. In einem weit gefaßten Verständnis von Rezeptions und Wirkungsgeschichte wären diesem letztlich fast alle neueren wissenschaftlichen Arbeiten zur Pestalozzi-Forschung zuzuordnen, so sicher auch die große Biographie von Stadler oder die Arbeit von Keller.
Die in diesem Kapitel vorgestellten Arbeiten können vier Gruppen zugeteilt werden: einmal zeigen sie den historischen Pestalozzi in seiner Zeit (Stadler, Bänziger) oder setzen sich mit seiner frühen geschichtlichen Rezeption auseinander (Pestalozzis "Gemeinde" in Glarus), einmal belegen sie die Berechtigung, von Pestalozzi aufgeworfene Einzelfragen, aber auch die Beschäftigung mit seiner Biographie noch heute in den pädagogischen Diskurs aufzunehmen (Keil, Kraft, Tröger), einmal führen sie die mehr traditionellen Rezeptionslinien fort (GermannMüller, Tschöpe-Scheffler), und einmal geben sie anhand von ausgewählten Zitaten eine vom Stand der wissenschaftlichen Pestalozzi-Forschung wenig beeinflußte Darstellung von Pestalozzis vermeintlichen Impulsen für heutige Leser (Müller, Der Mut des Demütigen).