Pestalozzi, Johann Heinrich: Der Mut des Demütigen. Worte zum Glauben.
Ausgew. u. eingel. v. Hermann Horn.
Zürich: Theologischer Verl. 1996. 152 S.
Das Buch von Hermann Horn ist keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pestalozzis Leben oder Werk oder seinen Glaubenspositionen, sondern eine Zusammenstellung jeweils kurzer, oft nur halbseitiger Textauszüge, die sich als Worte eines Gläubigen zum christlichen Glauben verstehen. Diese Textauszüge sind nicht chronologisch geordnet und springen außerdem zwischen Briefen und Werken hin und her, wobei der Schwerpunkt auf Briefauszügen und den Yverdoner Institutsreden liegt. Die Entwicklung Pestalozzis und die unterschiedlichen auf ihn wirkenden Einflüsse werden dabei ebensowenig sichtbar wie seine im Laufe der Jahrzehnte schwankenden theologischen Positionen. Es wird das unzutreffende Bild einer gleichbleibend von christlicher Frömmigkeit durchdrungenen Persönlichkeit vermittelt. Die Textauszüge sind systematisch bzw. thematisch gruppiert: "Formen und Fehlformen des Glaubens" (S. 1235), "Glauben als bestimmende Macht im Leben des Einzelnen" (S. 3666), "Glauben in der Verbundenheit der Gemeinde" (S. 6790), "Glauben und Bildung zur Verantwortung in der Welt" (S. 91120) und "Glauben im Bereich des Staates und der Gesellschaft" (S. 121141). Da die einzelnen Textauszüge nicht kommentiert werden, bleiben Hintergründe unausgeleuchtet, dem Leser wird nicht deutlich, daß Pestalozzis Verweis auf den allmächtigen und allgütigen Vater im Himmel in einem Brief an seinen Sohn Hans Jacob das Versagen des realen Vaters Pestalozzi gegenüber seinem Sohn überdeckt und ähnliche Wendungen in den Yverdoner Institutsreden sehr bewußt als Instrument zur Stärkung der eigenen Autorität in den dortigen Auseinandersetzungen eingesetzt werden bis hin zu Pestalozzis Vorstellungen, sich selbst in der Nachfolge Christi über Erziehung und die Methode als Erlöser der Welt zu sehen.
Horn versteht seine Textzusammenstellung als ein "Lesebuch", das zu meditierendem Lesen hinführen soll, und beschreibt als Intention seiner Veröffentlichung, daß der Leser sich in seinem eigenen Glauben in diesen Zeugnissen wiederfinden möge (Einführung, S. 10 f). Diese Intention bedingt, daß die wiedergegebenen Textauszüge kein zutreffendes Bild des historischen Pestalozzi zeichnen, weder des realen Menschen Pestalozzi noch des pädagogisch engagierten, sozial und politisch in die Themen und Probleme seiner Zeit eingebundenen Pestalozzi. Das Buch wird ergänzt durch eine tabellarische Aufstellung der Lebensdaten von Pestalozzi, einigen Wort und Sacherklärungen zu heute ungebräuchlichen Wörtern und Begriffen, sehr knappen Auskünften über Personen, die in den Textauszügen vorkommen, bzw. Adressaten von Briefen sind, und einer Auswahl Bibliographie, die aber nur sehr begrenzt auf neuere Titel zur Auseinandersetzung mit Pestalozzi verweist.
In einer Besprechung dieser Veröffentlichung unterstellt Franz Josef Wehnes (Pädagogische Rundschau 4/1996, S. 559561), daß Horn mit seinem "Lesebuch" zu Pestalozzis Gedanken über Gott und seinem lebenslangen Ringen um den richtigen Gottesglauben eine Neubesinnung in der ansonsten auf Verehrung ausgerichteten Pestalozzi Rezeption einleiten will, die dem Leser eine aktuelle Orientierung in der heutigen Umbruchszeit geben kann. Allerdings dokumentiert die Aussage, daß das von Oelkers und Osterwalder herausgegebene Sammelwerk "Pestalozzi Umfeld und Rezeption. Studien zur Historisierung einer Legende" die wohl letzte über Pestalozzi erschienene größere Monographie sei, keine allzu große Kenntnis der Pestalozzi Literatur der letzten Jahre. Die weitere Einschätzung, daß Horns Schrift Teil einer vorurteilsfreien Neubesinnung auf Pestalozzi ist und sich Horn damit wenngleich etwas behutsamer als Oelkers in die Revision des Pestalozzi Bildes einreihe, verkennt sowohl die Zielrichtung der Position von Oelkers als auch den Stellenwert von Horns Textsammlung innerhalb der Pestalozzi rezipierenden Sekundärliteratur.
Anders als Wehnes sieht Hans Maaß in einer Besprechung von Horns Textsammlung (Beiträge Pädagogischer Arbeit 4/1996, S. 5556) weniger einen Beitrag zur Pestalozzi Rezeption als eine Sammlung von Denkanstößen für den Leser und besonders für die Gestaltung des Religionsunterrichts. Pestalozzis sichtbarungebrochenem Vertrauen in die mögliche Veredelung der menschlichen Natur durch Erziehung oder christlichen Glauben müßten wir nach Karl Barths Kritik am Kulturprotestantismus und den Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte doch mißtrauischer gegenüberstehen als es in Horns Textsammlung sichtbar wird.
Zum Autor:
Hermann Horn ist innerhalb der Pestalozzi Rezeption mit seiner Schrift "Glaube und Anfechtung bei Pestalozzi. Eine Studie über Pestalozzis Brief an Nicolovius vom 1. Okt. 1793 und über die Gestalt Glüphis" (Heidelberg: Quelle & Meyer 1969. 91 S.) hervorgetreten. In der Theologischen Realenzyklopädie (Berlin, New York: de Gruyter, Bd. 26, 1996, S. 244248) hat Horn den Artikel "Pestalozzi, Johann Heinrich (17461827)" abgefaßt und gibt darin eine kurze Schilderung von Leben und Werk Pestalozzis, seiner Religiosität, des Zusammenwirkens von Glauben und Erziehung und zu Pestalozzis Wirkung. Horn ergänzt diese Darstellung mit einer umfangreichen Literaturzusammenstellung zumeist älterer Titel.