Pestalozzi ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik.
Fritz Osterwalder
Weinheim u. Basel: Beltz 1996. 575 S.
In dieser umfangreichen Schrift (575 S.), die zugleich Osterwalders Berner Habilitationsschrift von 1995 ist, geht der Autor Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik nach. Osterwalder hinterfragt in seiner Untersuchung die in der pädagogischen Literatur weithin unumstrittene Feststellung, derzufolge Pestalozzi der Begründer der modernen Schule und der modernen (wissenschaftlichen) Pädagogik sei.
Während nach Osterwalder die bisherige PestalozziForschung die von ihr behauptete Kontinuität pädagogischen Denkens zwangsläufig dadurch erzeugt, daß sie Pestalozzi immer auf der Folie ihrer eigenen Positionen interpretiert, geht Osterwalder, um dieser Gefahr vorzubeugen, umgekehrt vor: er verzichtet bewußt darauf, Pestalozzis Werk zu interpretieren und beschränkt sich auf die Untersuchung, was von Pestalozzis Werk und wie wahrgenommen, verarbeitet und weitertradiert wird. Das grundsätzliches Manko der Geschichtsschreibung innerhalb der pädagogischen Disziplin ist nach Osterwalder die beliebige Vermischung der Geschichte des Denkens und Redens über Erziehung mit der Geschichte der Erziehung und ihrer Institutionen.
Osterwalder gliedert seine Arbeit in drei Zeitkomplexe: Teil I (18001827) umfaßt den Zeitraum von Pestalozzis Durchbruch in der Öffentlichkeit um 1800 bis zur Herausbildung eines liberalen Erziehungsdiskurses um 1827, wobei dieses Datum eher zufällig mit Pestalozzis Tod zusammenfällt. Teil II (18271860) wird als die Phase herausgestellt, in der der liberale Erziehungsdiskurs sich in offener Konkurrenz zur theologischreligiösen Tradition der 'protestantischen Pädagogik' verallgemeinert und etabliert. In Teil III (18601896) wird Pestalozzis Wirkung in der Phase untersucht, die zu einer Vereinheitlichung des pädagogischen Diskurses führt, aus der dann auch die universitäre und geisteswissenschaftliche Pädagogik hervorgeht. Im Schlußteil geht der Autor noch kurz auf die PestalozziRezeption in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und in den unterschiedlichen Strömungen der Reformpädagogik ein.
In Osterwalders Untersuchung zeichnen sich durchgängig drei thematische Schwerpunktsetzungen ab:
- Pestalozzis Wirkung wird in der Schweiz nachgezeichnet, die Rezeption
in Deutschland, besonders in Preußen, bleibt marginal. Allerdings
wird der deutsche Tradierungsstrang in der Form von Diesterwegs Schulpädagogik,
die sehr stark in die schweizerische Entwicklung hineinwirkte, einbezogen
und auch einige Vergleiche zwischen den schweizerischen und deutschen
pädagogischen Diskursen gezogen. Da die französisch und italienischsprachige
Schweiz aber voll in die Untersuchung mit einbezogen wird, wird in
dieser Intensität erstmals auch der Austausch der schweizerischen
mit der französischen und italienischen Pädagogik im 19.
Jahrhundert thematisiert und nicht allein nur auf den Austausch der
schweizerischen mit der deutschen Pädagogik abgehoben.
- Osterwalder mißt Pestalozzis Wirkung vor allem am Stellenwert
der Methode in der sich herausbildenden Volksschule. Das öffentliche
Schulsystem der Schweiz kann danach entgegen der landläufigen
Zuschreibung "Legende Pestalozzi" nicht auf Pestalozzi zurückgeführt
werden, sondern stellt das Ergebnis des Zusammenwirkens des öffentlichrechtlichen
pädagogischen Diskurses mit dem politischen Diskurs des frühen
Liberalismus in der Schweiz dar. Über die helvetische Wende hinaus
behält in der Schweiz, anders als in den Nachbarstaaten mit ihren
restaurativen Brüchen, dieser bürgerliche Liberalismus fortdauernden
Bestand und die Schweiz bewahrt diesen auch über die föderalistischen
und konfessionellen Grenzen hinweg. Für die sich herausbildende öffentliche
Schule stellte sich sodann zentral die Frage nach der Auswahl und der
Anordnung des Wissens, das für die lineare Aneignung durch alle
Heranwachsenden gedacht ist. Gerade für diese entscheidende Frage
aber hatte die Methode keine brauchbare Antwort: sie ist nicht auf
(berufs)praktische Qualifizierung gerichtet, trennt Wissensvermittlung
nicht klar von allgemeiner Erziehung, ist zu sehr auf idealistischen,
sensualistischen und zunehmend auch religiösen Voraussetzungen
errichtet und ist zudem mit einem uneinlösbaren Absolutheitsanspruch
seitens der Pestalozzianer (z.B. Niederer) versehen worden.
- Schon zu seinen Lebzeiten wird der Name Pestalozzi als Symbol in den unterschiedlichsten politischen und pädagogischen Auseinandersetzungen verwendet, indem die national und übernational bekannten Schweizer an erster Stelle Pestalozzi, aber auch Rousseau, Girard, Johannes von Müller, Niederer, Hanhart, Orelli und Hurter gerne zur Stärkung eigener Positionen und zur Kennzeichnung der Provinzialität der gegnerischen Positionen angeführt werden. War die Person Pestalozzi bis ca 1830 eher das Symbol der politischen Reformbewegung, so wird Pestalozzi nach 1830, als sich die Trägerschaft des pädagogischen Diskurses zunehmend auf die neue Volksschullehrerschaft verlagert, zum Symbol der Schule schlechthin. Vor allem der Einfluß und die Publizistik Diesterwegs hat den eigentlichen PestalozziKult begründet, der sich in Deutschland und ganz besonders in Preußen als Symbol für die Professionalisierung und den sozialen Aufstieg der Volksschullehrerschaft herausbildet. In der Schweiz waren die 1846er Feiern noch überwiegend von der Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Liberalen geprägt und Pestalozzi eher das Symbol eines verinnerlichten Christentums und eines erneuerten Pietismus innerhalb einer christlich geprägten nationalen Einheit (vgl. S. 312313). Aber sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz waren nicht Werk oder Konzepte Pestalozzis Gegenstand des Erinnerns, sondern allein das Symbol seiner Person und die je unterschiedliche Verwendung dieses Symbols. In der Schweiz wird Pestalozzi gegen Ende des Jahrhunderts (1896) endgültig zum Symbol schweizerischer Nationalerziehung und seine Person neben Wilhelm Tell zum Helden der Schweiz schlechthin. Gleichzeitig machen in Deutschland sowohl die geisteswissenschaftliche Pädagogik und die reformpädagogischen Strömungen Pestalozzi zu ihrem Gewährsmann und Paul Natorp hebt Pestalozzi sogar in seine neukantianisch ausgerichtete Universitätsphilosophie.
Auch nach den sehr materialreichen Untersuchungen Osterwalders bleiben Fragen offen, die hier angedeutet werden sollen:
Der Vorwurf, die PestalozziRezeption verwende Pestalozzi immer nur als Symbol und fast ohne Werkkenntnis, überzeugt in ihrer Pauschalität nicht, zumal Osterwalder selbst Pestalozzis Werk bewußt nicht interpretiert, sondern seine Aussagen über Pestalozzi fast ausschließlich aus der PestalozziRezeption gewinnt. Pestalozzis sekundäre Interpretation muß aber in ihrem Gehalt stärker am originalen Werk gemessen werden.
Die Aussage, daß Reden über Erziehung allein noch nicht die Erziehungswirklichkeit verändert, trifft zu, aber Nachdenken über Erziehung, wozu Pestalozzi bis heute anregt, prägt seitens der Erzieher auch pädagogisches Handeln. Das vielschichtige Werk Pestalozzis ist allerdings nicht in sich systematisch aufgebaut oder in sich widerspruchslos. Es ist daher selbstverständlich, daß unterschiedliche Leser und Interpreten zu unterschiedlichen Zeiten mit Bezug auf Pestalozzi zu untershiedlichen Aussagen über Erziehung kommen.
Osterwalders provozierende Einschätzung der PestalozziRezeption als eine Reihung von "PestalozziCollagen" trifft einen zentralen Kern der Rezeption. Aber nicht die gesamte PestalozziRezeption ist unter dieser Einschätzung zu fassen und der Begriff Collage hat ohnehin ein zweite Seite: als Kunstgattung kann sie Eindrücke und Einsichten vermitteln, das Theaterstück "Denkmalenthüllung" von Eva Schneid und Christian Haller nennt sich bewußt eine "Textcollage", nicht aus Verehrung konzipiert, sondern um den Zuhörern Eindrücke einer originellen und originalen Person der Geschichte weiterzugeben. Osterwalders abschätzige Verwendung des Begriffs Collage ist in seiner möglichen Rückwirkung auf den Autor ohnehin ein gefährliches Instrument, da Osterwalders treffend zusammengestellte Zitate aus der PestalozziRezeption letztlich als RezeptionsCollagen gedeutet werden können.
Pestalozzis literarisches Gesamtwerk ist nicht schon allein dadurch obsolet, daß es im Verlauf der Rezeption fehlinterpretiert wurde, die Pestalozzische Methode schulpädagogisch wenig oder nichts bewirkte und Pestalozzi im Verlauf seiner Rezeption zum Symbol, zum Mythos, zur Legende oder gar zur Kultfigur erhoben bzw. verklärt wurde, in der Schweiz eventuell mit einer anderen Akzentuierung als in Deutschland.
Indem Osterwalder Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik untersucht und zu dem Ergebnis kommt, daß Pestalozzi eben nicht der Begründer der modernen Schule oder der modernen Pädagogik ist, muß sich Osterwalder ausführlich mit den anderen Faktoren, die zum Entstehen der modernen Schule oder zur Herausbildung der modernen Pädagogik führten, auseinandersetzen. Damit leistet Osterwalder über seinen Beitrag zur PestalozziForschung hinaus einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Pädagogik, genauer zur Geschichte des theoretischen pädagogischen Denkens und des Entstehens der modernen Schule im Verlauf der letzten 200300 Jahre, wobei sein Blick stark auf die spezifisch schweizerische Entwicklung ausgerichtet ist.
Osterwalder hat seine Thesen 1996 anläßlich der Wiederkehr von Pestalozzis 250. Geburtstag in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen weitergetragen. Er hat sie noch weiter zugespitzt auf die Aussage, daß erst Pestalozzis umfangreiche Rezeption, die nicht aus seinem Werk, sondern allein aus dem Professionalisierungsbemühen der preußischen Volksschullehrer und dem Bedürfnis der Schweiz nach einer nationalen Identifikationsfigur, zu erklären sei, Pestalozzi zu einem singulären Klassiker der Pädagogik hochstilisiert habe. Aus der zeitlichen Distanz späterer Jubiläen könnte allerdings auch Osterwalders PestalozziRezeption als Teil einer zeitbedingten Rezeption erscheinen und als Beleg für die Wirkungsmacht von Pestalozzis Leben und Werk gedeutet werden.