Geisteswissenschaftliche Studien zu Dilthey und zur Pestalozzi-Rezeption Nohls.
Giosua Thöny-Schwyn
Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1997. 156 S. (Studien zur Geschichte der Pädagogik und Philosophie der Erziehung, Bd. 20).
Die Veröffentlichung von Giosua Thöny-Schwyn besteht aus zwei voneinander getrennten "geisteswissenschaftlichen" Studien, deren verbindendes Band nicht die doppelte PestalozziRezeption Diltheys und Nohls ist, sondern allein das enge geistesgeschichtliche Band zwischen diesen beiden Autoren. In der ersten "Studie zu Wilhelm Diltheys Rede anlässlich der Feier zu seinem siebzigsten Geburtstag" (S. 992) entwirft Thöny-Schwyn am Text und den Abschnitten dieser Rede eine Gesamtinterpretation von Diltheys Leben und Werk und will mit dieser Studie, wie er im Vorwort (S. 78) sagt, das forschungstheoretische Beispiel einer historischhermeneutischen Forschungskonzeption vorlegen. Bei der Darstellung der Entwicklung von Diltheys lebens und werkgeschichtlichem Werden und deren gegenseitigen Zusammenhängen werden sowohl von Thöny-Schwyn wie von Dilthey selbst in seiner Geburtstagsrede zwar zahlreiche für Dilthey einflußreiche Philosophen und Persönlichkeiten von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts genannt, aber trotz deutlicher Akzentsetzung auf der Zeit des Übergangs von der Aufklärung zur Moderne um den Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert wird Pestalozzi nicht erwähnt, obwohl als eine zentrale geistesgeschichtliche Problemlage das Abwägen der Allgemeingültigkeit bzw. Relativität von Aussagen diskutiert wird, auch Diltheys Ansätze zur Grundlegung der pädagogischen Wissenschaft als einer geisteswissenschaftlichen Disziplin. Beides Themenbereiche, bei denen ein Rückbezug auf Pestalozzi denkbar gewesen wäre.
In der zweiten Studie zur "Wirkungsgeschichte Pestalozzi-Nohl in der Pädagogik" (S. 95/56) beginnt Thöny-Schwyn mit methodischen Überlegungen zum Thema wirkungsgeschichtlicher Forschung. Einmal will der Autor wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Pestalozzi und Nohl, hier selbstverständlich von Pestalozzi auf Nohl (18791960), zeigen und einmal mit dieser Studie seine wirkungsgeschichtliche Forschungskonzeption ein weiteres Mal exemplifizieren. Seine anfängliche These, daß Pestalozzi in der Pädagogik Nohls und insbesondere für die von Nohl entwickelte Theorie des pädagogischen Verhältnisses von systematischnachhaltiger Wirkungsbedeutung ist, sieht Thöny-Schwyn am Ende seiner Studie bestätigt und kommt zu dem Schluß, daß die Wirkungsbeziehung "Pestalozzi Nohl" als erwiesen gelten kann. Thöny-Schwyn beginnt mit der Suche nach Spuren, die von Nohl zu Pestalozzi führen: es sind fünf Artikel über Pestalozzi, die ersten beiden 1926 und 1927 im Umfeld des 1927er Jubiläums, dann ein Beitrag zum 1946er Jubiläum, noch einmal 1949 und am aufschlußreichsten der Beitrag "Johann Heinrich Pestalozzi, 17461827" aus dem Jahr 1956/57 in der von Heimpel herausgegebenen fünfbändigen Deutschen Biographie "Die großen Deutschen" und desweiteren zahlreiche Bezüge auf Pestalozzi in Nohls sonstigen Schriften. Mit der Analyse dieser Aussagen wird herausgearbeitet, daß Nohl durchgängig und von seinen frühen Schriften an eine systematische Deutung von Pestalozzis Werk als einem im Leben selbst fundiertem sozialpädagogischem Ansatz vornimmt und Pestalozzi in einen für ihn (Nohl) entscheidenden geistesgeschichtlichen Horizont hineinstellt, in Sturm und Drang bzw. die "Deutsche Bewegung". Nohl betont zwar insbesondere den sozialpädagogischen Ansatz, sieht in Pestalozzi aber den Schul und Sozialpädagogen vereint, denn Schule soll immer in einem individualpädagogischen Sinne der Entwicklung der menschlichen Kräfte dienen, was allerdings nur innerhalb einer volkspädagogischen bzw. bildungspolitischen Gesamtperspektive realisiert werden kann. Die Methode Pestalozzis ist danach nicht eine Abfolge von formalistischen Übungen wie es in den Übertreibungen seiner Schüler und vereinzelt auch in Pestalozzis Selbsteinschätzung erscheint, sondern Erfüllung des in der Natur selbst angelegten Ganges, der die unmittelbare Erfahrung des Lebens zur Voraussetzung hat.
Pestalozzi ist in Nohls Sicht aber nicht nur der "Begründer einer modernen geisteswissenschaftlichen Pädagogik" zumindest in deren frühen Phase, er hat vor allem eine systematische Wirkungsbedeutung für Nohls Bildungstheorie und seine individualtheoretische Begründung der Autonomie der Pädagogik. Zugleich ist für Nohls Pädagogische Anthropologie Pestalozzis anthropoligischtheoretische Leistung wegweisend, den schichtenartigen Aufbau des Menschen erkannt und in den "Nachforschungen" eindrucksvoll ausgebreitet zu haben. Noch deutlich stärker als die explizite Wirkungsbedeutung schätzt Thöny-Schwyn sodann die implizite Wirkungsbedeutung Pestalozzis ein, die vor allem von Pestalozzis "Stanser Brief" ausgeht und geradezu theoriebildend für Nohls Theorie des pädagogischen Verhältnisses bzw. des pädagogischen Bezugs wird. Nohl faßt dabei das Vater- und Mutter-Motiv Pestalozzis in seinen Erzieher-Begriff zusammen. Für Nohl bildet das Leben und ist zugleich das Ziel der Erziehung. Die Mutter steht für ihn wie für Pestalozzi für den Ausgang des Lebens und in einem erweiterten Sinn auch der Vater, die Familie bzw. der Erzieher. In Nohls Bildungstheorie wird die implizite Wirkung von Pestalozzis Stanser Brief besonders deutlich: für beide Autoren baut Menschenbildung und Menschenerziehung immer auf den natürlichen Lebensbezügen Mutter, Vater, Familie und Geschlecht auf, Mutter steht dabei für liebende Hingabe und Fürsorge, Vater für Führung und Festigung.
Während für Thöny-Schwyn Pestalozzi als Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik anzusehen ist, steht für ihn Nohl am Ende dieser Entwicklung und gibt der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik ihren "vollendeten Abschluss" (S. 155). Beide Pädagogen teilen grundlegende pädagogische Theoreme wie die anthropologische Konzeption, das Verhältnis von Anschauung und Begriff, die Betonung der erzieherischen Bedeutung der Familie und die individualpädagogische Sichtweise. Zwar ist auch Nohl zeit- und situationsbedingt vereinzelt in die Sprache der Verehrung ("heilig", "das grösste pädagogische Genie, das der deutsche Raum hervorgebracht" hat) verfallen, aber an seiner Pestalozzi-Rezeption wird augenfällig, daß er nicht ohne Textkenntnis nur ein verehrendes Verhältnis zu Pestalozzi hatte, sondern sich lebenslang intensiv mit Pestalozzis Person und Werk auseinandersetzte und Pestalozzi rezeptionsgeschichtlich auf Nohl theoriebildend wenn nicht sogar theoriebestimmend wirkte.