Zur Wiederkehr des 250. Geburtstags von Johann Heinrich Pestalozzi. Beiträge zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte.
Themenheft der Pädagogischen Rundschau 1/1996. 206 S.
Das von Leonhard Friedrich konzipierte Themenheft der Pädagogischen Rundschau bietet unterschiedliche Beiträge zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte Pestalozzis.
So gibt Leonhard Friedrich in seinem Beitrag "Zur Erforschung der Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis. Geschichte - Stand - Perspektiven" (S. 35-58) einen Überblick über die Geschichte der Pestalozziforschung und der von den Pestalozzi-Jubiläen ausgehenden Impulse, berichtet über die Genese und den gegenwärtigen Stand der vor ihrem Abschluß stehenden Kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen und zeigt Perspektiven zukünftiger Pestalozziforschung auf, die seit 1994 zusätzlich zur gedruckten auf die von Friedrich zusammen mit Sylvia Springer konzipierte CD-ROM-Volltext-Edition zurückgreifen kann.
Ralf Broker und Sylvia Springer schildern in ihrem Beitrag "Erstellung und Nutzung einer Volltextdatenbank in den Geisteswissenschaften. Bericht über die elektronische Erfassung der Kritischen Pestalozzi-Ausgabe und Erörterung von Nutzungsmöglichkeiten für die Registererstellung" (S. 75-94) das Projekt der Erstellung dieser Volltextdatenbank, der Aufbereitung ihrer Daten und ihre Nutzungsmöglichkeiten für die Registererstellung der Kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen. In den abschließenden "Perspektiven" (S. 92) sehen Brocker und Springer die großen Vorteile dieser Volltextdatenbank in der Möglichkeit des Erstellens von themenzentrierten Teileditionen und des "publishing on demand" und sähen am liebsten auch die gesamte Sekundärliteratur digitalisiert. Gabriela Reppert stellt die CD-ROM-Edition als Recherche- und Evaluationsintrument im Hinblick auf Pestalozzis Rousseau-Rezeption vor (S. 95-107) und hält die bis heute vorgelegten Untersuchungen zum Verhältnis von Pestalozzi und Rousseau im ganzen für unzureichend. Deren fragwürdige Deutungen hätten allesamt ihre Ursachen in einer unvollständigen Auswertung des vorhanden Quellenmaterials. Mit einer Digitalisierung der Werke Rousseaus und der Dokumente der zeitgenössischen Rousseau-Rezeption, z.B. im Zürcher Bodmerkreis, könnte ein weiterer Erkenntnissprung möglich werden. Harald Bergmann zeigt an den Begriffen "Lehrer" und "Beobachtung" die Ranking-Funktion der Pestalozzi-CD-ROM als Instrument der Interpretation (S. 109-115) und macht Verbesserungsvorschläge für die graphische Darstellung der Häufigkeit des Auftretens von Suchbegriffen: so sollten bei den Suchanfragen auch synonyme und trunkierte Begriffe zu ermitteln sein und die graphische Darstellung sollte man jeweils als Bilddatei zur Weiterverarbeitung ablegen können. Gerhard Kuhlemann bespricht vergleichend die Volltextdatenbank "Pestalozzis Sämtliche Werke und Briefe" mit der bibliographischen Literaturdatenbank "Literaturdokumentation Bildung" (S. 159-182) und sieht in beiden CD-ROM-Datenbanken äußerst nützliche Hilfsmittel wissenschaftlichen Arbeitens. Diese Hilfsmittel erleichtern zwar ganz wesentlich die wissenschaftliche Analyse und Bearbeitung der nun recht leicht recherchierbaren und erschließbaren Texte, können aber die eigentliche wissenschaftliche Arbeit an Texten nicht ersetzen. Nicht die Arbeitserleichterung, sondern nur die Qualitätssteigerung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse darf den Einsatz der Datenbanktechnik in der Wissenschaft rechtfertigen.
In den weiteren Beiträgen geht zuerst Fritz-Peter Hager auf den Zusammenhang von Aufklärung und christlichem Platonismus in Pestalozzis religiösen Anschauungen ein (S. 3-33). Aufklärungsphilosophie und christlicher Platonismus haben nach seiner Meinung Pestalozzi gleichermaßen beeinflußt. In der Zeit der Krise zwischen "Abendstunde" (1780) und "Nachforschungen" (1797) und besonders in den Nachforschungen selbst, tritt die Aufklärungsphilosophie stärker hervor, in der Abendstunde und beim späten Pestalozzi dagegen stärker der christlich in Anspruch genommene Platonismus. Daniel Tröhler arbeitet "Hauptströmungen und Tendenzen der Schweizer Pestalozzi-Forschung" (S. 59-74) heraus und charakterisiert eine erste Phase bis 1906 mit Idolisierung, Nationalisierung, Pädagogisierung und Akademisierung. Für die Phase bis 1926 kennzeichnet Tröhler die Pestalozzi-Forschung "als eher karg" und die divergierende Pestalozzi-Interpretation dieser Jahre wurde beeinflußt von der Debatte zwischen Empirismus und Apriorismus in einer sich wandelnden pädagogischen Wissenschaft. In der Zeit von 1927-1979 dominiert die geisteswissenschaftliche Pädagogik und gleichzeitig die Arbeit an der Edition der Kritischen Gesamtausgabe. Nach einem ca 10jährigen Stillstand zeichnet sich in den 80er Jahren eine erneute Intensivierung der Pestalozzi-Forschung in der Schweiz ab: die Fertigstellung der Kritischen Gesamtausgabe wird tatkräftig in Angriff genommen und wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Arbeiten dominieren die wieder wachsende Zahl von Publikationen. Stadler markiert 1988 mit dem ersten Band seiner "Geschichtlichen Biographie", in der er Pestalozzi im Kontext der Realgeschichte situiert, den Wendepunkt. Für die Zukunft erwartet Tröhler, daß die Pestalozzi-Forschung vor allem aus der französischen Schweiz und von Frankreich her neue Impulse erhält. Fritz Osterwalder arbeitet in seinem Beitrag "Pestalozzis Einheit - ein theologisches Problem im Zentrum der Pädagogik" (S. 117-131) die These heraus, daß Pestalozzi seine Problemstellungen der erneuerten reformierten und pietistisch bestimmten Theologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts entnimmt und sich selbst einschließlich seines mehrmaligen Scheiterns und bestärkt durch seine "Jünger" (Niederer wird u.a. angeführt) in der Rolle des Offenbarers eines neuen Zeitalters neben Moses, Samuel, David und den Propheten sieht und schließlich von seinen "Jüngern" sogar in die Christusnachfolge gerückt wird. Osterwalder folgert, daß Pädagogik, die sich auf Pestalozzi beruft, statt auf Erfahrung, Irrtum und Korrektur im Sinne einer modernen Wissenschaft auf Gesinnung, wiederholtes Scheitern und unkorrigierbare Beharrlichkeit setzt. In ihrem Beitrag "Pestalozzi als Gutachter seiner Zöglinge" (S. 133-144) geht Gudrun Schnapp auf die von Pestalozzi vorliegenden Beobachtungen und Beschreibungen seiner Zöglinge und auch seines Sohns ein, wobei die gutachtliche bzw. diagnostische Tätigkeit in Yverdon, wie sie sich in den Briefen an die Eltern der Zöglinge dokumentiert, im Mittelpunkt steht und sich in die drei Dimensionen der Beurteilung der körperlichen, geistigen und sittlich-sozialen Entwicklung fassen läßt. Eine ausführlichere Studie zum Problem der Beurteilung und Beratung müßte vor allem Quellenmaterial aus anderen Erziehungsanstalten und Schulen der Zeit mit einbeziehen. Stefan Graber und Kurt Werder gehen in ihrem Beitrag "Probleme des Text-Leser-Verhältnisses (TLV) unter textologischem Aspekt - ein Thema für die Historische und Systematische Pädagogik? Analyse im Zusammenhang mit der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis sämtlichen Werken" (S. 145-157) der Frage editorischer Prinzipien einer Kritischen (KA) bzw. Historischkritischen (HKA) Textausgabe nach. Als Editoren der dritten Generation an der seit 1927 erscheinenden Werkausgabe sehen die Autoren durchaus Bedarf einer Anpassung der Gesamtedition an die Entwicklungen editorischer Theorie und Praxis der letzten Jahrzehnte.
Im Besprechungsteil des Themenhefts bespricht Werner Keil die ersten beiden Bände der von Fritz-Peter Hager und Daniel Tröhler herausgegebenen Neuen Pestalozzi-Studien (S. 182-188), in denen er interessante Forschungsarbeiten und Quellen publiziert sieht, wobei die ersten beiden Bände - jeweils einzeln betrachtet - noch nicht voll die anspruchsvolle Zielsetzung der Reihe aus dem Vorwort des ersten Bandes einlösen. Arthur Brühlmeier bespricht die zweibändige Geschichtliche Biographie von Peter Stadler (S. 188-195) und sieht in ihr trotz seiner im ganzen sehr positiven Würdigung - nicht eine letzte und nicht mehr zu übertreffende Darstellung, da Stadler zwar Pestalozzis soziale, politische, ökonomische und historische Dimension unübertreffbar herausschält, aber der philosophische, pädagogische und theologische Gehalt von Pestalozzis Schriften doch eher am Rande bleibt. Es sei auch durchaus denkbar, Pestalozzi stärker von seinem Erlebniskreis und seiner Selbstidentifikation her sichtbar zu machen. Elisabeth Meilhammer faßt in ihrer Besprechung von Horst Dräger "Pestalozzis Idee von der Freiheit der Erziehung: Pädagogik, Andragogik, Politik" (S. 195-197) die Kernthese der Habilitationsschrift (1989) von Dräger dahingehend zusammen, daß Pestalozzi nicht eine partikulare Pädagogik im Auge habe, sondern stets eine umfassende Volksbildung, in der sich Pädagogik (Bildung der Kinder) und Andragogik (Erwachsenenbildung) ergänzen und mit Politik als dem Prozeß der Herstellung einer lebbaren Ordnung verwoben werden.
In zwei Selbstanzeigen stellt zuerst Werner Keil seine zweibändige Arbeit "'Wie Johann Heinrich seine Kinder lehrt...'. Lebensgeschichte und Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi. Pestalozzis einziger Sohn zwischen Erziehungsanspruch und Erziehungswirklichkeit" (S. 198-202) vor und dann Fritz Osterwalder seine Arbeit "Pestalozzi - ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik" (S. 202-204).
Mit diesem Themenheft der Pädagogischen Rundschau liegt umfangreiches und vielschichtiges Material zum gegenwärtigen Stand der Rezeptions- und Forschungsgeschichte Pestalozzis vor, das über das Jubiläumsjahr 1996 hinaus seine Bedeutung behalten wird.