Gesamtbiographien und Medien zur Einführung in die Thematik "Pestalozzi"
Vergleichende Zusammenstellung
Biographische Darstellungen haben in der Pestalozzi-Rezeption eine lange Tradition, aber im ganzen eine unterschiedliche Qualität und einen unterschiedlichen Anspruch. Unter den hier besprochenen biographischen bzw. werkbiographischen Texten ragt die umfangreiche (zwei Bände mit insgesamt 1.190 Seiten) wissenschaftliche Pestalozzi-Biographie von Stadler "Geschichtliche Biographie" weit heraus, die aber vom Leser Vorkenntnisse und die Bereitschaft zum Einarbeiten in die Schweizer Geschichte erfordert. Stadler entwirft ein lebendiges Gesamtbild der Schweiz in der 2. Hälfte des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, in dem er dann Pestalozzi verankert. Damit verliert Pestalozzi seine singuläre Stellung und wird als ein Denkender, Handelnder und Schreibender in den dramatischen Zeitabläufen seines langen Lebens gezeigt. Stadler will bewußt nicht dem suggestiven Selbstbild Pestalozzis verfallen und hält deshalb Distanz zu dessen autobiographischen Aussagen und Texten. Bei Stadler treten die historischen Abläufe in den Vordergrund: so werden Pestalozzis politische und gesellschaftspolitische Stellungnahmen und Aussagen breit diskutiert, während die Interpretation seiner pädagogischen Schriften zurücktritt, ebenso wie die Analyse seiner theologischen oder philosophisch-anthropologischen Aussagen.
Anders als Stadler verstehen sich die Biographie von Liedtke und die Textsammlung von Hebenstreit ausgesprochen als Ein- bzw. Hinführungen zur Beschäftigung mit Pestalozzi, seinem Werk und seinen pädagogischen Vorstellungen und Konzepten. Sie sind damit zur allgemeinen Lektüre geeignet, besonders für Studierende, die sich im Laufe ihres Pädagogik-Studiums mit der Pestalozzi-Forschung und der Person oder den Werken Pestalozzis auseinandersetzen möchten. Liedtkes Pestalozzi-Biographie geht dabei stärker von Pestalozzis Lebenszusammenhängen aus und Hebenstreit stärker von ausgewählten und kommentierten Textauszügen. Auch das Studien- und Arbeitsbuch von Reinert u.a. zu Pestalozzis anthropologischem Denken und Handeln vermittelt einen gelungenen ersten Einblick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pestalozzi. Zwar beziehen die Autoren in der Auseinandersetzung um die Bedeutung Pestalozzis für pädagogisches Denken und Handeln deutlich Position und der Untertitel "Ein Konzept über die Zeiten" ist gleichsam Programm, aber über die beigeschlossenen Textauszüge wird zugleich ein Einlesen in die historische Abfolge der Pestalozzi-Rezeption möglich. Einen anderen Ansatz verfolgt Kuhlemann, der über einen aktuellen Literatur- und Forschungsbericht primär in die Pestalozzi-Forschung einführt, aber damit zugleich auch eine Einführung in Pestalozzis Leben und Werk ermöglicht.
Ganz besonders zur Ein- und Hinführung zu Pestalozzis Leben, Werken und Gedanken ist das Studienbuch von Kuhlemann/Brühlmeier geeignet. Die beiden Autoren geben einen biographischen Abriß von Pestalozzis Leben und Werk, eine kommentierte Bibliographie der neueren Pestalozzi-Literatur und Textauszüge aus acht seiner wichtigsten Werke, die jeweils mit einer ausführlichen Einführung versehen sind.
Die Bildbiographie von Soëtard hat wiederum einen anderen Charakter. Sein Sachbuch eröffnet interessierten Lesern einen Zugang vor allem zur Person Pestalozzis, denn es entwirft ein fachkundig geschriebenes Lebensbild einer interessanten Person der Geschichte und besonders der Pädagogikgeschichte. Der Reiseführer "Auf den Spuren Pestalozzis" führt den Leser zu den erhaltenen Stätten von Pestalozzis Wirken, um ihm damit die Möglichkeit zu geben, sich mit dem von der Pädagogik und dem nationalen Schweizer Diskurs oft ins Mythische überhöhten Pestalozzi anhand der historischen Spuren seines Lebens zu beschäftigen und so auch ein reales Bild des Menschen Pestalozzi zu gewinnen. Dieser Reiseführer, für einen breiten Leserkreis konzipiert, will und kann nur Anregung zur weiteren Beschäftigung mit Pestalozzi sein, denn dessen Werke werden darin kaum interpretiert oder analysiert. Schifferlis Biographie von Anna Pestalozzi-Schultheß ist dagegen der Versuch einer literarisch gestalteten Erzählung des Lebens der Ehefrau Pestalozzis. Diese Erzählung ist zwar kenntnisreich geschrieben, trägt aber zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Johann Heinrich Pestalozzi nur wenig bei und ist in ihrer Thematik zu begrenzt, um als Einführung in dessen Leben und Werk gelesen zu werden.
Der Sammelband "Denk-mal Pestalozzi" vereint in seiner Zielsetzung einer Hinführung zu unterschiedlichen Interpretationspositionen Beiträge so unterschiedlicher Autorinnen und Autoren wie Gonon, Soëtard, Springer, Tröhler, Berchtold, Hameline und Cornaz-Besson/Waridel, die sich nicht zu einer gemeinsamen Interpretationsthese fügen. Im ganzen eine Schrift, die damit als eine partielle Einführung in die aktuelle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pestalozzi beschrieben werden kann. Ähnlich präsentiert sich das Themenheft "Zur Wiederkehr des 250. Geburtstags von Johann Heinrich Pestalozzi. Beiträge zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte". Auch hier geben die Autorinnen und Autoren ein Spiegelbild unterschiedlicher Sichtweisen, das sich ebenfalls zur partiellen Einführung in den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eignet.
Die Tonbildschau auf Video von Dänzer soll vor allem durch ihren Einsatz in Schulen Kinder und Jugendliche ansprechen, kann dies aber mediengerecht kaum vermitteln und hält sich zu sehr an ein heute fragwürdig gewordenes traditionelles Pestalozzi-Bild, das z.T. mit ermüdend langen Pestalozzi-Zitaten vermittelt wird. Anders der Kinofilm von Wyss, der allerdings nicht den historischen Pestalozzi in den Mittelpunkt stellt, und in dem man deshalb über diesen nur sehr wenig erfährt, sondern den weltweit rezipierten Pestalozzi, der als ein Schweizer Exportartikel und als Synonym für besonderen erzieherischen Einsatz auf Feldern von Benachteiligung, Armut und Unterentwicklung steht.
Selbstverständlich eignen sich auch viele der in dieser Arbeit außerhalb dieses Kapitels vorgestellten Veröffentlichungen zur Ein- und Hinführung in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pestalozzi, vor allem die gut kommentierten Werkausgaben oder einzelne Veröffentlichungen zur Pestalozzi-Forschung. Die Texte dieses Kapitels zur Ein- und Hinführung in die Thematik "Pestalozzi" erschließen außer der Biographie von Stadler und dem Text von Kuhlemann nur Texte zu einer ersten Beschäftigung mit Leben und Werk Johann Heinrich Pestalozzis. Eine erste Beschäftigung mit Pestalozzi kann sicher einige pädagogische Grundfragen ansprechen, aber sie kann nicht den Anspruch erheben, zugleich umfassend in die Pestalozzi-Forschung oder gar in eine historisch ausgerichtete Pädagogik und noch weniger in die Diskurse und Themen der heutigen allgemeinen Pädagogik einzuführen. Hier liegen entscheidende Unterschiede zu den zahlreichen historischen Fehleinschätzungen im Umgang mit Leben und Werk Pestalozzis.
Zur Einführung in Leben und Werk Pestalozzis ist der Interessent nach wie vor fast ausschließlich auf das Medium Buch verwiesen. Die durchaus denkbare filmische Umsetzung des Themas im Sinne einer Ein- bzw. Hinführung zur Auseinandersetzung mit Pestalozzis Gedanken und Schriften, gerade auch für Kinder und Jugendliche bzw. für Schüler, steht nach wie vor aus. Und außer der Volltext-Ausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen auf CD-ROM und der sich hier aufbauenden Internet-Dokumentation ist auch die Anfrage zu Pestalozzi in den neuen Informationsmedien noch wenig ergiebig.