Pestalozzi und das Berufsethos der Lehrerschaft. Ein historischer Rückblick zum 250. Geburtstag des Schweizer Pädagogen.
Heidemarie Kühn
In: Die Deutsche Schule 2/1996, S. 135-147.
Heidemarie Kühn unterscheidet zwischen der verehrenden Erinnerung an Pestalozzi und der Rezeptions-Forschung über Pestalozzi. Letztere ist notwendigerweise von einem distanzierten Blick geprägt und geht von der Fragestellung aus, wie Pestalozzi im Laufe des 19. Jahrhunderts fast weltweit zu einer Symbolfigur des professionell-pädagogischen Selbstverständnisses hat werden können. Ausgehend von den Pestalozzi-Jubiläen 1846 und 1896 und der Rolle Diesterwegs bei der Suche der Lehrerschaft nach Berufsethos und beruflicher Wertorientierung will Kühn herausarbeiten, welchen Anteil Pestalozzi selbst und welchen Anteil die Pestalozzianer an der "Legende Pestalozzi" haben. Zum Aufbau der Pestalozzi-Legende bieten sich vor allem zwei biographische Momente im Leben Pestalozzis an: das Scheitern des Versuchs der Armenerziehung auf dem Neuhof (1774-1779) und der erzwungene Abbruch der Waisenerziehung in Stans (1799). Dazwischen liegt Pestalozzis Erfolgsroman "Lienhard und Gertrud", der mit seiner gesellschaftlichen Idealkonstruktion des Dorfes Bonnal, den Weg zu einem menschlicheren Miteinander unterschiedlicher sozialer Schichten durch Arbeit und bessere Bildung der Armen zu weisen schien, und danach liegen Pestalozzis lange Jahre als Leiter von Erziehungsinstituten in Burgdorf und Yverdon und seine Bemühungen um Verbesserung des Schulunterrichts. Der Unterricht nach "pestalozzischen Grundsätzen" verhieß Anfang des 19. Jahrhunderts eine "einfache, klare, leicht zu erlernende und effektive Lehr- und Lernmethode, die sogar für die ärmlichste Dorfschule brauchbar war und eine Hebung der Bildung der untersten Volksschichten in Aussicht stellte" (S. 140). Zwar war die Phase der direkten Methodenrezeption Pestalozzis schon bald zu Ende, aber der "Geist" der Elementarbildung überlebte, und in den sehr aktiven Lehrervereinen treten oft noch missionarisch die ehemaligen preußischen Eleven auf, die verklärt von ihrer Zeit bei Pestalozzi berichten. Bis zur Jubiläumsfeier 1846 war schließlich der Umgang mit Pestalozzi unkritisch geworden und Pestalozzi wandelte sich zur Symbolfigur für die Hebung der Volksschule und des Lehrerstandes. Nach Kühn liegt in Pestalozzis mythischen Verwendung zur Herausbildung eines Professionsbewußtseins dessen größte Wirkung, während seine praktische Bedeutung für Schule und Unterricht und seine theoretische Bedeutung für die Wissenschaftsdisziplin Pädagogik eher gering ist. Aber die Legende vom "Geist" Pestalozzis bleibt lebendig: Reinheit der Gesinnung, Glut der Liebe und das "Dennoch" nach jedem Scheitern.