Pestalozzi: Sein Mißerfolg und seine Wirkung. Gedanken zum 250. Geburtstag.
Fritz Osterwalder
In: Pädagogik 1/1996, S. 40-43.
Ausgehend von Pestalozzis Instrumentalisierung durch Diesterweg in der Mitte des 19. Jahrhunderts geht Osterwalder der Frage nach, wie und warum Pestalozzi trotz aller persönlichen und pädagogischen Mißerfolge bis heute eine derartige Wirkung erzielen konnte. Zuerst verortet der Autor Pestalozzis Konzeptionen in den Frontlinien des 18. Jahrhunderts: Wissen wird nicht mehr ausschließlich als Standesprivileg, sondern als Ergebnis menschlicher Erfahrungen verstanden und die Schule versucht sich aus dem kirchlichen und die Öffentlichkeit aus dem obrigkeitlichen Zugriff lösen. Pestalozzis Geburtsstadt Zürich war mit Pestalozzis Lehrern am Carolinum zugleich ein Zentrum des Sensualismus und der mitteleuropäischen Aufklärung, aber auch des kirchlich-theologischen Pietismus und der Aufklärungstheologie.
Pestalozzi wollte auf alle Herausforderungen seiner Zeit, zu denen die sozialen und politischen Spannungen europaweit und zugespitzt auch in seiner Schweizer bzw. Zürcher Heimat hinzukamen, eine globale Antwort finden: zuerst in "Lienhard und Gertrud", wo die gesellschaftliche Reform durch Wohnstubenerzieung und paternalistische Konzepte, die sich auf das "Nahe", das "Überschaubare" und das "Kontrollierbare" richten, vorankommen soll. Nach 1800 sollte dann die Elementarmethode alle Probleme gleichzeitig lösen: die Kostenfrage öffentlicher Bildung in einem armen Staatswesen, Innerlichkeit und Sittlichkeit beim Individuum fördern und durch die "Trinitätsformel" von Kopf, Herz und Hand die elementaren Kräfte des Menschen zu lebens- und berufspraktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln. Pestalozzis Pädagogik mußte zeitgeschichtlich scheitern und erst die spätere Rezeption verwandelte ihn zum pädagogischen Heiligen in einer weitgehend entsakrilisierten Welt. Heute ist Distanz zu Pestalozzi und seinen Versprechungen schon deswegen gefordert, da sich pädagogische Auseinandersetzung, erzieherisches Handeln und wissenschaftlicher Diskurs nicht auf unhinterfragte Stifterfiguren und ihre Gesinnung rückbeziehen darf.