Biographie und pädagogische Theorie. Psychoanalytische Einblicke in Leben und Denken Pestalozzis.
Volker Kraft
In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 3. Weinheim: Juventa 1996, S. 25-47.
Stärker als in seiner umfangreichen Studie "Pestalozzi oder das pädagogische Selbst. Eine Studie zur Psychoanalyse pädagogischen Denkens " oder in seinem Beitrag "Biographie und pädagogische Theorie. Psychoanalytische Einblicke in Herz, Hand und Kopf Pestalozzis" in dem Dokumentationsband zum Pestalozzi-Symposium 1996 reflektiert Volker Kraft hier die wissenschaftstheoretische Bedeutung seiner Studien zum Zusammenhang von Biographie und pädagogischer Theorie. Er geht von Bernfelds These aus, daß jeder, der über Kindheit und Jugend nachdenkt, immer ein Kind besonders gut kennt, nämlich sich selbst als Kind, wodurch sich zwangsläufig erkenntnisfremde Affekte in die pädagogische Theoriebildung mischen. Die Pädagogik hat sich schon immer stark mit prominenten Figuren des Fachs identifiziert, ein starkes biographisches Interesse in ihren theoretischen Diskursen und an ihren Vertretern entwickelt und pädagogische Sachverhalte sind von diesen oft durch autobiographische Reflexionen expliziert worden. Aber eine umfassende lebensgeschichtliche Fundierung pädagogischen Denkens steht noch aus, die Wechselwirkung zwischen Kindheitserlebnissen, erziehungspraktischem Handeln und pädagogischer Reflexion bzw. Theoriebildung wird in der Pädagogik eher kollektiv verdrängt als aufgedeckt.
Kraft sieht Pestalozzis frühe Kindheit primär durch schwere narzißtische Defekte, sekundär durch einen frühen Objektverlust und tertiär durch eine entgleiste ödipale Identifikation bestimmt. Diese biographische Hypothek bestimmt maßgebend seinen weiteren Lebensweg und erklärt seine lebenslange narzißtische, melancholische und weiblich-mütterliche Identifizierung. Pestalozzi ist danach nicht aus Enttäuschung über seine politische Wirkungslosigkeit oder sein Scheitern auf dem Neuhof zum Erziehungspraktiker und Erziehungstheoretiker geworden, sondern aus dem Zwang seiner lebensgeschichtlichen Konflikte. Mit der Methode und den Institutionen (von Stans bis Yverdon) versuchte Pestalozzi dem Kind, das er war, und dem Vater, der er wurde, zu entkommen. Die verhängnisvolle narzißtische Kollusion in Yverdon nimmt in den Beteiligten ihren Ursprung, denn Pestalozzi sucht in den Mitarbeitern die Söhne und diese in Pestalozzi den Vater. Bei Pestalozzi spaltet sich Idealität und Realität, externalisiert sich in den Personen Niederer und Schmid und der sog. Lehrerstreit wird zu einem externalisierten, narzißtisch-ödipalen Drama der eigenen Person. Auch Pestalozzis pädagogische Theorie ist Reflex der Biographie, wenn für ihn die Beziehung zwischen Mutter und kleinem Kind zum Modell jeder Lehr-Lern-Beziehung wird. Den Kindern der Gertrud - literarisch - und den Kindern, denen er sich erziehungspraktisch in seinen Instituten oder über die Verbreitung seiner Methode zuwendet, soll das Kinderschicksal ihres Erfinders erspart bleiben.
Die psychoanalytischen Rekonstruktionen bei Pestalozzi bringen zwar die Mechanismen zwischen Pädagogen-Biographie und pädagogischer Theorie zum Vorschein, können aber die Theorieprobleme der Pädagogik nicht lösen. Eine psychoanalytische Geschichte der Pädagogik wird auf beklemmende Weise deutlich machen, daß pädagogisches Denken und Handeln sich aus den Erfahrungen als Erzogener speist und damit immer die wissenschaftliche Rationalität der Pädagogik in Frage stellt. Noch erschreckender ist die von Kraft allerdings nicht ausgesprochene Konsequenz, daß eventuell auch umgekehrt von pädagogischen Theorien her auf die Kindheitskonflikte und Defizite ihrer Urheber zurückgeschlossen werden kann.