Pestalozzis "Nachforschungen" I: textimmanente Studien. 18 neuentdeckte Briefe Pestalozzis.
Hrsg: Daniel Tröhler. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1998.232 S.
(Neue Pestalozzi-Studien, Bd. 5)
Nach dem Tod von Fritz-Peter Hager im Oktober 1997 wird die Reihe nunmehr allein von Daniel Tröhler weitergeführt. Im Vorwort (S. 7-8) gibt Tröhler eine Vorschau auf den 5. Band, dessen erster Teil eine Würdigung Hagers, dessen zweiter Teil drei textimmanente Studien zu Pestalozzis Nachforschungen und dessen dritter Teil 18 bisher weitgehend unbekannte Briefe Pestalozzis sowie eine ausführliche Interpretation eines dieser Briefe und eine Buchbesprechung enthält.
Reinhard Fatke gibt einen Rückblick auf Leben und Werk Fritz-Peter Hagers (S. 9-14), des am 16. Oktober 1997 verstorbenen Ordinarius für Historisch-systematische Pädagogik an der Universität Zürich. Fatke stellt als Hagers zentrales pädagogische Forschungsthema die "Geschichte des pädagogischen Platonismus" in den Vordergrund und dessen ausschließlich der Philosophie und pädagogischen Wissenschaft gewidmetes Leben. Ein Verzeichnis der Veröffentlichungen Hagers (S. 15-24) beeindruckt durch den Umfang von dessen wissenschaftlich-literarischem Schaffen: allein zehn Buchpublikationen, zahlreiche Lexikonartikel und Buchrezensionen und über 100 Zeitschriftenaufsätze vor allem zu den Themen der Bedeutung des Platonismus und der griechischen Philosophie für das pädagogische Denken und die pädagogische Anthropologie, zur Aufklärung und Aufklärungspädagogik, zu Grundfragen der pädagogischen Historiographie und zu den pädagogischen "Klassikern" Comenius, Rousseau und Pestalozzi.
In seinem Beitrag "Genese und Argumentationsstruktur von Pestalozzis 'Nachforschungen' " (S. 25-61) wendet sich Daniel Tröhler gegen die letztlich teleologische Interpretation der Nachforschungen bei Spranger, Feilchenfeld und Krause-Vilmar und betont statt dessen in enger textimmanenter Interpretation die argumentative Einheitlichkeit der Nachforschungen, die man nicht in einen neuen und alten und damit in einen progressiven und konservativen Teil spalten könne. Die Nachforschungen müsse man als ein klar aufgebautes und strukturiertes Werk verstehen, das über ein Konzept individueller Sittlichkeit die immanenten Probleme der Gesellschaftlichkeit lösen wollte. Die Nachforschungen sollten zur sittlichen Einsicht der Machtträger beitragen, ihre Macht durch Gesetze zu beschränken, denn nur so könne angesichts der Auswüchse der Französischen Revolution der Kreislauf von Tyrannei, Sklaverei und Aufruhr durchbrochen werden.
Michel Soëtard sieht in seinen Beitrag "Der Naturbegriff der 'Nachforschungen': Vorgeschichte und Nachklang im Werke Pestalozzis" (S. 63-76) den Naturbegriff und Pestalozzis Auseinandersetzung mit dem geradezu aussichtslosen Widerspruch zwischen dem Naturzustand und den Ansprüchen des gesellschaftlichen Zustandes als roten Faden in dessen Gesamtwerk. Nach Soëtard hebt nicht die Sittlichkeit den Widerspruch zwischen Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand auf, sondern diese verweist allein auf die autonome Kraft des Menschen, zu sich selbst zu gelangen. 'Naturgemäßheit' in der Erziehung kann dann nur heißen, dem Menschen Mittel an die Hand zu geben, ihn zu ermutigen und ihn aufzufordern, sich zu einem Werk seiner selbst zu machen.
In der letzten vor seinem Tod fertiggestellten Veröffentlichung "Zum Begriff der Sittlichkeit und der Religion in Pestalozzis 'Nachforschungen' " (S. 77-152) geht Fritz-Peter Hager in einer geistesgeschichtlich weitgespannten Rahmen auf die Begriffe von Sittlichkeit und Religion ein, wobei er vor allem die Grundzüge und Widerspräche der platonisch-christlichen Tradition und der dualistischen Aufklärungsphilosophie herausarbeitet. Die Nachforschungen sieht Hager als Pestalozzis anthropologisches Hauptwerk, in dem Pestalozzi nach langen Jahren des Ringens zu einer umfassenden Klärung seiner wichtigsten anthropologischen Überzeugungen über die Lage des Menschen und dessen Verhältnis zu Gott gefunden habe. Insbesondere habe Pestalozzi in den Nachforschungen die Freiheit der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen gegenüber seiner gesellschaftlich-soziologischen bzw. biologisch-psychologischen Determiniertheit herausgearbeitet. Angesichts der auch nach dem imponierenden Gesamtkonzept der Nachforschungen noch ungelösten Probleme und offenen Fragen kommt Hager zu dem abschließenden Urteil, daß Pestalozzi seine Bedeutung nicht nur durch die gefundenen Lösungen und Antworten erlangt habe, sondern ebenso auch durch die von ihm gestellten Fragen und die von ihm bewußt gemachten Probleme.
In den Neuen Pestalozzi-Studien sollen solange jeweils die neu entdeckten Briefe Pestalozzis veröffentlicht werden, bis sich genügend Briefe bzw. Schriften gefunden haben, damit ein weiterer Nachtragsband der Kritischen Gesamtausgabe zusammengestellt werden kann. Achtzehn neuentdeckte Briefe Pestalozzis aus den Jahren 1784-1825 werden anschließend in einer textkritischen Edition zusammen mit Sacherklärungen von Daniel Tröhler wiedergegeben (S. 153-204). Zwar fällt es schwer, die wenigen über einen so langen Zeitraum geschriebenen Briefe im Gesamtbestand von Pestalozzis umfangreicher Korrespondenz interpretierend einzuordnen, aber die Briefe an Jeremias Lorsa aus den Jahren 1784 bis 1792 zeigen Pestalozzis starkes Interesse an der Tätigkeit von Privaterziehern in Patrizierhäusern und sein enges Verhältnis zum Hause der Franziska Romana von Hallwil in diesen Jahren. Der Brief an Heinrich Jacobi vom 22. April 1794 wird von Martin Brecht zum Anlaß genommen, über "Pestalozzis Christentum oder 'Nicht-Christentum' im Lichte einer neuen Quelle" (S:. 205-217) sich noch einmal intensiv mit Pestalozzis häufig zitiertem und interpretiertem Brief an Nicolovius vom 1. Okt. 1793 auseinanderzusetzen.
In ihrer Besprechung des Buchs von Volker Kraft: "Pestalozzi oder das Pädagogische Selbst. Eine Studie zur Pychoanalyse pädagogischen Denkens" (S. 220-229) sieht Petra Korte sowohl ein souveränes Pestalozzi-Buch als auch eine Anregung zur Selbstreflexion des pädagogisch interessierten Lesers. In der biographischen Widersprüchlichkeit der Pestalozzi-Gestalt scheine zugleich prototypisch die Widersprüchlichkeit des modernen Pädagogen durch.