Vom Nutzen der biographischen Vorgehensweise bei der historischen Rekonstruktion in der Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi im Hinblick auf eine so zentrale Figur wie Johann Heinrich Pestalozzi
Werner Keil
Regensburg: Roderer 1996. 18 S. (Theorie und Forschung, Bd. 392. Pädagogik, Bd. 29) und erneut in: Pädagogische Rundschau 6/1996, S. 719-733.
In diesem Text, seinem überarbeiteten Habilitationsvortrag vom 22. Dezember 1994, setzt sich Werner Keil mit dem Nutzen der biographischen Vorgehensweise bei der Rekonstruktion der praktischen Erziehungsleistung des realen Vaters Pestalozzi auseinander und stellt allgemein die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Verwertbarkeit von Elternaussagen über ihre Erziehungsleistungen an Kindern aber auch von Kinderaussagen über ihre Väter und Mütter. Während Keils Habilitationsschrift zuverlässig Auskunft über das tragische Mißlingen der Erziehungsleistungen der Eltern des Hans Jacob gibt (vgl. "Wie Johann Heinrich seine Kinder lehrt...". Lebensgeschichte und Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi. Pestalozzis einziger Sohn zwischen Erziehungsanspruch und Erziehungswirklichkeit. Regensburg: Roderer 1995. 300 S. und den zugehörigen Dokumentarband zu "Lebensgeschichte und Erziehung des Hans Jacob Pestalozzi". Regensburg: Roderer 1995, 146 S.) geht Keil hier die Frage, ob dieses Mißlingen bei Pestalozzi nur ein Theorie-Praxis-Transferproblem ist, oder ob es auch Aussagen über die Qualität der theoretischen Aussagen zuläßt, sehr zurückhaltend an. Die letzte Antwort läßt Keil offen, regt allerdings an, auch andere pädagogische Klassiker auf ihre familiären Erziehungsleistungen hin zu untersuchen. Mißlungene familiäre Erziehungsverhältnisse sind besonders in Familien mit berühmten und dominierenden Elternteilen häufig belegt, werden im allgemeinen Verständnis besonders Pädagogenfamilien nachgesagt und haben auch in der Literatur deutlichen Spuren hinterlassen. Vgl. hierzu die zu Keils Thematik nicht ganz deckungsgleiche aber in vielen Punkten sehr erhellende Darstellung von Peter von Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur (München, Wien: Hanser 1995. 392 S.), die Keil leider nicht für seine Darstellung auswertet.
Bei historischen Personen ist eine solche biographische Rekonstruktion bei guter Quellenlage durchaus möglich und in vielen Fällen auch nützlich, aber in der letzten Konsequenz wird es gefährlich: jeder Pädagoge müßte seine theoretischen Aussagen auch jeweils an seinen eigenen Erziehungsleistungen messen lassen und müßte dazu zwangsläufig seinen familiären Intimbereich öffentlich machen. Und wie soll man in der Geschichte die pädagogischen Aussagen derjenigen Pädagogen beurteilen, von denen keine Zeugnisse über ihre eigenen Kinder überliefert sind oder in der Gegenwart derjenigen Pädagogen, die keine Erziehungsleistungen an eigenen Kindern erbringen? Keil stellt diese Fragen nicht, denn es kann keine schlüssige Antwort auf die Frage geben, welche Bedeutung unser heutiges Wissen über die mißlungene Erziehung seines eigenen Sohns für die Einschätzung von Pestalozzis theoretischen pädagogischen Aussagen hat. Hinzu kommt zweierlei: zum einen war Pestalozzi ein sehr junger, vielleicht zu junger Vater des kleinen Hans Jacob, aus seiner eigenen Kindheit äußerst narzißtisch veranlagt und sehr unsicher in allen praktischen Handlungen und Entscheidungen und zum andern muß es fraglich bleiben, ob die Folgen des erwiesenen elterlichen Fehlverhaltens zwangsläufig für Hans Jacob waren. Ein körperlich gesünderes Kind hätte wohl trotz dieser Eltern, trotz dieses Vaters zu seiner eigenen Identität finden können. Pestalozzi kannte noch nicht den Begriff eines Dysfunktions- oder Borderline-Syndroms und mußte zwangsläufig den offenkundigen Epilepsie-Schüben seines Sohns hilf- und ratlos gegenüberstehen.
In einem weiteren Beitrag "Pestalozzis Erziehungs- und Unterrichtsbeobachtungsjournal aus dem Jahre 1783. - Eine erweiterte Rekonstruktion" (In: Pädagogische Bezugspunkte: exemplarische Anregungen. Festschrift für Hans Scheuerl. Regensburg: Roderer, 2. Aufl. 1995, S. 79-97) entwirft Keil im übrigen ein viel positiveres Bild des realen Vaters Pestalozzi, der mit Peter Petersen, dem Hauslehrer seines Basler Freundes Battier, der auch Pestalozzis Sohn in die Familie aufgenommen hatte, sehr angeregt über Erziehungsfragen im Zusammenhang mit den Kindern Gertrud und Felix Battier korrespondiert. Dabei entwickelt Pestalozzi Erziehungs- und Beobachtungsbögen, für Keil "ein vorzüglicher Beleg für das früh ansetzende empirisch-analytische Denken Pestalozzis ... als auch darüber hinaus ein überaus beachtenswertes Zeugnis seines persönlichen erzieherischen und lebensbewältigenden Engagements" (S. 90). Tatsächlich belegen diese Bögen die frühen praktischen pädagogischen Interessen Pestalozzis, aber auch die belehrende Art eines Mannes, der mit Kontrolle und Überwachung an die Machbarkeit einer Erziehung glaubt, die schon im Voraus um ihr Ziel weiß.