Herbart über Pestalozzis "ABC der Anschauung"
Renate Hinz
Oldenburg: Zentrum für pädagogische Berufspraxis 1994. 25 S. (Oldenburger Vor-Drucke, Heft 244)
Renate Hinz belegt, daß sich Johann Friedrich Herbart (1776-1841) vor allem während seiner Bremer Zeit 1800-1802, also in den Jahren nach seiner Hauslehrertätigkeit in Bern und einem Besuch bei Pestalozzi in Burgdorf, intensiv mit Pestalozzis Pädagogik auseinandersetzte und besonders mit dessen Schrift "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt". Herbart kommt in dieser Zeit zu einer insgesamt positiven Einschätzung der Pestalozzischen Methode, sieht auch deren sozialpolitischen Aspekte, hält aber den Titel "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" für verfehlt, da sich diese Schrift an die Bildungspolitik statt an die Mütter wenden sollte. Anstelle des Quadrats hätte Pestalozzi nach Herbart allerdings besser das Dreieck als Urform der Anschauung gewählt.
Hinz bearbeitet ihr Thema anhand zeitgenössischer Rezensionen vor allem von Pestalozzis Schrift "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" von 1801 und Herbarts Schrift "Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung als ein Cyklus von Vorübungen im Auffassen der Gestalten wissenschaftlich ausgeführt" von 1804. 1803 wendet sich Herbart überdies mit neun Fragen zur praktischen Umsetzung der Methode an Pestalozzi, die dieser auch einzeln beantwortet (Antwort auf neun Fragen Herbarts über die Methode. Um Mitte 1803. In: PSW 15, S. 425-431).
Zunehmend aber entfernt sich Herbart von Pestalozzi, früh schon sichtbar in divergierenden bildungspolitischen Vorstellungen einer allgemeinen Volksbildung versus einer intellektuellen Verstandesbildung und in unterschiedlichen philosophischen Grundpositionen des Entstehens von Erfahrungen und Vorstellungen. Mit Herbarts "Allgemeiner Pädagogik zu dem Zweck der Erziehung abgeleitet" von 1806 werden die Unterschiede manifest: Vorstellungen entstehen nicht aus lebenspraktischer Erfahrung, sondern werden theoretisch gebildet. Kognitives Wissen und nicht Erfahrung bestimmt damit entscheidend die Handlungen und den Charakter des Menschen.
Die Differenzen zwischen Pestalozzi und Herbart spiegeln für Hinz die grundsätzliche Dichotomie des Bildungsanspruchs im frühen 19. Jahrhundert, Volksbildungsidee auf der einen und Identitätsfindung eines sich über Bildung definierenden Bürgertums auf der anderen Seite. Die Entwicklung in Bremen zeigt exemplarisch diese Dichotomie: Innovationen der staatlichen Schulreform auf der einen und zahlreiche private Bildungsinitiativen auf der anderen Seite. Beides verschränkt sich allerdings im Laufe der Entwicklung und so leistet nach Hinz auch Herbart mit seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen einen originären Beitrag zur Wirkung und zum Einfluß Pestalozzis, auch und gerade durch seine abweichenden Positionen.