Hanno Schmitt, Rebekka Horlacher u. Daniel Tröhler:

Pädagogische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext: Rochow und Pestalozzi im Vergleich.

Bern, Stuttgart: Haupt 2007, 234 S. (Neue Pestalozzi-Studien, Bd. 10).

In einer vergleichenden Untersuchung verbindet dieser Sammelband zwei zentrale Exponenten der Pädagogik im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert: Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) und Friedrich Eberhard von Rochow (1734- 1805). Beide verbanden Erziehung mit gesellschaftlichen Fortschritts- und Gerechtigkeitsvorstellungen, kümmerten sich weniger um Elitenbildung als um die Bildungsprobleme der niederen Volksschichten und ihre Veröffentlichungen fanden weite Verbreitung im deutschen Sprachraum. Pestalozzi wirkte zeitlebens in der Schweiz und Rochow entwickelte seine Projekte auf seinen Rittergütern um Reckahn in der Mark Brandenburg.

Unter dem Titel „Volksschule – internationaler Diskurs und nationale Kontexte vor Rochow und Pestalozzi“ (S. 10-31) geht Fritz Osterwalder von der französischen Diskussion nach dem Edikt von 1763 aus, das den Jesuiten das Führen von höheren Schulen untersagte. Die nachfolgenden Auseinandersetzungen um die Volksbildung „l‘´éducation du peuple“ drehte sich um die Frage, ob diese Volksbildung eine rein berufsständische Bildung sein sollte oder eine allgemeine Grundbildung für die Bürgerrechte und die Einheit der Nation. Ausgehend von Frankreich wurden diese Ideen unter physiokratischem Einfluss international rezipiert, die Osterwalder an den theresianischen und josephinischen Reformen in Österreich und an den englischen Entwicklungen der Volksbildung aufzeigt. Reinhart Siegert geht in seinem Beitrag „Der Volksbegriff in der deutschen Spätaufklärung“ (S. 32-56) den unterschiedlichen Bedeutungsschattierungen des Wortes „Volk“ und seiner Komposita nach, in der Spätaufklärung verstand man unter Volk allgemein den weniger gebildeten Teil der Bevölkerung, also fast die gesamte Landbevölkerung und fast alle Frauen. Neben dieses „Volk“ trat Ende des 18. Jahrhunderts eine zunehmend grössere Armutsschicht (Pauperismus), ein immer grösser werdendes städtisches und ländliches Proletariat. Während Rochow noch einen recht klaren Volksbegriff hat, gebraucht Pestalozzi unreflektiert verschiedene Volksbegriffe nebeneinander, ihn ehre aber, dass er auch die ganz unten, die Armen, mit einschliesst (S. 46).

In seinem Beitrag „Pädagogische Volksaufklärung, Ernst und Propaganda: Rochow, Iselin, Pestalozzi“ (S 58-75) macht Daniel Tröhler deren Unterschiede deutlich. Während Pestalozzi demokratische und aristokratische Elemente vereinen will, wobei er unter aristokratisch keine erbliche Aristokratie meinte, sondern eine meritokratische Aristokratie, also eine Regierung der „Besten“ (Beispiel: Der Landvogt Arner in „Lienhard und Gertrud“). Anders Rochow, dem es in seinem „Kinderfreund“ in lutherischer Tradition um Gehorsam gegenüber der Obrigkeit geht. Iselin positioniert sich näher bei Pestalozzi, aber er setzt eher auf die Kraft der Gesetze und weniger auf Tugend, Sittlichkeit oder väterliche Liebe der Herrschenden. Petra Korte zeigt in ihrem Beitrag „Die Mutter bei Rochow und Pestalozzi“ (S. 76-91), dass bei Rochow Mütter immer Teil seines Eltern- und Familienbildes sind, ihm geht es in der Regel um Elternschaft, anders bei Pestalozzi, für ihn ist die Mutter geradezu eine mythische Figur und Gertrud die idealisierte Protagonistin dieses Mutterbildes. Holger Böning beschreibt in seinem Beitrag „Der politische Pestalozzi und das „Volk“ in der Spätaufklärung“ (S. 92-111) zuerst die Missstände im schweizerischen Absolutismus mit den krassen Unterschieden zwischen Stadt und Land, dem städtischen Bildungsprivileg und der rigiden Zensur. Pestalozzi stand früh der Volksaufklärung nahe, das „Volk“ in „Lienhard und Gertrud“ sind weniger die Bauern, sondern die unterbäuerlichen Schichten. „Lienhard und Getrud“ ist weniger ein Volksbuch, es wird eher den Regierenden und Gebildeten als Spiegel vorgehalten. Mit der Französischen Revolution, den Unruhen in den Gemeinden am Zürichsee 1794/95 und der nachfolgenden Helvetischen Revolution verlässt Pestalozzi seine Position des aufgeklärten Absolutismus, das wird deutlich an den Auseinandersetzungen um den Zehnten und die Bodenzinsen.

Rebekka Horlacher stellt in ihrem Beitrag „Volksbildung als Berufsbildung bei Pestalozzi“ (S. 112-124) Volksbildung und Berufsbildung als die zwei unterschiedlichen Konzepte im ausgehenden 18. Jahrhundert gegeneinander. Geht es um moralische Erziehung oder um die Vorbereitung auf Agrarreformen und die Teilhabe an der aufkommenden Protoindustrie? Ausgehend von den „ökonomischen“ Gesellschaften, die das Ziel landwirtschaftlicher Reformen hatten (Steigerung der Agrarproduktion), erschienen zahlreiche volksbildnerische Schriften, auch „Lienhard und Gertrud“ gehört in diesen Zusammenhang. Im 4. Teil überführt Pestalozzi das väterlich-patriarchalische Konzept in ein legalistisches Konzept. Nicht die sündige Natur des Menschen erzeugt das Unglück, sondern die falsche Organisation der Gesellschaft, deren Ziel es sein muss, dass der Mensch sein Leben in Anstand und Würde führen kann. Philipp Gonon führt in seinem Beitrag „Volksaufklärung als gouvernementale Pädagogik bei Pestalozzi“ (S.  125-139) unter Verweis auf Michel Foucault aus, dass Pestalozzi einer ständisch orientierten Gesellschaftsordnung verhaftet blieb, aber die politischen Machtträger ihre Macht nicht für Ihre persönlichen Vorteile einsetzen dürften, sondern nur zum Wohl des Ganzen, wobei immer die Gefahr einer Entwicklung zur Despotie lauere. Bei Pestalozzi verbinde sich christliches Pastoral mit physiokratischer Politökonomie.

Unter dem Abschnitt „Rezeptionen“ bearbeitet Hanno Schmitt in seinem Beitrag „Der pädagogische Diskurs um Pestalozzi und Rochow in Preussen (1797-1806)“ (S. 142-156) den Diskurs um Pestalozzi und Rochow, einmal die Reformpraxis der seit 1773 bestehenden Reckahner Musterschule und einmal Pestalozzis Elementarmethode mit ihrem Versprechen einer Anleitung zur Erziehung des kindlichen Individuums. Joachim Scholz geht in seinem Beitrag „Die Bedeutung Pestalozzis und Rochows bei der Reform des Brandenburgischen Elementarschulwesens (1806-1816)“ (S. 157-173) auf einen Zeitraum nach Rochows Tod ein. An der Reform des Elementarschulwesens wird gezeigt wie stark diese mit der Person von Bernhard Christoph Ludwig Natorp (1774-1846) verbunden ist. Über Schullehrerkonferenzgesellschaften unter Leitung von Geistlichen sollte eine lokale Form der Lehrerbildung gewährleistet werden. Rochow und Pestalozzi werden hier gleichberechtigt diskutiert. Mit Rochow werden Denkübungen und die katechesierende bzw. sokratische Methode assoziiert, mit Pestalozzi die mütterliche Primärsozialisation orientiert am Wohnstubenmodell, womit beide gleichermassen zur Universalisierung der modernen Schule beigetragen haben. Jürgen Overhoff zeigt in seinem Beitrag „Rochow und Pestalozzi in der Rezeption von Diesterweg“ (S. 174-189) die Diesterwegsche Rezeption, nach der beide nacheinander und auf unterschiedliche Weise mit grossem Erfolg gewirkt hätten. Die freiheitliche Forderung der philanthropischen Pädagogik, einer überkonfessionellen Erziehung zu religiöser Toleranz habe Pestalozzi übernommen, aber andere philanthropische Erziehungsprinzipien überwunden. Die Gemüts- bzw. Herzensbildung geht nicht über Reden und Erklärung, sondern über die Lebenspraxis, über das „Vor“-leben und über häusliche Erziehung. Es war Diesterwegs Forderung nach Veränderung des dogmatisch ausgerichteten preussischen Religionsunterrichts hin zu einem kindgemässen vernunftbetonten toleranten Religionsunterricht, der Diesterweg in heftige Auseinandersetzungen mit den preussischen Schulbehörden führte und schliesslich 1847 zu seiner Entlassung als Direktor des Berliner Seminars für Stadtschulen. Erst 1872, sechs Jahre nach seinem Tod, wurde in Preussen die geistliche Schulaufsicht aufgehoben. Béla Pukánszky beschreibt „Die Rezeption der pädagogischen Ideen von Pestalozzi im Ungarn des 19. Jahrhunderts“ (S. 190-197) und András Németh „Die Philanthropismus- und Rochowrezeption in Ungarn“ (S. 198-216). Im ersten Beitrag wird deutlich, dass der Einfluss Pestalozzis von Besuchern in Yverdon ausging und von Hauslehrern der ungarischen Aristokratie. Der Beitrag von Németh geht auf die Wirkungen des Philanthropismus in Ungarn ein, vor allem im aufgeklärten Absolutismus der Maria Theresia und Joseph II. sollten die Volksschulen von Stätten religiös-sittlicher Unterweisung zu Stätten der Erziehung nützlicher Staatsbürger umgeformt werden. Ausführlich geht Németh dabei auf die Arbeit des evangelischen Pfarrers Sámuel Tessedik (1742-1820) ein, der in Szavas ein grosses und einflussreiches Institut gründete mit Werkstätten und landwirtschaftlichen Übungsgärten.

Marc Depaepe gibt in „Die Reckahner Pastorale als postmoderne Fabel - Betrachtungen zur Rolle „grosser Denker“ in der pädagogischen Historiografie“ (S. 218-231) keine Gesamtschau der dem Sammelband zugrunde liegenden Tagung, sondern geht sehr allgemein auf die Wahrnehmung grosser Gestalten der Pädagogik ein, die als grosse Denker wahrgenommen werden. Der Inklusionsbegriff von Pestalozzi und Rochow ist die Spätaufklärung, wenngleich die Mark Brandenburg nicht mit dem Kanton Aargau gleichgesetzt werden kann und auch der Begriff „Spätaufklärung“ erst im Nachhinein von der historischen Forschung geschaffen worden ist. Es gibt nicht den archimedischen Punkt, von dem aus die Geschichte durchschaut, gedeutet oder gar bewegt werden kann. So bleibe auch die „Bestandsaufnahme“ der vergleichenden Pestalozzi- und Rochow-Forschung letztlich unvollendet.

 

Erstmals werden in diesem Sammelband, dem Ergebnis einer internationalen Tagung im ehemaligen Wohnsitz Rochows im Herrenhaus Reckahn, dem heutigen Rochow-Museum, Rochow und Pestalozzi vergleichend vorgestellt. Beide sind noch stark dem aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts verbunden. Der ältere Rochow, geb. 1734, gilt als einer der Exponenten des Philantropismus, der jüngere Pestalozzi, geb. 1746, als Überwinder der engen Bindung an das ständisch geprägte Gesellschaftsverständnis des 18. Jahrhunderts. Die Beiträge dieses Sammelbandes sind jeweils in sich abgeschlossene und voneinander unabhängige Einzelbeiträge, die eng an zitatengestützten Denklinien argumentieren. Vor allem stützen sie sich auf Pestalozzis „Lienhard und Gertrud“ von 1781 und Rochows Kinderfreund von 1776. Aber diese beiden Werke kommen nicht als Ganzes in den Blick und auch nicht das gesamte und sehr umfangreiche literarische Werk der beiden Autoren Pestalozzi und Rochow. Von diesen nicht unwesentlichen Einschränkungen abgesehen, bietet dieser Sammelband einige interessante Einblicke in die pädagogische Volksaufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert.  

(Gerhard Kuhlemann)