Johann Heinrich Pestalozzi: Ausgewählte Werke - Studienausgabe
(Hrsg.: Rebekka Horlacher, Jürgen Oelkers, Daniel Tröhler)
8 Bde. Verl. Pestalozzianum an der Pädagogischen Hochschule Zürich 2004-2009.
Band 1: Sozialpädagogische Schriften I: Die Neuhof-Schriften 1775-1779.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Daniel Tröhler. Zürich 2004, 132 S.
Band 2: Abendstunde eines Einsiedlers / Stanser Brief.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Daniel Tröhler. Zürich 2006, 120 S.
Band 3: Ueber Gesezgebung und Kindermord.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Iris Ritzmann und Daniel Tröhler. Zürich 2009, 192 S.
Band 4: Schriften zur Französischen Revolution.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Daniel Tröhler. Zürich 2006, 244 S.
Band 5: Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Daniel Tröhler und Jürgen Oelkers. Zürich 2004, 180 S.
Band 6: Schriften zur „Methode“.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Fritz Osterwalder. Zürich 2008, 280 S.
Band 7: Schriften zur Mütterlichkeit und Erziehung.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Petra Korte. Zürich 2006, 138 S.
Band 8: Sozialpädagogische Schriften II: Arbeit und Industrie nach 1800.
Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Philipp Gonon. Zürich 2005, 172 S.
Von Pestalozzis Werken sind eine Vielzahl von Einzelausgaben, Sammelausgaben oder gekürzten Ausgaben erschienen, die nicht im Einzelnen dokumentiert werden. Diesen Ausgaben ist gemeinsam, dass sie meist mit einer knappen Einführung versehen und sowohl in Zeichensetzung als auch in Orthografie dem heutigen Sprachgebrauch angepasst sind, um dem Leser besser verständlich zu sein. Die vorliegende 8bändige Ausgabe ausgewählter Werke Pestalozzis macht eine Ausnahme, die eine gesonderte Besprechung rechtfertigt. Das Besondere dieser Edition ist, dass die Texte Pestalozzis in der Originalfassung der 31bändigen Wissenschaftlichen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken (PSW I-XXIX) wiedergegeben werden und zudem den einzelnen Bänden eine ausführliche Einleitung des jeweiligen Herausgebers beigefügt ist.
In Band 1 sind Aufsätze Pestalozzis zu seiner Armenanstalt auf dem Neuhof aus den Jahren 1775-1778, die Tscharnerbriefe von 1777 und die Schrift „Von der Freyheit meiner Vaterstatt!“ von 1779 zusammengestellt. In der Einleitung „Pestalozzis Sozialpädagogik, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Kontext der patriotischen Reformdiskussionen (1775-1779)“ (S. 7-38) zeigt Tröhler, dass es in den ökonomisch-patriotischen Gesellschaften in den Stadtstaaten Bern und Zürich hauptsächlich um agrarische Innovationen durch verbesserte Anbaumethoden ging und den daraus folgenden sozialpädagogische Forderungen. Während Pestalozzi in den 60er Jahren zu den radikalen Patrioten Zürichs gehörte, sah er nach seinen Erfahrungen als Leiter eines landwirtschaftlichen Gutes und einer Armenanstalt in den Möglichkeiten der Protoindustrie eine Lösung für die Subsistenzfrage der Armen, vor allem die ersten drei Tscharnerbriefe zeigen den Kern von Pestalozzis früher Sozialpädagogik. Pestalozzi sieht in der Protoindustrie das beste Mittel, die Tugendrepublik der alten Eidgenossenschaft wieder auferstehen zu lassen, denn nur wenn seine Subsistenz gesichert ist, kann der Bürger zu öffentlicher Tugend gelangen. In der Schrift „Von der Freyheit meiner Vaterstatt!“ wird deutlich, dass erst wirtschaftliche Freiheit und Liberalisierung die Stellung der Landbevölkerung sichern kann gegen die Bereicherung durch die privilegierte Stadtbevölkerung.
In Band 2 werden die „Die Abendstunde eines Einsiedlers“ (1780) und der „Stanser Brief“ (1799) wiedergegeben. In der Einleitung „Pestalozzis pädagogische „Klassiker“ und die deutschsprachige Pädagogik“ (S. 7-31) gibt Tröhler zuerst einen Überblick über die wechselvolle Editions- und Rezeptionsgeschichte dieser beiden Werke. Dominierte im 19. Jahrhundert in der Rezeption noch die „Abendstunde“, so wird dies unter dem Einfluss der geisteswissenschaftlichen Pädagogik der „Stanser Brief“. Wichtig ist zudem die Rezeption der unterschiedlichen Fassungen dieser beiden Schriften, wobei die frühe Überarbeitung durch Isaak Iselin schon vor ihrer ersten Veröffentlichung 1780 in den „Ephemeriden der Menschheit“ diese Schrift weitgehend entpolitisiert und stärker christlich-anthropologisch ausrichtet. Die von Johannes Niederer überarbeitete Fassung von 1807, veröffentlicht in der „Wochenschrift für Menschenbildung“, fügt der Schrift starke pädagogische Elemente hinzu. In der ersten Fassung dominiert der Gedanke, dass der Kommerz die Menschen korrumpiert, da er auf Gewinn und Luxus statt auf das Allgemeinwohl des Vaterlandes ziele. Der „Stanser Brief“ wurde nach 1945 zum „Klassiker des Klassikers“ (S. 18), Tröhler bezieht sich ausdrücklich auf Klafkis Interpretation mit ihren zahlreichen Neuauflagen. Für Tröhler werden der zeitgeschichtliche Kontext, die Helvetik und die Helvetische Revolution von 1798, in allen textimmanenten Interpretationen vollständig übergangen. Indem die Aussagen des „Stanser Briefs“ kanonisiert werden, verkommen sie zu einer reinen Selbstdarstellung des jeweiligen Interpreten.
In Band 3 wird die Schrift „Ueber Gesezgebung und Kindermord“ von 1783 wiedergegeben mit einer Einleitung von Iris Ritzmann und Daniel Tröhler: „Der Kindsmord zwischen Verbrechen und Tragödie - Pestalozzis Preisschrift von 1783“ (S. 7-31). Ausgangspunkt sind die zeitgenössischen Diskurse über eine gerechte Staatsform und das Verhältnis von Bürger und Staat. Wann darf der Staat in die Belange der Menschen eingreifen, was ist strafrechtlich relevant und gleichzeitig die Diskussion um das Für und Wider der Todesstrafe. Auf Kindsmord steht in der Regel die Todesstrafe, wobei die Zahl der Fälle oder zumindest deren Wahrnehmung im Laufe des 18. Jahrhunderts deutlich zunimmt. Die Diskussion verläuft emotional, die Tötung eines hilflosen Kindes löst bis heute heftige Reaktionen aus. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem Perspektivwechsel, aus der unnatürlichen Kindsmörderin wird das Opfer männlicher Aggressionen und man sucht nach Ursachen des Verbrechens. Hinzu kommt der Bedeutungswandel der Medizin, Ärzte werden zu Experten im Rechtswesen mit Fragen wie: War das Kind bei Geburt lebendig oder tot oder war die Mutter unzurechnungsfähig? Zusätzlich fordern sie Gebärhäuser für schwangere Frauen. Für Pestalozzi sind die Kindsmörderinnen nicht Täterinnen, sondern Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse und er benennt Ursachen, dass unverheiratete Frauen schwanger würden. Indem Pestalozzi die Trennung von Politik und Moral fordert, soll der Staat den Schwangeren helfen, wobei sich bei Pestalozzi eine paternalistische Staatsvorstellung zeigt, der Staat soll ganz allgemein die Ausbildung und die Veredelung der guten Anlagen fördern.
In Band 4 werden mehrere Schriften zur Französischen Revolution wiedergegeben, darunter „Ja oder Nein?“ (1793) und die „Schriften zur Stäfner Volksbewegung“ (1795). In seiner Einleitung „Pestalozzi und die Französische Revolution in der Schweizer Rezeption“ (S. 7-26) schildert Tröhler zuerst den Einfluss der Ereignisse in Frankreich ab 1789 auf die Schweiz und zieht dafür die Reden von Johann Georg Escher (1791) und Albrecht Rengger (1793) vor der Helvetischen Gesellschaft heran. Der eher konservative Escher wendet sich gegen den mit der Gleichheit aller verbundenen liberalen Freiheitsbegriff, in den Schweizer Republiken sei die Freiheit gebunden an wirtschaftliche Selbständigkeit, ausreichenden Besitz und genügsamen Lebensstil. Nach Rengger sollen die Ereignisse in Frankreich vor allem Reformen auslösen, aber seine Ansichten verhallen weitgehend ungehört angesichts des jakobinischen Terrors und der Ermordung von Ludwig XVI. im Januar 1793. In der Minderheit bleiben die Befürworter der Revolution und ihrer liberalen Prinzipien, wofür Franz Meyer von Schauensee angeführt wird. Pestalozzi gerät vor allem nach der Verleihung des Ehrenbürgerrechts durch die Französische Nationalversammlung 1792 in die Auseinandersetzung, er wird der revolutionären Agitation bezichtigt. In „Ja oder Nein?“ macht Pestalozzi seine Position deutlich, das Ja bezieht sich auf seine Hoffnung einer Entwicklung zum klassischen Republikanismus, das Nein auf seine Enttäuschung über die Entartung der Republik. Er will keine Republik, die mordet, sondern eine Republik, die schützt. Ähnlich wird Pestalozzis Haltung zu den Stäfner Unruhen gedeutet. Die Französische Revolution ist für die Landschaft nur der Auslöser, die Ursache ist der Wunsch nach Wiederherstellung der alten Rechte, das Streben nach Gerechtigkeit. Pestalozzi ist kein moderner Demokrat, aber er fordert bürgerliche Freiheit und ein Gleichgewicht der Rechte, um dem Missbrauch durch die Obrigkeit vorzubeugen.
In Band 5 wird die Schrift „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts“ vorgelegt, die Einleitung „Pestalozzis Nachforschungen (1797) im Kontext der schweizerischen Diskussionen über die Französische Revolution“ (S. 7-32) ist von Daniel Tröhler und Jürgen Oelkers abgefasst . Die Einleitung beginnt mit einer Darstellung der Auseinandersetzungen in der Schweiz angesichts der Ereignisse im Frankreich der 90er Jahre, es geht um die Französische Revolution als Provokation für die Alte Eidgenossenschaft und die unterschiedlichen Ausprägungen in den einzelnen Kantonen. Diese Darstellung ist über weite Strecken mit der Tröhlerschen Einleitung in Band 4 „Schriften zur Französischen Revolution“ identisch. In den Jahren 1793-1795 gibt es nur noch wenige Anhänger bzw. Sympathisanten der Französischen Revolution wie Franz Bernhard Meyer von Schauensee, der anführt, dass hinter den Greueltaten in Frankreich nicht zugleich die dahinterstehende Idee verdammt werden dürfe. Pestalozzi beschäftigt die Frage, wie politische Machthaber ihre Macht nicht für ihre persönliche Bereicherung einsetzen, sondern zum Wohle des Ganzen, besonders für die Benachteiligten. Anfangs begrüsst Pestalozzi die Revolution, aber der Terror ab Anfang 1793 führt nach seiner Ernüchterung über den aufgeklärten Absolutismus auch zu einer desillusionierten Wahrnehmung der Revolution in Frankreich. Die Nachforschungen stellen nun den Versuch dar, „fundamentale politische, philosophische und religiöse Probleme untereinander zu harmonisieren“ (S. 23). Ohne näher auf den Inhalt der Schrift einzugehen, schliesst die Einleitung mit einem Überblick über die Rezeption der Nachforschungen.
Mit Band 6 „Schriften zur ‚Methode‘“ und der Einleitung von Fritz Osterwalder: „Die Methode Pestalozzis – Wahrnehmung, Ordnung und Erlösung“ (S.7-42) liegt zugleich der umfangreichste Band dieser Reihe vor. Abgedruckt sind drei Schriften Pestalozzis zur Methode von 1800, 1802 und 1805 und die Schrift „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ aus dem Jahr 1805. Vor 1800 gründet Pestalozzis Ruhm auf seinem Roman „Lienhard und Gertrud“ und den pädagogisch-ökonomischen Versuchen auf dem Neuhof. Nach 1800 begründet die „Methode“ Pestalozzis europaweite Bekanntheit, sie soll nicht nur für das Grundlagenwissen aller Schulfächer anwendbar sein, sondern Erziehung umfassend neu gestalten. Für Osterwalder ist die Methode die Ausrichtung der Problemstellung der Pädagogik auf eine regelhafte und regelmässige Vorgehensweise mit technologischen Wirkungsannahmen, er beschreibt die unterschiedlichen Traditionen, die Pestalozzi durchaus bekannt waren: Die Ordnungstheorie der Theophysik, der Glaubensmethodismus der Frömmigkeitsbewegungen und die Bedeutung des Empirismus und des Sensualismus. Zuerst ist Methode eine Beschreibung des mechanischen Erziehungsablaufs, also die Gesetzmässigkeit des Reiz-Bewusstsein-Verhältnisses, wonach jede Aktivität des Menschen durch einen Reiz hervorgerufen wird. Der zweite Ansatz ist das Reihenkonzept, durch Wiederholung und Gewöhnung wird das zu Lernende in die Subjektivität des Lernenden übertragen. Die Elementarisierung der Gegenstände der Wahrnehmung ist ein weiterer Aspekt der Methode, ebenso die Erwartung der Entwicklung des Menschen zur Ganzheit von Körper, Seele und Geist. Aber es bleibt ein unüberbrückbarer Widerspruch, über die Totalität der Elemente und die Ganzheit des Menschen pädagogisch verfügen zu können. Für Osterwalder passen die Handlungsanleitungen und Wirkungsannahmen nicht zueinander und können ebenso wie die grundsätzlich auf Einschränkung und Vereinheitlichung von Erfahrung beruhende Elementarmethode ihren Erwartungen nicht gerecht werden und mussten deshalb scheitern. Aber der Geist der Methode bleibt virulent und führt in der Folgzeit zum Kult des grossen Pestalozzi.
In Band 7 „Schriften zur Mütterlichkeit und Erziehung“ beschreibt Korte in ihrer Einleitung „Pestalozzis Mutterbild im Werkkontext und im Zusammenhang des Weiblichkeitsdiskurses um 1800“ (S. 7-42) den Weiblichkeitsdiskurs um und vor 1800. Sie arbeitet an Schriften von Rousseau, Kant, Campe, Schiller, Humboldt und Schlegel heraus, wie die Rolle der Frau eingeengt wird auf ihre Rolle als Gattin, Mutter und Vorsteherin des Hauses, die aber alle bestimmt sind von der Abhängigkeit der Frau vom Mann. Für die Erziehung der Söhne ist die Mutter nur in den ersten Lebensjahren verantwortlich, für die Töchter gilt es, sie zur mustergültigen Gattin, Mutter und Hausfrau zu erziehen. Bei Pestalozzi unterscheidet Korte seine Position zur Weiblichkeit in den Schriften vor 1800 und in den Schriften der Jahre 1803-1804. Am wirkungsmächtigsten ist die Figur der Gertrud in seinem Roman „Lienhard und Gertrud“ von 1781, Gertrud wird zu einer mythischen, überirdischen Figur stilisiert, sie ist nicht nur Hausfrau, Gattin und Mutter, sondern sorgt auch für die Subsistenz der Familie. Ihre Wohnstube ist kein bürgerliches Wohnzimmer, sondern ein Raum, in dem 9 Menschen leben, arbeiten und lernen: Lienhard, Gertrud und die 7 Kinder. Häufig versorgt sie Kinder der hungernden Nachbarn und nimmt damit zusätzlich soziale Aufgaben wahr. Noch deutlicher wird in „Christoph und Else“ die Verklärung der Mutterfigur Gertrud vorangetrieben, das ideale Frauenbild bedarf immer eines Mannes, um die ideale Weiblichkeit zu erreichen. In „Gesetzgebung und Kindermord“ zeigt er viel Mitgefühl für arme Mädchen und Frauen, die grundsätzlich ein Recht auf Heirat, auf ihre Kinder, auf Schutz und Unterstützung, ja auf Anerkennung und Hilfe hätten (S. 27). In dem als Entwurf vorhandenen Text „Weltweib und Mutter“ von 1804 verdüstert sich Pestalozzis Mutter- und Frauenbild, er setzt das Mutterbild der guten Mutter gegen das schlechte Weltweib: Die Symbiose der Mutter mit dem Kind ist die einzige Bestimmung der Frau. Seine Mythisierung der Mütter wird durch häufige Anspielungen auf die Heilige Schrift verstärkt, und es werden auch biblische Metaphern verwendet. Dagegen steht das Weltweib, das sich seinen Kindern entzieht, das seine Interessen auf die Gesellschaft ausserhalb der Wohnstube richtet: Das Kind des Weltweibs missrät, das Kind des Weltweibs hat keine Mutter.
In Band 8 „Sozialpädagogische Schriften II: Arbeit und Industrie nach 1800“ überschreibt Gonon seine Einleitung: „Pestalozzis soziales Erziehungsprogramm zwischen ökonomischem Patriotismus und familiärer Vergemeinschaftung“ (S. 7-29). In diesem Band geht es um Armenerziehung, Volksbildung und Industrie, letztere als individuelle Leistungsbereitschaft und als eine Gebrauchsgüter herstellende Form des Wirtschaftens verstanden, was über die Reform von Bildung und Schule auch Ökonomie und Gesellschaft in den Blick nimmt. Gonon hat dafür mehrere Texte Pestalozzis aus den Jahren 1803-1822 zusammengestellt, auf die er in seiner Einleitung einzeln eingeht. Eine letztlich unveränderte Linie führt von den frühen Schriften Pestalozzis zu den Schriften nach 1800. Pestalozzi ergänzt sie allerdings um eine polit-ökonomische Perspektive, um eine pädagogische Technologie, die naturgemässe Methode wird für die spezifischen Bedürfnisse der Armenerziehung und Volksbildung adaptiert. Die pestalozzische Pädagogik ist zwar auf eine allgemeine Menschenbildung ausgerichtet, aber er denkt dabei weniger an eine allgemeine Schulpflicht als an eine familiär ausgerichtete Erziehung. Abschliessend geht Gonon auf die Frage ein, ob Pestalozzi als (sozial-)pädagogischer Klassiker bezeichnet werden könne, und er bejaht dies, da Pestalozzis Augenmerk auf den nicht-privilegierten Schichten gelegen habe. Erziehung leistet einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, vor allem zu Besserstellung der Armen, letztlich besteht Pestalozzis Beitrag in einer sozialpädagogisch gewendeten Physiokratie, die Freiheit und Eigentum als unveräusserliches Naturrecht betrachtet.
Resümee
Die vorliegenden acht Bände geben die Werke Pestalozzis in der Originalfassung der Wissenschaftlichen Gesamtausgabe wieder (PSW I-XXIX) und nicht in einer sprachlich bereinigten Form. Diese Entscheidung erschwert zwar den Zugang zu Pestalozzis Texten, lässt dafür aber stärker die Zeitgebundenheit, die Kontextualität der Texte hervortreten. Die Einleitungen sind von unterschiedlichen Autoren/Autorinnen verfasst und damit auch in ihrer Qualität unterschiedlich. Alle Autoren stellen Pestalozzis Werke in die Tradition der zeitgenössischen Diskurse. Während Korte oder Gonon die behandelten Texte auch als ganzes sichtbar machen, bleiben andere Autoren allein auf den Kontext beschränkt und lassen die behandelten Texte nicht als ganzes erscheinen. Allgemein gilt, dass in den Einleitungen dieser Bände textimmanente Interpretationen vermieden werden. In dieser Schärfe kann den Autoren nicht gefolgt werden, eine textimmanente Interpretation ist unter Berücksichtigung des Kontextes der Entstehung der Texte durchaus legitim. Wenn sich z.B. Tröhler von Klafkis Interpretation des Stanser Briefs absetzt, so verkennt er in Klafkis Vorrede von 1997, die Tröhler durchaus anführt, dass sich Klafki in dieser Vorrede gerade von der kritisierten Interpretation selbst distanziert, indem er zwischen Lösungsvorschlägen, die zeitgebunden und überholt sein können, und Frage- und Problemstellungen unterscheidet. Es kann nicht um eine dogmatische Wiederholung der zeitgebundenen Lösungsvorstellungen Pestalozzis gehen, sondern allein um die von Pestalozzi aufgeworfenen Fragestellungen für eigenes pädagogisches Handeln zu nutzen. In der Einleitung zu Band 4 setzt sich Tröhler mit Pestalozzis Schriften zur Französischen Revolution und zur Stäfner Volksbewegung auseinander, wobei er keinen Bezug auf zentrale Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex nimmt: Rang (Der politische Pestalozzi, Frankfurt 1967), Zur Diskussion: Der politische Pestalozzi (Weinheim 1972) oder Krause-Vilmar (Liberales Plädoyer und radikale Demokratie. H. Pestalozzi und die Stäfner Volksbewegung, Meisenheim 1978). Der Einleitungstext von Tröhler zu Band 4 findet sich zudem weitgehend wortgleich nochmals im Einleitungstext von Band 5. In den vorliegenden 8 Bänden bleibt Pestalozzis grundlegendes Werk „Lienhard und Gertrud“, das ihn lebenslang beschäftigt, weitgehend ausgeklammert. Nach dem grossen literarischen Erfolg von „Lienhard und Gertrud“ von 1781 lässt er in den Folgejahren drei weitere Bände folgen und überarbeitet dieses umfangreiche Werk 1790-1792 ein zweites Mal und ein drittes Mal 1819-1820. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt Pestalozzis letztes grosses Werk, „Pestalozzi’s Schwanengesang“ von 1826. Es ist der Verdienst der Herausgeber, mit diesen acht Bänden wichtige Werke Pestalozzis in einer neuen Ausgabe zu präsentieren. Die umfangreichen Einleitungen dieser Bände beschreiben jeweils ausführlich den Kontext der Entstehung dieser Werke, eine inhaltliche Analyse der Werke Pestalozzis darf man von den Einleitungstexten allerdings nicht erwarten.
(Gerhard Kuhlemann)