Tröhler, Daniel:
Johann Heinrich Pestalozzi.
Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2008, 105 S. (UTB 3009).
Die Veröffentlichung von Tröhler unterscheidet sich fundamental von anderen Publikationen über Pestalozzi. Ausgangspunkt bei Tröhler sind nicht die Werke Pestalozzis oder deren Interpretation, sondern der historische Kontext, der sein Denken und seine Einstellungen prägte. So wird die Republik Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts unter den Stichworten Kommerzialisierung und Oligarisierung ausführlich geschildert, die sich als Abwendung von den ideellen Grundlagen einer freien Republik darstellten. In dieser Situation habe sich Pestalozzi unter dem massgeblichen Einfluss des europaweit bekannten Zürcher Professors für Geschichte, Politik und Literatur Johann Jakob Bodmer (1698-1783) zu einem radikalen Patrioten entwickelt. Mit seiner frühen Schrift „Agis“ (1765), die am Beispiel des spartanischen Königs Agis und dessen vergeblichem Kampf zur Veränderung der sozialen Strukturen des Staates mit seiner Ermordung endete, wollte Pestalozzi – verdeckt - eine Parallele von den Verhältnissen im antiken Griechenland zur Jugendbewegung in Zürich mit ihren Vorstellungen einer radikalen Reform der bestehenden Strukturen der Zürcher Gesellschaft ziehen.
Am Anfang steht für Tröhler die Frage, warum so oft auf Pestalozzi verwiesen werde, obwohl man ihn gar nicht lese und warum er als Begründer der modernen Volksschule oder als Vater der Sozialpädagogik gelte, obwohl man so wenig über ihn wisse (S. 7). Tröhler will aufzeigen, dass Pestalozzi an sozialen Idealen der 1760er Jahre festhielt, trotz der gewaltigen sozialen und politischen Veränderungen während seiner Lebenszeit: Amerikanische Revolution (1776), Französische Revolution (1789), Helvetische Revolution (1798) und die sich abzeichnende industrielle Revolution. Tröhler unterstellt zwar Pestalozzi den Stellenwert eines Klassikers, aber eines Klassikers, der ohne gelesen zu werden fortlaufend dazu benutzt werde, der eigenen Argumentation ein grösseres Gewicht zu verleihen.
Auf Pestalozzis Werke geht Tröhler nur am Rande ein: Im Dorfroman „Lienhard und Gertrud“ von 1781 bietet Pestalozzi am Beispiel des fiktiven Dorfes Bonnal eine paternalistische Lösung für die realen Probleme der Armut und Korruption in den Schweizer Republiken an. In den „Nachforschungen“ von 1797 hat Pestalozzi die dreifache Struktur der menschlichen Natur vom natürlichen Zustand über den gesellschaftlichen Zustand zum sittlichen Zustand beschrieben und damit den Weg zur Tugendrepublik aufgezeigt, der nur über die Eindämmung und Überwindung der selbstsüchtigen Natur der Menschen möglich werde. Unter dem Begriff der „Methode“ hat Pestalozzi seine Pädagogik gebündelt und in seinem Werk „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ von 1801 zusammengefasst. Diese von Pestalozzi entwickelte Methode wird zur Basis seines europaweiten Ruhms, bot sie doch das Versprechen, eine gleichzeitig kognitive, physische und sittlich-religiöse Bildung zu ermöglichen, die noch dazu einfach zu vermitteln sei. In Burgdorf und später in dem grössenmässig deutlich gewachsenen Institut in Yverdon sieht Tröhler in Propaganda, Kult und Charisma Pestalozzis die Garanten seines Erfolgs, wobei Tröhler gleichzeitig den Niedergang des Instituts analysierend beschreibt. Bis zum Ende seines Lebens aber sei Pestalozzi den Idealen seiner Jugendzeit treu geblieben, die Bewältigung der sozialen Ungerechtigkeit in einer „verdorbenen“ Republik durch Erziehung in eine Tugendrepublik zu verwandeln. Für diese These wird die Gründung der Armenanstalt in Clindy bei Yverdon angeführt und 1825 nach Pestalozzis Rückkehr auf den Neuhof sein Plan, dort erneut eine Armenanstalt zu errichten, die Ackerbau, Industrie und Erziehung vereinigen sollte, um benachteiligten Kindern einen gleichberechtigten Platz in einer gerechten Gesellschaft zu ermöglichen.
Das Buch von Tröhler hat letztlich den irreführenden Titel „Johann Heinrich Pestalozzi“ und erweckt damit die Erwartung, man erführe etwas über das umfassende Werk Pestalozzis, das in 31 Bänden der Kritischen Ausgabe seiner Werke vorliegt. Aber für Tröhler gilt wohl, was er pauschal der gesamten Pestalozzi-Rezeption unterstellt, man spreche über Pestalozzi, ohne ihn selbst gelesen zu haben. Natürlich kann Tröhler treffende Beispiele der Verehrung Pestalozzis anführen, z.B. Johann Ludwig Ewald (1748-1822) schon 1803 (S. 69), aber solche Beispiele stehen nicht für die gesamte Pestalozzi-Literatur. Die Veröffentlichung von Tröhler eignet sich nicht zur Lektüre über Pestalozzi, aber durchaus als Begleitbuch zu einer Auseinandersetzung mit Pestalozzi, denn es zeigt die kontexttuell zu fassenden Impulse und Anregungen, die Pestalozzis Leben und Wirken bestimmten, die aber Tröhler schwerpunktmässig allein auf die 1760er Jahre zurückführt. Natürlich konnten und können Pestalozzis Vorstellungen aus der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht massstabsgetreu umgesetzt werden, aber mit seinem umfassenden Werk hat Pestalozzi doch wesentliche Anstösse zur Entwicklung und dem Ausbau eines angemessenen Bildungssystems vor allem in Deutschland und der Schweiz gegeben. Die Literaturbasis von Tröhlers Veröffentlichung ist recht begrenzt und einseitig, er stützt sich im wesentlichen nur auf die zweibändige Biographie von Peter Stadler „Pestalozzi. Geschichtliche Biographie“ und seine eigenen Veröffentlichungen.
(Gerhard Kuhlemann)