Auf der Suche nach Pestalozzis Spuren: Förderorientierte Schülerbeurteilung in der Schweiz

Zusammenfassung

Zur Beurteilung der Schülerinnen und Schüler werden die Schulleistungen in Schweizer Schulen normalerweise miteinander verglichen, um den Kindern anhand dieses Vergleichs Noten zu erteilen. Da diese Form der Beurteilung nicht auf die Förderung der Kinder zielt, haben Schweizer Kantone vor allem auf den unteren Schulstufen förderorientierte Beurteilungssysteme eingeführt. In solchen Beurteilungssystemen werden (z.T. individuelle) Lernziele mit den Kindern vereinbart. Die Kinder werden beim Arbeiten an diesen Lernzielen beobachtet und beobachten sich auch selbst. Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen beurteilen sie ihre Fortschritte und das Erreichen der Lernziele selber und werden von der Lehrperson mündlich und schriftlich in Worten beurteilt. In halbjährlichen Gesprächen zwischen Eltern, Kind und Lehrperson werden gemeinsam Fördermassnahmen abgeleitet.

In dieser modernen Form der Beurteilung von Schülerinnen und Schülern lassen sich verschiedene Anliegen Pestalozzis wieder finden. Bereits Pestalozzi wusste genau, woran er mit den Kindern arbeitete und welche (sittlichen) Ziele er verfolgte. Er beobachtete die Kinder präzise und beurteilte sie individuell, weil er sich ihrer Einmaligkeit bewusst war. Zur Förderung war Pestalozzi eine gute Beziehung zu den Kindern, ein altersdurchmischtes Lernen und die gemeinsame mündliche Reflexion wichtig.
Trotz zahlreicher Parallelen soll Pestalozzi aber nicht als konzeptioneller Urheber der heute praktizierten förderorientierten Beurteilung betrachtet werden.

I. Einleitung

Im Heimatland Pestalozzis –  in der Schweiz – vermitteln heute die meisten  Lehrpersonen Schulstoff und überprüfen anschliessend mit einer schriftlichen Prüfung, was die Kinder davon noch wissen. Mit Noten von 1 (sehr schlecht) bis 6 (sehr gut) werden die erzielten Fachleistungen beurteilt. Um dem einzelnen Kind eine Note zuzuweisen, wird dieses (bewusst oder unbewusst) mit anderen Kindern verglichen. Im Rahmen dieser sog. sozialen Bezugsnorm der Beurteilung werden die Leistungen des Einzelnen nach ihrem Verhältnis zur Leistung einer Gruppe beurteilt. "Sie gilt als gut, wenn sie der Gruppenleistung (meistens der Leistung der Klasse) entspricht oder sie übertrifft; als schlecht, wenn sie dagegen abfällt" (Sacher, 2009, S. 87). Dieser Vergleich mit anderen Kindern führt zu einer besseren oder schlechteren Note – und damit verbunden zu besseren Chancen in gewisse Schultypen, zum Beispiel Gymnasien, aufgenommen zu werden (vgl. Smit, 2009, S. 16).

An diesem Beurteilungssystem entzündet sich immer wieder Kritik. Neben der Ungenauigkeit und geringen Aussagekraft von Noten wurde zum Beispiel bemängelt, dass Kinder in der Schule vor allem miteinander verglichen und selektioniert, nicht aber in ihrer Individualität gestärkt und gefördert werden (vgl. Sacher, 2009, S. 20ff). Aus dieser Sicht sollen sich Schulen nicht aufs Trainieren und Qualifizieren beschränken, sondern auf die Entfaltung vielfältiger Möglichkeiten und Kräfte hinarbeiten
(vgl. Schnell, 2004, S. 100).

Sacher (2009) fordert deshalb, dass sich die Schule endlich entscheiden müsse, der Förderung junger Menschen den Vorrang gegenüber ihrer Selektion für Bildungs- und Berufslaufbahnen einzuräumen (vgl. Sacher, 2009, S. 200):

Eine blosse Kombination von Selektion und Förderung ist unzureichend. Man muss sich entscheiden, dieser oder jener Priorität einzuräumen. Der Selektionsfunktion den Vorzug zu geben würde bedeuten, die gesamte Prüfungs- und Beurteilungspraxis und damit letztlich die Schule überhaupt zu einer unbarmherzigen sozialtechnischen Vergleichsapparatur verkommen zu lassen. Wenn uns etwas an der pädagogischen Intentionalität der Schule liegt, dann müssen wir alle Funktionen der Leistungsbeurteilung auf das übergeordnete Ziel der Förderung hin konzipieren. (Sacher, 2009, S. 213)

Verschiedene Schweizer Kantone verzichten deshalb vor allem in den unteren Schulklassen auf Schulnoten (vgl. Vögeli-Mantovani, 1999, S. 89ff). An ihre Stelle tritt eine andere Form der Beurteilung und Förderung von Kindern, die im Folgenden näher vorgestellt werden soll. Diese Form der Beurteilung wird hier als förderorientierte Schülerbeurteilung bezeichnet (vgl. Smit, 2009, S. 41). Sie wird in verschiedenen Schweizer Kantonen zwar nicht einheitlich praktiziert, ist in ihrem Kern aber an verschiedenen Orten recht ähnlich konzipiert. Dabei ist zu betonen, dass es sich bei der förderorientierten Beurteilung nicht bloss um eine formale Umstellung der Schülerbeurteilung handelt. Denn nur in Kombination mit einer pädagogischen und didaktischen Öffnung des Unterrichts und bei entsprechenden Rahmenbedingungen können sich Erfolge einstellen (vgl. Brügelmann, et al., 2006, S. 4).

Diese Form der Beurteilung und Förderung und die damit verbundene Anpassung des Unterrichts löst auch gewisse pädagogische Forderungen des berühmten Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) ein. Bei der folgenden Erläuterung der förderorientierten Beurteilung wird deshalb jeweils auch darauf eingegangen, wo sich Parallelen zu Pestalozzis Gedanken finden lassen. Oft wird dabei auf den Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) zurück gegriffen, weil Pestalozzi darin anschaulich zeigte, wie er sich Unterricht und Bildung konkret vorstellt.

Kritisch muss dabei angemerkt werden, dass die förderorientierte Schülerbeurteilung natürlich verschiedene Wurzeln hat (vgl. Smit, 2009, S. 41ff). Es soll hier also nicht der Versuch unternommen werden, Pestalozzi die Konzeption dieser förderorientierten Beurteilungsmodelle zuzuschreiben. Dennoch soll nach Parallelen zwischen einer förderorientierten Schülerbeurteilung und ausgewählten pädagogischen Idealen Pestalozzis gesucht werden. So können allenfalls Spuren aufgedeckt werden, die (auch) auf Pestalozzi zurück gehen und da und dort im heutigen Unterricht an Schweizer Schulen weiter leben.

Im Folgenden wird die förderorientierte Schülerbeurteilung anhand eines Fördermodells beschrieben, wie es beispielsweise im Kanton Luzern oder Zug umgesetzt wird (vgl. Roos, 2001). Dieses Modell stellt das einzelne Kind ins Zentrum und befasst sich mit den vier zentralen Schritten von Lernprozessen:

  1. Ziele vereinbaren
  2. beobachten
  3. beurteilen
  4. fördern

Im täglichen Unterricht sind diese vier Phasen eng miteinander verflochten. Sie werden hier aber einzeln und aufeinander aufbauend dargestellt, damit sie sich besser darstellen und verstehen lassen.

II. Ziele vereinbaren

Im Rahmen dieses Fördermodells spielen Ziele eine wichtige Rolle (vgl. Bostelmann, 2006, S. 15ff). Gemäss Roth (1971) sollen neben den fachlich-inhaltlichen Zielen (Sachkompetenz) bewusst und gleichwertig auch Ziele im sozialen Zusammenleben (Sozialkompetenz) und Ziele im Rahmen der persönlichen Entwicklung (Selbstkompetenz) gefördert werden. Im Bereich der Selbstkompetenz geht es etwa darum, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, sich selber kennen und akzeptieren zu lernen, Kritik annehmen zu können und zur eigenen Meinung zu stehen (vgl. Buholzer, 2006, S. 162ff).

Ziele können von der Lehrperson vorgegeben, vom Kind selber gesetzt oder gemeinsam ausgehandelt werden – zum Beispiel mit einzelnen Kindern, ihren Eltern oder ganzen Schulklassen. "Angestrebt wird letztlich, dass die Schüler selber in die Lage versetzt werden, ihren Lernprozessen Ziele zu geben und die Zielerreichung regelmässig zu überprüfen" (Rolff, 2007, S. 132). Wichtig ist dabei, dass die Ziele altersgerecht sind und dass nicht für alle Kinder die gleichen Ziele gelten müssen. Dies, weil die Annahme, dass alle Kinder im gleichen Tempo lernen, vielen Studien zufolge falsch ist (vgl. von Saldern, 2007, S. 45).

Die Ziele können – und sollen –  somit auch individuell auf die einzelnen Kinder zugeschnitten werden. Solche Differenzierungen im Unterricht werden z.B. durch Reduzierung von Bildungsinhalten oder durch den Unterricht mittels individueller Curricula realisiert (vgl. Erzmann, 2003, S. 36). Daneben besteht aber auch die Möglichkeit, Aufgabenstellungen so offen zu wählen, dass sie im Sinne einer natürlichen Differenzierung graduell auf unterschiedlichen Niveaus gelöst werden können (vgl. Hess, 2003, S. 48ff).

Eine intensive Arbeit an den Zielen setzt voraus, dass die Ziele allen Beteiligten bekannt sind, weil die Kinder in die Planung und Steuerung ihres Lernprozesses einbezogen werden sollen. Da sich die später vorzunehmende Selbstbeurteilung unter anderem an den Zielen orientiert, sollte also jedes Kind seine Ziele kennen (vgl. Rolff, 2007, S. 71).

Eine solche explizite Arbeit mit Lernzielen findet sich bei Pestalozzi nicht. Mit seinem sittlichen Zustand verweist Pestalozzi aber auf, dass er sehr wohl eine Vision des Ziels menschlicher Entwicklung hat. Anhand von drei exemplarischen Schlaglichtern sollen deshalb Parallelen zu Pestalozzi aufgezeigt werden:

  1. Mit seiner Elementarbildung zeigte Pestalozzi eindrücklich, dass er Lernen nicht planlos verstand, sondern als wohlüberlegten, gestuften Prozess. Im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) schreibt er beispielsweise im Zusammenhang mit dem Lesenlernen: "Jede zwei Reihen der Buchstaben müssen von den Kindern vollkommen gelernt sein, ehe man zu einer neuen fortschreitet". Damit zeigte er, dass er sich der Bedeutung von (Zwischen-) Zielen bewusst war. Jeder einzelne Bildungsschritt bei der Entfaltung der menschlichen Kräfte und Anlagen soll zur Vollendung gebracht werden.

  2. Wenn auch die sittlich-religiöse Dimension von Pestalozzi in diesem Modell der förderorientierten Schülerbeurteilung nicht aufscheint, so wird doch deutlich, dass die angestrebten Ziele weit über die Sachkompetenz hinaus reichen. Auch Pestalozzi forderte eine allseitige, harmonische Bildung der menschlichen Kräfte. In seinem Schwanengesang (vgl. Pestalozzi, 1826) schrieb er: „Es ist eine, sich in allen Verhältnissen bewährende Wahrheit, nur das, was den Menschen in der Gemeinkraft der Menschennatur, d.h. als Herz, Geist und Hand ergreift, nur das ist für ihn wirklich, wahrhaft und naturgemäß bildend; alles, was ihn nicht also, alles, was ihn nicht in der Gemeinkraft seines Wesens ergreift, ergreift ihn nicht naturgemäß und ist für ihn, im ganzen Umfang des Wortes, nicht menschlich bildend. Was ihn nur einseitig, d.i. in einer seiner Kräfte, sei diese jetzt Herzens-, sei sie Geistes- oder Kunstkraft, ergreift, untergräbt und stört das Gleichgewicht unserer Kräfte und führt zur Unnatur in den Mitteln unserer Bildung, deren Folge allgemeine Missbildung und Verkünstelung unseres Geschlechts ist.“ Damit dokumentiert Pestalozzi eindrücklich seinen breiten Bildungsbegriff, mit dem er Ziele in verschiedenen Bereichen anstrebte.

  3. Als es darum ging nach einem grossen Brand in Altdorf weitere obdachlose Kinder aufzunehmen, versammelte Pestalozzi seine Kinder und fragte sie, ob sie diese Kinder aus Altdorf aufnehmen möchten, auch wenn damit für das einzelne Kind weniger Geld und damit Nahrung vorhanden sei (vgl. Pestalozzi, 1799). Dieses Beispiel zeigt, wie Pestalozzi die Kinder in die Planung miteinbezog und diesen Prozess für ihre Entwicklung fruchtbar machte.

So verstanden, spielten (Lern-) Ziele bei Pestalozzi implizit eine nicht zu unterschätzende Rolle.

III. Beobachten

Wenden wir uns nun wieder dem Modell der förderorientierten Schülerbeurteilung zu:
Aufgrund der gemeinsam vereinbarten Ziele beobachtet die Lehrperson die Lernprozesse der Kinder ausdauernd und präzise. Beobachten meint hier aber nicht ein unbeteiligtes Zuschauen aus Distanz, sondern vor allem auch ein gemeinsames Handeln mit dem Kind. Durch dieses gemeinsame Handeln lernt die Lehrperson das einzelne Kind und seinen Denk- und Lernprozess kennen. Die dabei angestellten Beobachtungen sind wichtig, weil sie als Grundlage für die Förderung dienen. Damit sie später beim Ableiten von Fördermassnahmen noch präsent sind, werden sie von der Lehrperson in geeigneter Weise festgehalten. Da es der Lehrperson nicht möglich ist mit allen Kindern gleichzeitig individuell in Kontakt zu treten, schaut sie sich auch die Produkte der Kinder genau an, so etwa Lerntagebücher, Lernjournale, Portfolios (vgl. Schnebel, 2007, S. 132). Allenfalls lässt sie sich von den Kindern im Nachhinein erzählen, wie sie beim Erstellen ihres Produkts vorgegangen sind.

Von grosser Bedeutung ist auch, dass die Kinder angeregt werden, sich selber beim Lernen und Arbeiten zu beobachten, auch gegenseitig (vgl. Müller, 2002, S. 168). Da gewisse Bereiche der Fremdbeobachtung durch die Lehrperson nicht zugänglich sind, ist diese Selbstbeobachtung und die gegenseitige Beobachtung der Kinder ein wichtiges Mittel, z.B. wenn es um Hausaufgaben, Prüfungsvorbereitungen, Freizeitverhalten oder mentale Vorgänge beim Lernen geht (vgl. Schnebel, 2007, S. 132).

Das Beobachten von Kindern steht bei Pestalozzi nicht so offensichtlich im Zentrum. Er besticht aber neben seinen philosophischen und pädagogischen Gedanken insbesondere auch durch seine scharfen Beobachtungen von Kindern und Situationen. Damit verweist er auf die Bedeutung des genauen Hinschauens.

Im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) schrieb er: „Ihre Menge gab mir jeden Tag Gelegenheit unter ihnen, ihnen anschaulich zu machen, was schön und was hässlich, was recht und was unrecht ist“. Damit Pestalozzi solche Beispiele entdecken konnte, musste er genau hinsehen und beobachten. Seine Beobachtungen verwendete er als Anschauungsbeispiele für die Förderung der ihm anvertrauten Kinder. Da Pestalozzi in Stans Tag und Nacht mit den Kindern zusammen war und den Haushalt mit ihnen teilte, hatte er ausserordentlich viele Gelegenheiten, die Kinder zu beobachten: „Ich war von Morgen bis Abend soviel als allein in ihrer Mitte“ (vgl. Pestalozzi, 1799).

IV. Beurteilen

Die förderorientierte Schülerbeurteilung sieht nicht nur vor, dass das Kind dazu angeleitet wird, sich selber zu beobachten. Es soll auch immer besser lernen, sich selber und seine Fortschritte zu beurteilen. Dies ist wichtig, weil die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstbeurteilung als Voraussetzung für die Entwicklung eines mündigen Menschen gilt (vgl. Sacher, 2009, S. 231). Beurteilen ist im Rahmen der förderorientierten Schülerbeurteilung eine Standortbestimmung für das Lernen des Kindes, die auf der Grundlage verschiedener Beobachtungen vorgenommen wird.

Wenn ein Kind beurteilt wird oder sich selber beurteilt, so wird dazu ein Beurteilungsmassstab benötigt (vgl. Schlag, 2009, S. 122). Im hier vorgestellten Beurteilungs- und Fördermodell soll als Massstab einerseits die Erfüllung der vereinbarten Ziele gelten (Lernzielnorm). Auf der anderen Seite sollen bei der Beurteilung aber vor allem die individuellen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Grenzen und Fortschritte des einzelnen Kindes einfliessen (Individualnorm). Neben diesen beiden Massstäben hat die Sozialnorm keine Berechtigung (Gronemeyer, 1996, S. 73). Dieser Massstab misst das einzelne Kind durch Vergleich an den anderen Kindern. Die Sozialnorm wird hier abgelehnt, weil sie unwichtig, ungerecht, konkurrenzorientiert, lernhemmend, wenig hilfreich und wenig aussagekräftig ist.

Eine pädagogisch motivierte Beurteilung berücksichtigt hauptsächlich die Stärken und Fortschritte des Kindes und hat zum Ziel, gemeinsame Fördermassnahmen zu vereinbaren. Noten, die zumeist an der Sozialnorm orientiert sind, wären dabei nur hinderlich (vgl. Easley & Mitchell, 2004, S. 17). Deshalb wird in Kantonen, die mit diesem Fördermodell arbeiten, zumindest auf den unteren Schulstufen auf sie verzichtet.

Ihre Beurteilungen bespricht die Lehrperson einerseits in Schülergesprächen während des Unterrichts. Andererseits werden die Beurteilungen an ein bis zwei jährlichen Beurteilungsgesprächen besprochen, an denen neben dem Kind auch die Eltern anwesend sind (vgl. Sacher, 2009, S. 260ff). Am Beurteilungsgespräch tauschen sich die Beteiligten über die als gleichwertig betrachtete Selbst- und Fremdbeurteilung des Kindes aus. Als Grundlage für das Gespräch dient oft ein sogenanntes "Portfolio", eine vom Kind erstellte Sammlung von gelungenen Arbeiten (vgl. Mietzel, 2003, S. 430ff). Dieses Portfolio wird vom Kind selber vorgestellt. Je eher die Lehrperson im ganzen Unterricht eine gute Gesprächskultur pflegt, desto mehr wird sich ein Kind an diesem Beurteilungsgespräch einbringen.

Auch im Zusammenhang mit dem Beurteilen soll aufgezeigt werden, welche Parallelen sich zu Pestalozzi finden lassen. Die drei ausgewählten Schlaglichter verweisen darauf, dass Pestalozzi eine individuelle Bezugsnorm der Beurteilung bevorzugte, auf die Stärken (bzw. Kräfte) der Kinder vertraute und mit den Kindern erzieherische Gespräche führte:

  1. Im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) zeigte Pestalozzi deutlich auf, dass er ebenfalls von einer individuellen Bezugsnorm der Beurteilung ausging (Individualnorm): „Ich war mit den langsamsten geduldig; aber wenn eines etwas schlechter machte, als es dasselbe schon gemacht hatte, war ich streng.“ Er duldete also keine Rückschritte und war sehr an den Fortschritten seiner Kinder interessiert. Ein Vergleich zwischen den Kindern machte für Pestalozzi keinen Sinn, weil er sich der Individualität und Einmaligkeit der Kinder bewusst war.

  2. Weiter betont Pestalozzi im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) auch den Willen der Kinder zur eigenen Leistung: „Alles, was ihm Ehre bringt, das will es. Alles, was große Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht ‚ich kann es‘, das will es.“ Bereits Pestalozzi orientierte sich somit an den Stärken bzw. Kräften der Kinder.

  3. Pestalozzi führte zwar keine eigentlichen Beurteilungsgespräche mit den Kindern. Im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) erwähnte er aber, wie er einzeln mit den Kindern sprache: „Wenn ich einzeln mit ihnen redete, so erzählten sie mir gern, wie unglücklich sie [daheim bei ihren Eltern, Anmerkung von MR] wären“. Pestalozzi führte mit den Kindern also Einzelgespräche, die sehr persönlich waren. Ausserdem erwähnte er im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) immer wieder, wie er mit den Eltern und Verwandten der ihm anvertrauten Kinder sprach.

 

V. Fördern

In der hier vorgestellten förderorientierten Beurteilung wird die Förderung als Hauptaufgabe der Lehrperson betrachtet (vgl. Buholzer, 2006). Natürlich wird dabei davon ausgegangen, dass der ganze Unterricht grundsätzlich förderlich gestaltet wird. Um das Kind zu fördern, muss die Lehrperson den Kindern hauptsächlich Zeit für ihre Entwicklung lassen sowie förderliche Bedingungen schaffen. Eine dieser förderlichen Bedingungen besteht im Aufbau einer vertrauensvollen, tragfähigen Beziehung zwischen Lehrperson und Kind (vgl. Fend, 1998, S. 180). Eine solche tragfähige Lehrperson-Kind-Beziehung ist einerseits durch Halt gebende und andererseits durch Grenzen setzende Aspekte gekennzeichnet (vgl. Becker, 2008, S. 89).

Aber auch das soziale Klima in einer Klasse kann als förderliche Bedingung für das Lernen angesehen werden (vgl. Fend, 1998, S. 319). In gewissen Schulen werden Kinder unterschiedlichen Alters aus pädagogischen Gründen zusammen genommen und in einer Klasse gemeinsam unterrichtet (altersdurchmischtes Lernen). So können die Kinder voneinander lernen und werden besser gefördert (vgl. Achermann, 2009, S. 14).

Neben der Förderung der ganzen Klasse geht es aber auch um die individuelle Förderung der einzelnen Kinder (vgl. Fend, 1998, S. 342f). Die Lehrperson soll dem einzelnen Kind die bestmögliche, individuelle Förderung zukommen lassen, indem sie dieses berät, unterstützt und begleitet (vgl.Schnebel, 2007, S. 73f). Zu diesem Zweck werden aus der gemeinsam vorgenommenen Beurteilung passende Fördermassnahmen abgeleitet, wobei das Kind auch hier stark einbezogen wird. Dieser Einbezug der Kinder geschieht z.B. dadurch, dass die Lehrperson beim Kind das Nachdenken über sein eigenes Lernen anregt und anleitet (Reflexion, Metakognition). So wächst die Selbsterkenntnis des Kindes, was sich förderlich auf seine Entwicklung auswirkt (vgl. Joller-Graf, 2006, S. 115f). Eine weitere Fördermassnahme kann darin bestehen, dass mit dem Kind neue Ziele vereinbart werden. Damit schliesst sich der Förderkreislauf.

Exemplarisch für diese vierte Phase des Fördermodells sollen ebenfalls drei Parallelen zu Pestalozzi aufgezeigt werden:

  1. Auch bei Pestalozzi steht die ganzheitliche Förderung des Kindes im Zentrum seiner Pädagogik. Wesentlich war Pestalozzi dabei die Beziehung, ja die Liebe zum Kind. In "an die Unschuld" (vgl. Pestalozzi, 1815) schrieb Pestalozzi: „Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich. Es bildet sich wesentlich nur in engen, kleinen, sich allmählich in Anmut und Liebe, in Sicherheit und Treu ausdehnenden Kreisen also.“ Für Pestalozzi war die Beziehung bzw. die Liebe zum Kind ein wichtiges Fundament der Bildung, eine förderliche Bedingung für die Entwicklung der Kinder.

  2. Ausserdem war Pestalozzi überzeugt vom pädagogischen Wert des altersdurchmischten Lernens. Im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) hielt er dazu fest: „Die Menge und Ungleichheit der Kinder erleichterten meinen Gang. So wie das ältere und fähigere Geschwister unter dem Auge der Mutter den kleineren Geschwistern leicht alles zeigt, was es kann, und sich froh und groß fühlt, wenn es also die Mutterstelle vertritt, so freuten sich meine Kinder, das, was sie konnten, die anderen zu lehren. Ihr Ehrgefühl erwachte, und sie lernten selber doppelt, indem sie das, was sie wiederholten, andere nachsprechen machten. So hatte ich schnell unter meinen Kindern selbst Gehilfen und Mitarbeiter. Ich machte sie in den ersten Tagen einige sehr schwere Wörter auswendig buchstabieren, und so wie eines das Wort konnte, nahm es sogleich etliche, die es noch nicht konnten, zu sich und lehrte dieselben. So bildete ich mir von Anfang Gehilfen.“ Ähnlich wird noch heute für das altersdurchmischte Lernen argumentiert.

  3. Schliesslich war Pestalozzi die gemeinsame Reflexion mit den Kindern wichtig. Im Stanserbrief (vgl. Pestalozzi, 1799) schrieb er beispielsweise dazu: „Ich habe meinen Kindern unendlich wenig erklärt; ich habe sie weder Moral noch Religion gelehrt; aber wenn sie still waren, dass man eines jeden Atemzug hörte, dann fragte ich sie: ‚Werdet ihr nicht vernünftiger und braver, wenn ihr so seid, als wenn ihr lärmt?‘“ Mit solchen Impulsen löste Pestalozzi bei den Kindern Reflexionsprozesse aus, die er für förderlich hielt.

Zusammenfassend lässt sich somit zur Förderung festhalten, dass die Beziehung zwischen Erzieher und Kind, das Lernen in altersheterogenen Gruppen und die Reflexion mit den anvertrauten Kindern bereits bei Pestalozzi einen hohen Stellenwert hatten. Diese Aspekte sind im Rahmen einer förderorientierten Beurteilung noch heute bedeutsam.

VI. Fazit

Wie bereits einleitend festgehalten, kann es nicht das Ziel sein, Pestalozzi als konzeptioneller Urheber der heute praktizierten förderorientierten Schülerbeurteilung darzustellen. Dennoch ist es gelungen einzelne Ideen Pestalozzis zu finden, die gut mit einer förderorientierten Schülerbeurteilung in Einklang zu bringen sind.

Selbstverständlich liessen sich auch Widersprüche oder zumindest geringe Passungen zwischen Pestalozzis Grundgedanken und einer förderorientierten Schülerbeurteilung finden. So fällt beispielsweise auf, dass vor allem die religiöse Seite, die bei Pestalozzi stark zum Tragen kommt, im vorgestellten Fördermodell nicht mehr sichtbar gemacht wird. Ausserdem liesse sich eine allzu starke Verengung auf von aussen gesetzte, eng gefasste Lernziele kaum mit Pestalozzis Gedanken der harmonischen, allseitigen Entfaltung von Kräften in Einklang bringen.

Dennoch konnten einige Spuren von Pestalozzis Denken im vorgestellten Fördermodell aufgezeigt werden. Damit lebt er zumindest in Ansätzen in der öffentlichen Volksschule der Schweiz weiter.

Literatur

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