Blochmann, Karl Justus
Heinrich Pestalozzi. Züge aus dem Bilde seines Lebens und Wirkens nach Selbstzeugnissen, Anschauungen und Mittheilungen.
Dresden 1846, 182 S. (mit Abb.)
Von Pestalozzis langjährigen Mitarbeitern in Yverdon liegen zahlreiche Äusserungen zu ihrem Aufenthalt in Yvverdon vor. Blochmann war von 1809-1816 als Lehrer für Religion, Geographie und deutsche Sprache in Yverdon tätig und hat zur Wiederkehr von Pestalozzis 100. Geburtstag 1846 eine umfassende Darstellung zu dessen Leben und Werk vorgelegt. In seiner Darstellung finden sich viele Eindrücke, die bis in die neueste Literatur Eingang gefunden haben, z.B. das Versprechen der Dienstmagd Babeli gegenüber dem sterbenden Vater Pestalozzis, lebenslang bei der Familie zu bleiben, die Eindrücke des jungen Pestalozzi bei den Aufenthalten bei seinem Grossvater in Höngg, den Einfluss von Bodmer und Breitinger am Zürcher Gymnasium und auch der grosse Einfluss Rousseaus auf Pestalozzis Entwicklung.Anmerkung Blochmann orientiert sich weitgehend an Pestalozzis Werk „Schwanengesang“, zitiert aber auch aus einem längeren Brautbrief Pestalozzis. Da Blochmann die Cotta-Ausgabe von Pestalozzis Sämtlichen Schriften vorliegt,Anmerkung hat er damit die Quelle für seine Ausführungen zu den Werken Pestalozzis während der Neuhofjahre und geht besonders auf „Lienhard und Gertrud“ von 1781 ein. Im Kapitel „Sein pädagogischen Heldenthum in Stanz und sein demüthiges Schulmeisterthum in Burgdorf“ (S. 44-57), bezieht sich Blochmann ausser auf Pestalozzis Stanser Brief auf eine Darstellung von Heinrich Zschokke. Im Kapitel „Seine Erziehungs-Anstalt in Burgdorf, Münchenbuchsee und Yverdün“ (S. 58-121) beschreibt Blochmann das Zusammentreffen mit Herrmann Krüsi sowie die Gründung und das Wachstum des Erziehungsinstituts im Schloss Burgdorf, er charakterisiert vor allem Johannes Ramsauer, Johannes Niederer, Joseph Schmid und Wilhelm von Türk und geht ausführlich auf Pestalozzis Werk „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ ein. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Münchenbuchsee findet das Erziehungsinstitut 1805 in Yverdon seinen endgültigen Standort.
Als Blochmann 1809 in das Erziehungsinstitut eintritt, findet er bereits den Kern der Krankheit, die später das Institut ruinieren sollte. Mit seinem Buch will Blochmann vor allem „Züge aus dem Bilde von Pestalozzi’s Persönlichkeit und Lebenswerke“ entwerfen (S. 69). Ausführlich schildert er die Person Pestalozzi und vor allem seine Einstellung, sich den Bedürftigen zuzuwenden. Immer wenn ein „Mächtiger“ nach Yverdon kam, suchte er diesen als Verbündeten zu gewinnen, um die Armen und Unglücklichen zu retten und sich allgemein für eine bessere Volksbildung einzusetzen. Zugleich beschreibt er Pestalozzis persönliche Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Demut. Während Blochmanns Anwesenheit in Yverdon entstanden u.a. die Werke „Über die Idee der Elementarbildung“ (1809) und „An die Unschuld, den Ernst und Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandes“ (1815) und Blochmann schildert Pestalozzis unermüdlichen Eifer, Besuchern das Eigentümliche und Wesentliche seiner Methode auseinanderzusetzen. Pestalozzi sei zwar der grosse Anreger, aber weniger der geduldige Erzieher gewesen. Neben den Strahlen seines hohen Geistes beschreibt Blochmann auch dessen Schattenseiten, Pestalozzi fehlten Ruhe und Besonnenheit, Umsicht und Vorsicht, und eine klare Sicht der Zustände und Personen in seinem Umfeld. Seine Regierungs- und Organisationsunfähigkeit sei eine der Ursachen für die traurigen Kämpfe und inneren Zerwürfnisse, nachdem sich das Institut aus dem engen und häuslichen Kreis in ein vielfach gegliedertes grösseres Institut entwickelt habe. Ausführlich geht Blochmann auf den Tod von Anna Pestalozzi am 12. Dezember 1815 ein und hat dazu ein längeres Gedicht abgefasst (S. 88-91).
Pestalozzi, Niederer und Schmid hätten in christlicher Liebe und Weisheit vereint aus Yverdon ein Musterbild der Erziehung machen können (S. 91), aber es sollte anders kommen. Während Niederer sich in einer jahrelangen Fehde mit Kritikern des Instituts verrannte und diesem damit Zeit und Kraft entzog, versuchte Schmid einem Raubvogel gleich, alles zu beherrschen. Nachdem Schmid 1810 das Institut verlassen hatte, kehrte er 1815 zurück, um die massiven ökonomischen Defizite des Instituts zu beheben. Pestalozzi schloss sich unverbrüchlich Schmid an und die Feindschaft zwischen Niederer und Schmid entwickelte sich zur Feindschaft zwischen Niederer und Pestalozzi. Als Blochmann zusammen mit 16 weiteren Lehrern an Pestalozzi eine Anklageschrift überreichte, um sich über das Leben im Institut unter dem selbst- und herrschsüchtigen Schmid zu beschweren, ergriff Pestalozzi Schmids Partei, nannte diesen seinen Schutzengel und Retter und sagte, er sähe lieber alle anderen gehen, als Schmids Einfluss zu beschränken. So verliess Blochmann 1816 zusammen mit weiteren Lehrern das Institut. Während Krüsi danach vergeblich zu vermitteln suchte, eskalierte der Streit zwischen Niederer und Schmid weiter. An Pfingsten 1817 trennte sich Niederer öffentlich im Konfirmationsgottesdienst von Pestalozzi, überhäufte diesen mit Vorwürfen und Beleidigungen, so dass Pestalozzi empört den Gottesdienst verliess. Danach entbrannte ein jahrelanger auch öffentlich ausgetragener Rechtsstreit um gegenseitige Geldforderungen und alle Bemühungen Pestalozzis, den Streit beizulegen, blieben erfolglos.
Blochmann entwirft in seiner Veröffentlichung auch kurze Lebensskizzen einzelner Lehrer, mit denen er in Yverdon zusammen war: von Muralt, Göldi, Lenzinger, D. Steiner, Theodor Schacht, Heinrich Ackermann, Karl von Raumer, Karl Ritter, Henning, Dreist, Kawerau, Kieser, Collmann, Krüger und Stern und macht darüber hinaus Zahlenangaben: Bei seinem Eintritt in die Anstalt waren es 160 Zöglinge, 15 Lehrer und 32 Erwachsene, die die Methode studierten. Als bedrückend schildert Blochmann die düsteren, beengten und nur notdürftig eingerichteten Räumlichkeiten des Schlosses und das Fehlen jeglicher individuellen Räume für Schüler und Lehrer, letztlich fehlte völlig die von Pestalozzi als idealen Mittelpunkt gedeihlicher Jugendbildung beschriebene „Wohnstube“. Einen Ausgleich boten allerdings die das Schloss umgebende Natur und die Wiesen, die das Südende des Neuenburger Sees begrenzten und als Spielplätze dienten, sowie der zum Baden und Schwimmen einladende See. Ausflüge und Wanderungen führten in die nähere Umgebung, ins Berner Oberland, bis zum Genfer See und ins Wallis. Als Nachteil sieht Blochmann die Mischung von deutschen und französischen Schülern, fast der gesamte Unterricht musste in zwei Sprachen erfolgen. Den Unterricht schildert Blochmann als recht chaotisch, jeder Lehrer ging seinen eigenen Weg, es gab keinen Austausch zwischen den Lehrern und keine Kontrolle seitens Pestalozzi. Pestalozzi selbst war nicht von Eitelkeit und Ehrgeiz beherrscht, aber er förderte bei vielen den Wahn von einer ungeheuren Kraft und kündigte öffentlich Dinge an, zu denen das Institut weder Kraft noch Mittel hatte, sie zu verwirklichen.
Im Kapitel „Seine letzten Lebensjahre“ (S. 122-134) beschreibt Blochmann zuerst den Verdienst Schmids bei der Herausgabe von Pestalozzis Sämtlichen Schriften im renommierten Cotta-Verlag in Stuttgart und Tübingen, der zu dem grossen Betrag von 50.000 französischen Franken führte. Pestalozzi setzte diesen Betrag ein, um in Clindy eine Armenanstalt zu gründen, und Blochmann zitiert ausführlich Pestalozzis Rede zu deren Errichtung (S. 124-128). Als Pestalozzi diese Armenanstalt mit dem Institut in Yverdon zusammenführte, ging mit der Mischung der armen Kinder aus der Armenanstalt mit den besser gestellten Kindern des Instituts in Yverdon das „Gepräge einer ächten Armenanstalt bald ganz verloren“ (S. 129). In dieser Zeit dauerte der Streit mit Niederer unverändert fort und Blochmann erscheint es unbegreiflich, dass Niederer sich den eindringlichen Bitten Pestalozzis um Versöhnung widersetzte. 1825 löste Pestalozzi das Erziehungsinstitut in Yverdon auf, nachdem er sah, dass sich die Erwartungen, die er in die Einrichtung einer Armenanstalt gerichtet hatte, nicht zu erfüllen waren. Er kehrte auf den Neuhof zurück, immer noch voll massloser Überschätzung von Schmids Wirken, aber in Demut sieht er zuerst sich selbst und seine Schwächen als Ursache des Misslingens seines Werks. Auf dem Neuhof wollte Pestalozzi nochmals ein Armenhaus bauen, aber er starb vor Vollendung des Neubaus.
Die Darstellung Blochmanns endet mit einem eigenständigen Aufsatz „Ueber das Eigenthümliche der Pestalozzischen Methode und ihren Einfluss auf die deutsche Volksschule“ (S. 135-180). Nach Blochmann ist Pestalozzis Lebenswerk auf die Rettung des armen und verachteten Volkes gerichtet und nur Erziehung kann dieser Situation abhelfen. Im häuslichen Leben in der Wohnstube sieht Pestalozzi das einzige Mittel zur Menschenbildung, dies wird zum Mittelpunkt seiner Methode. In vier Stadien entwickelt Blochmann die Merkmale der Methode: Das erste Stadium ist Einfachheit und Einheit. In Stans wird dies Pestalozzi bewusst, er will „die Segnungen der Wohnstube zu Segnungen seiner Schulstube (zu) machen“ (S. 139, gesperrt im Original). Erziehung solle Hand bieten, damit sich die menschlichen Anlagen und Kräfte entwickeln können, so entsteht die Idee der Elementarbildung. Nicht die willkürliche Bestimmung des Kindes steht dabei im Mittelpunkt, sondern die Hochschätzung der Individualität. Das zweite Stadium der Methode entwickelt sich in Burgdorf und setzt sich in Yverdon fort, Erziehung geht in Unterricht über. Um dem Lernen von anschauungslosen Wörtern und Begriffen vorzubeugen, muss der Unterricht auf Anschauung bauen. Die Anschauung muss zum Fundament aller Erkenntnis werden, wobei Anschauung nicht nur die sinnliche Wahrnehmung meint, sondern auch die Wahrnehmung alles Empfindens und Erlebens. Als Mittel der Elementarbildung werden Zahl, Form und Laut herausgestellt. Aber die Erfolge dieser Form der Elementarbildung blendete in ihrer Einseitigkeit viele Lehrer und Erzieher. Später betont Pestalozzi, dass nur eine umfassende naturgemässe Erziehung als Methode bezeichnet werden dürfe und nicht allein eine intellektuelle Elementarbildung. Vernachlässigt habe Pestalozzi in dieser Zeit die anderen Bildungsmittel, die ästhetische, die sittliche und die religiöse Bildung. Der Bezug auf die Elementarmittel Zahl, Form und Laut habe zu einem Mechanisieren des Unterrichts geführt, auch das von Krüsi und Pestalozzi erarbeitete „Buch der Mütter“ widerspricht in Teilen Pestalozzis Einstellungen. Der Grundsatz der Methode, zuerst die Anschauung, dann die Definition, zuerst die Fertigkeit, dann die Regel, zuerst die Sacherkenntnis, dann die Regel, werde in den Elementarbüchern nicht durchgehalten. Das dritte Stadium der Methode beginnt, als Niederer versucht aus ihr das Ideal der Menschenbildung zu entwickeln. Niederer wollte Pestalozzis Idee zu einem die gesamte Erziehung umfassenden System weiterentwickeln, aber damit verfälschte er gleichzeitig Pestalozzis Idee der Elementarbildung. Die weitgehend von Niederer bearbeitete „Lenzburger Rede“ über die Idee der Elementarbildung hat Pestalozzi später selbst überarbeitet, denn Niederer habe ein verkehrtes Bild der Methode entwickelt.
Im vierten Stadium der Methode geht Blochmann auf die Einführung, Bearbeitung und Vervollkommnung der Methode in deutschen Volksschulen ein. Besonders die Wirksamkeit der preussischen Eleven habe nach ihrem dreijährigen Aufenthalt in Yverdon und später als Lehrer und Direktoren von Schulen und Schullehrerseminaren bei der Verbesserung der elementaren und naturgemässen Bildungsmittel die deutschen Volksschulen durchgreifend verändert. Die reine Nachahmung der Elementarübungen in Zahlen-, Formen- und Lautlehre sieht Blochmann dagegen als einseitige Verirrung. Blochmann geht allerdings weniger auf Alternativen ein, sondern verfällt in einen Diskurs zum christlichen Glauben und Pestalozzis Einstellung zu diesem. Pestalozzi rede wie Rousseau nur vom reinen Herzen der Kinder und verkenne dabei die Keime zur Sünde in deren Anlagen, dies sei sein Grundirrtum. Auch bei Pestalozzis Vorstellung der „Wohnstube“ fehle die christliche Grundlegung. Pestalozzi sei ein mächtig anregender Schweizer gewesen, aber der deutsche Volksschullehrer dürfe dabei nicht „götzendienerisch“ den Lehren eines menschlichen Lehrers folgen, sondern allein einer christlichen Erziehungslehre, die sich aus dem Lehr- und Lebensbild Christi ableite (S. 179).
Dem Buch vorangestellt ist ein Portrait Pestalozzis Anmerkung und weitere Lithographien sind angefügt: Pestalozzis Geburtshaus in Zürich, Stans, Burgdorf, Yverdon und das Schulhaus in Birr mit Pestalozzis Grab. Das Buch von 1846 ist antiquarisch schwer zu erreichen, es liegt aber ein Nachdruck vor, der sich auf einen Nachdruck von 1897 bezieht. Auch ein Volltext des Buchs ist im Internet zu finden, er bezieht sich ebenfalls auf den nicht seitengleichen Nachdruck von 1897.
Der Wert des Buchs von Karl Justus Blochmann (1786-1855) liegt in der Authentizität seiner Aussagen zu Pestalozzis Erziehungsinstitut in Yverdon. Von 1809 bis 1816 war Blochmann dort Lehrer für Religion, Geographie und deutsche Sprache, hatte enge persönliche Beziehungen zu vielen der dort tätigen Lehrern und beschreibt sehr anschaulich die beengten Verhältnisse im Schloss. In der Auseinandersetzung zwischen Schmid und Niederer und in Pestalozzis fehlendem Geschick bei der Leitung des Instituts, sieht Blochmann den Grund für den zunehmenden Zerfall und dessen Auflösung 1825. Die Elementarmittel Zahl, Form und Laut spielen bei Blochmann nur eine untergeordnete Rolle, denn im Unterricht dominierte die Individualität der Unterrichtsabläufe, die nicht organisiert oder kontrolliert waren. An Blochmanns Veröffentlichungen sind allerdings Abstriche zu machen, einmal seine virulente Deutschtümelei, aber noch stärker seine pietistisch ausgerichtete Frömmelei. Dies wird besonders deutlich, wenn Blochmann Pestalozzi unterstellt, dass dieser immer nur vom reinen Herzen der Kinder ausgehe, aber den Keim der Sünde in jedem Menschen verkenne.
Der 1786 geborene Blochmann hatte bereits vor seinem Aufenthalt in Yverdon Theologie studiert. Nach seinem Aufenthalt in Yverdon schloss Blochmann sein Theologiestudium ab und gründete in Dresden eine höhere private Bildungsanstalt, die sich 1828 mit dem Vitzthumschen Gymnasium vereinigte und sich zu einer deutschlandweit bekannten Bildungsanstalt entwickelte. 1851 übergab Blochmann die Direktion an seinen Schwiegersohn Georg Bezzenberger. Blochmann starb 1855 in Lancy bei Genf beim Besuch seiner Tochter Johanna, die in Lancy mit Carl Haccius verheiratet war, der dort ein Erziehungsinstitut aufgebaut hatte. Das Vitzthumsche Gymnasium wurde bei den Luftangriffen am 13./14. Februar 1945 völlig zerstört. Zur Erinnerung erhielt 1994 ein staatliches Gymnasium den Namen Vitzthum-Gymnasium.
(Gerhard Kuhlemann)