Meine getreue Schulthess. Aus dem heimlichen Briefwechsel zwischen Anna Schulthess und Heinrich Pestalozzi.
Johann Heinrich Pestalozzi
Hrsg. v. Dagmar Schifferli u. Brigitta Klaas Meilier. Zürich: Werd 1996. 224 S.
Diese Ausgabe ist in zweierlei Hinsicht ein Novum innerhalb der umfangreichen PestalozziLiteratur und der zahlreichen Werkausgaben: einmal sind die Brautbriefe hier erstmals als bearbeitete Einzelschrift ediert und zum andern richtet sich diese Ausgabe nicht an den überschaubaren Kreis der an Pestalozzi interessierten und auf Pestalozzi spezialisierten Wissenschaftler, sondern an ein historisch, biographisch und/oder literarisch interessiertes Publikum. Nicht das pädagogische Interesse an Pestalozzi, also die Brautbriefe als Dokumente der Genese seines pädagogischen, gesellschaftspolitischen oder sozialkritischen Denkens, bestimmt die Ausgabe, sondern die Dokumentation eines für die Schweiz seltenen Zeugnisses aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Brautbriefe sind Zeugnisse für die Liebe zweier Menschen gegen den massiven Widerstand der Brauteltern und gegen die Konventionen der Zürcher Gesellschaft und zugleich Zeugnisse für die Vorboten einer neuen Zeit, die bereits gefühlt und ausgedrückt wird, die ihre konkrete Sprache aber erst gegen Ende des Jahrhunderts mit und nach den Umwälzungen der Französischen Revolution von 1789 und der Helvetischen Revolution von 1798 finden sollte. Der Topos "Zeitalter der Empfindsamkeit" geht auf die deutsche Übersetzung des Romans "A Sentimental Journey Through France and Italy" von Laurence Sterne (1713-1768) zurück: "Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien" und kaum ein Brief bleibt ohne Gebrauch der Worte Empfindsamkeit, Empfindungen oder Formulierungen wie "ich empfinde", "was wir empfinden", "empfindsamen Dank", "empfindsamer Charakter", "Herzensempfindungen" usw.
Der Ausgabe liegt die Edition der Brautbriefe in der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe Pestalozzis (PSB 1 und PSB 2, 1946) zugrunde. Dort sind die Briefe, wie für eine historischkritische Ausgabe selbstverständlich, in ihrer Originalfassung zugänglich und durch einen umfassenden wissenschaftlichen Apparat erschlossen. Da der Briefwechsel in der wissenschaftlichen Edition der Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen dem heutigen Leser in seinem Gesamtumfang und in seiner ungewohnten Sprache kaum mehr zugänglich ist und bestenfalls als Schwärmerei des jungen Johann Heinrich Pestalozzi erscheint, wollen die Herausgeberinnen mit ihrer Bearbeitung den Briefwechsel lesbar erhalten. Hierzu wurden die Rechtschreibung und Zeichensetzung behutsam angepaßt (Rückkunft für Rükkomfft oder Rükonfft), die Dialektnähe der verwendeten Sprache gemildert ("Aber am Abend musst Du wieder zu mir kommen, wenn Du kannst. Morgen muss ich nach Höngg" für: "Aber z'Abig mußt wieder zu mer ko, wenn'd kast. Morn muß i gä Höngg", Nr. 48), damals gängige Begriffe in den heute richtigen Kontext gesetzt und versucht, die flüssige Lesbarkeit der Briefe mit einem nur sehr knappen Anmerkungsapparat zu erhalten. Die Ausgabe gliedert sich in drei Komplexe "Die erste gemeinsame Zeit in Zürich Mai bis September 1767" (S. 7-59), "Heinrich Pestalozzis Lehrzeit in Kirchberg September 1767 bis Mai 1768" (S. 61-112) und "Von der Rückkehr nach Zürich im Mai 1768 bis zur Heirat im September 1769 (S. 115-184) und beschränkt sich auf eine Auswahl von 98 der insgesamt 468 Briefe und erhöht die Lesbarkeit weiter durch Auslassungen innerhalb einzelner Briefe. Der Charakter eines Briefwechsels bleibt trotz der Beschränkung auf weniger als ein Viertel der Briefe erhalten, da diese ohnehin nicht exakt wechselseitig abgefaßt sind und sich nur wenig direkt aufeinander beziehen. Die Auslassung von Wiederholungen, Nebensächlichem und Abschweifendem verstärkt deutlich den Eindruck eines persönlichen Briefwechsels.
Die Ausgabe baut ganz auf der Spannung von heimlichen Liebesbriefen, in denen sich die Briefschreiber ihre gegenseitige Zuneigung wortreich versichern ("Ich umarme Dich 1 000 000 000 000 mal, obschon der Bart sticht", Nr. 47), heimliche Treffen verabreden, den Postgang der Briefe und ihre Überbringer besprechen und den strikten Widerstand der Eltern Schultheß erfahren und beschreiben (Nr. 44, 45). Nicht der pädagogische Schriftsteller spricht aus den Briefen, sondern der um landwirtschaftliche Kenntnisse bemühte Pestalozzi, der seine Zukunft und die Sicherheit seiner Zukunft in der Bewirtschaftung eines Landguts sieht und dabei träumerisch ein Bild seiner zukünftigen kinderreichen Familie malt:
"In zufriedener Stille gehen uns dann die Tage im Genuss ländlicher Freuden vorüber, und der Himmel segnet uns beide, und Kinder voll Unschuld und Güte werden bald, bald die Frucht unserer Liebe sein. Wie bald, wie bald sind die Jahre vorüber! Ich sehe sie schon, diese Kinder in Deinen Armen; ich sehe Dich sie an Deine Brust drücken und empfindungsvoll Gott danken. Ich sehe sie aufwachsen zu denkenden Jünglingen, in Ernst und voll Zufriedenheit, und zu schönen, lachenden Mädchen voll Unschuld, die Dir gleichen. Das sind die Hoffnungen der Zukunft, das ist das Glück unseres Lebens und die Freude des sterbenden Vaters, der sterbenden Mutter. Wie schlägt jetzt mein Herz, Nanetten, wenn ich dieses alles ganz und nahe denke, innig Geliebte". (Nr. 26, S. 79-80)
Das auch druckgraphisch sehr ansprechende Buch richtet sich nicht an die wissenschaftliche Öffentlichkeit und verfolgt nicht das Ziel, die Leser mit den pädagogischen Vorstellungen Pestalozzis bekannt zu machen, aber diese Ausgabe einer Auswahl aus den Braut und Liebesbriefen von Anna Schultheß und Johann Heinrich Pestalozzi beeindruckt als ein literarisches Zeugnis der Liebe und Emotionalität zweier Menschen in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts. Anmerkungen erklären Namen, Orte und einige heute nur noch schwer verständlicher Ausdrücke, die Autorinnen legen die Intention ihrer Ausgabe dar (S. 205-212), eine Konkordanz stellt die Briefnummern dieser Ausgabe in Relation zu den Briefnummern in der Kritischen Briefausgabe (PSB) und eine Zeittafel zum Leben von Anna und Johann Heinrich Pestalozzi beschließt die Veröffentlichung.