Kritische Gesamtausgabe der Briefe (PSB)

Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Pestalozzianum Zürich und der Zentralbibliothek Zürich. 13 Bde., Zürich 1946-1971. Bd. 14: Nachtragsband, Zürich 1995 (PSB 1-14).

Details

Die 13 in den Jahren 1946-1971 nacheinander von Band 1 bis 13 erschienenen Bände weisen ein in sich geschlossenes editorisches Erscheinungsbild auf, was sich aus ihrer zusammenhängenden Edition unter dem Bearbeiter Emanuel Dejung erklärt. Nur bei den ersten fünf Bänden waren zusätzlich Hans Stettbacher und Walter Feilchenfeld Fales als Bearbeiter beteiligt. Die Herausgeberschaft der Briefreihe lag beim Pestalozzianum Zürich und der Zentralbibliothek Zürich, den Besitzern eines Großteils des handschriftlichen Quellenmaterials. Insgesamt sind in den Bänden 1-13 6.252 Briefe Pestalozzis aus den Jahren 1767-1827 publiziert, wobei die Brautbriefe, also die Briefe zwischen Pestalozzi und seiner späteren Frau Anna Schultheß aus den Jahren 1767-1769, insgesamt 468 Stück, eine besondere Stellung einnehmen: zum einen stehen die Brautbriefe außerhalb der ansonsten strikt eingehaltenen Chronologie der Briefwiedergabe und zum andern sind die Brautbriefe als ganzes veröffentlicht, also sowohl die Briefe Pestalozzis an Anna Schultheß als auch die Briefe von Anna Schultheß an Pestalozzi. Denn grundsätzlich sind in der Briefreihe nur die Briefe Pestalozzis, nicht aber die Briefe an Pestalozzi enthalten. Selbst ohne die Brautbriefe bleiben noch 5.784 chronologisch veröffentlichte Briefdokumente, wobei der zahlenmäßige Schwerpunkt vor allem auf Pestalozzis Zeit in Burgdorf und Yverdon liegt, während aus den Jahren vor 1800 deutlich weniger Dokumente erhalten sind.

In der Briefedition werden die fortlaufend von 1 bis 6.252 durchnumerierten Briefe möglichst in der Form geboten, in der sie den jeweiligen Empfängern zu Gesicht kamen. Zwar folgt die Textbehandlung konservativ den Vorlagen, macht aber zur besseren Lesbarkeit einige Zugeständnisse: die Interpunktion ist ebenso wie die Groß- und Kleinschreibung den gültigen Regeln angepaßt, die Schreibung von "noch, dann, wann, denn, wenn" tritt anstelle von "nach, dan, wan, den, wen" und sichere Kürzungen und falsche Endungen wie z.B. das häufig fehlende "s" des Genitivs sind ebenfalls stillschweigend berichtigt. In französischen Texten, die im Laufe der Jahre zunehmend an Bedeutung für die Briefausgabe gewinnen und in den letzten Bänden fast ein Drittel der Korrespondenz ausmachen, sind die Akzente entsprechend den geltenden Regeln gesetzt und die oft fehlenden r- und s-Laute zugefügt. Die Anrede wird stets groß geschrieben und bei jedem Brief wird in der ersten Zeile die Briefnummer, in der zweiten Zeile der Empfänger und in der dritten Zeile das Datum gesetzt, unabhängig vom Ort der Vorlage. Zusammenhängendes wird nicht getrennt und unterschiedliche Briefentwürfe und Fragmente von Briefen sind, soweit sie von den Bearbeitern als für eine wissenschaftliche Ausgabe von Bedeutung eingeschätzt wurden, entweder im Text selbst oder zumindest im text-kritischen Anhang wiedergegeben. Außer Briefen enthält die Briefausgabe auch Stammbuchblätter und ähnliche Äußerungen persönlicher Art, die nicht in der Werkausgabe unterzubringen waren. Während die Privatbriefe vollständig wiedergegeben werden, sind die Geschäftsbriefe der Institute in Burgdorf und Yverdon, die Pestalozzi oft ohne eigene Textbeigaben unterschrieben hat, wenigstens in Regesten beigefügt. Wie die Werkausgabe enthält die Briefreihe vier Anhänge: im ersten Anhang "Textkritik" wird die Art und die Herkunft des Dokuments berichtet, im zweiten Anhang "Sacherklärung" werden Erläuterungen geboten, die für das Verständnis des Inhalts unentbehrlich sind. In einzelnen Fällen werden hier auch Briefe an Pestalozzi im Wortlaut oder in Auszügen wiedergegeben. Im dritten Anhang "Spracherklärung" erfolgt die Erläuterung erklärungsbedürftiger Wörter (z.B. Cardifiol bzw. Carifiol für Blumenkohl) und im vierten Anhang "Namens- und Ortsregister" wird ein gemischtes Namens- und Ortsregister geboten. Alle Anhänge beziehen sich immer nur auf den betreffenden Band, wodurch es zwangsläufig zu zahlreichen Wiederholungen und Verweisen zwischen den einzelnen Bänden kommt. Ein Gesamtregister wird erst für die Zeit nach Abschluß der gesamten Werk- und Briefausgabe in Aussicht gestellt. Pestalozzis eigene Worte sind durchweg in Antiqua gesetzt, der Text der Bearbeiter in Fraktur und in den Anhängen sind bei kleinerer Schriftgröße Pestalozzis Worte ebenfalls in Antiqua und seine Textzusätze zusätzlich kursiv gesetzt. Die Briefreihe enthält zwar in den letzten drei Bänden jeweils ein Fotoblatt eingebunden mit der Wiedergabe von Pestalozzis Grab am Schulhaus in Birr (PSB 13) und zwei Portraitdarstellungen (PSB 11 und PSB 12), aber keine faksimilierten Abbildungen von Handschriften, die dem Leser die Eingriffe der Bearbeiter in den Text oder das Verhältnis der Entwurfsfassungen zum endgültigen Brieftext sichtbar machen könnten.

Der Nachtragsband der Briefreihe, Band 14, ist 1995 als erster von den drei Bänden der "Nach-Dejung-Ära" erschienen und zeigt mit seinen Anpassungen an die neuen Editionstheorien und -techniken ein grundlegend geändertes Erscheinungsbild. Zuerst fällt das geänderte Schriftbild auf: Computersatz in der angenehm zu lesenden BodoniSchrift tritt an die Stelle des Bleisatzes in Fraktur und Antiqua, aufrecht für Autor-Text, kursiv für Editor-Text, kleinerer Schriftgrad aufrecht für den nicht von Pestalozzis Hand stammenden Text und halbfett für spätere Zusätze oder Korrekturen in der Handschrift. Dann fallen die fünf teilweise mehrseitigen Faksimiles von Handschriften auf, mit deren Abdruck die Bearbeitung des Autor-Textes durch die Editoren und gleichzeitig die Bedeutung der editorischen Zeichen visualisiert wird. Allerdings muß man sich gründlich in die editorischen Hinweise und das Abkürzungsverzeichnis (S. XIII-XIX) einarbeiten, um die editorisch deutlich verbesserte Präsentation der Dokumente nutzen zu können. Die veränderte Editionstechnik hat die Editionsregeln nochmals kompliziert und oft ist damit auch eine Umkehr der alten Editionsregeln verbunden, so wird jetzt z.B. die Schreibung von dan, wan, den statt dann, wann, denn beibehalten und nur im Einzelfall bei Verständnisschwierigkeiten mittels eckiger Klammern ergänzt. Bei Pestalozzis Schreiberkürzeln werden bei Endungen die sicheren Ausschreibungen stillschweigend vorgenommen, unsichere in eckige Klammern gesetzt. Sichere Ausschreibungen von Abkürzungen mittels Punkt oder Doppelpunkt werden in eckige Klammern gesetzt und unsichere unterlassen. Beim Lesen der Dokumente ist deshalb der dem Band beigegebene Arbeitsschlüssel äußerst hilfreich, um ohne langes Suchen und Blättern sofort die Bedeutung der unterschiedlichen Schriften, der verschiedenen Zeugensiglen und der in der Edition verwendeten Zeichen und Abkürzungen nachlesen zu können. Allerdings sollte der Arbeitsschlüssel fest mit dem Band verbunden werden, da eine lose Beilage allzu leicht verlorengeht.

Band 14 enthält insgesamt 208 erstmals wiedergegebene Briefe und briefähnliche Dokumente, die jeweils durch ihre Nummer und hinzugesetzte kleine Buchstaben in die Chronologie der Gesamtausgabe eingeordnet werden. Der Nummer hinzugesetzte große Buchstaben bedeuten, daß es sich um einen Doppeldruck mit einer nennenswerten Textvariante handelt. Von den 208 Dokumenten stammen 95 von Pestalozzis Hand, 87 sind von fremder Hand geschrieben, aber von Pestalozzi unterzeichnet und können überwiegend als autorisiert gelten, da sie gelaufene Briefe darstellen, 11 folgen posthumen Drucken, von denen 10 nachweislich dem Brieforiginal folgen, und 15 Dokumente sind teils posthume Abschriften mit einem unsicheren Autorisierungsgrad. Unter den 208 Dokumenten, von denen 42 in französischer Sprache abgefaßt sind, sind 137 eigentliche Briefe, 29 Quittungen, 5 Abrechnungen, 9 Zeugnisse, 8 Verträge, 6 Stammbucheinträge, 4 Nachschriften, 4 Gedenkblätter, 3 Gemeinschaftsbriefe und je ein Zahlungsmandat, eine Einladung und eine Gesprächsaufzeichnung mit einem wiedergegebenen Gesprächsanteil Pestalozzis. In einzelnen Fällen gehören Briefe und Abrechnungen zusammen, bzw. ist die Abrechnung zugleich die Anlage eines Briefes. Abrechnungen und Quittungen sind, da sie Einblicke in die soziokulturellen Zusammenhänge eröffnen können, anders als in den Bänden 1-13, wegen ihres sozialhistorischen Interessen nunmehr vollständig wiedergegeben. Insgesamt führen die Dokumente zu 41 neuen Adressaten von Briefen.

Die Dokumente des Nachtragsbandes geben zum Teil neue Aufschlüsse zu bekannten Sachverhalten. Aus den drei Briefen an den Leípziger Verleger Georg Joachim Göschen ergibt sich beispielsweise, daß Pestalozzi 1792 an die Bearbeitung der Reformationsgeschichte in einem Kalender für Damen dachte (Nr. 695 b, S. 27) und Pestalozzi an Göschen ein Manuskript zur Drucklegung gesandt hatte (Nr. 708 a, S. 28). Beide Vorhaben kamen nicht zustande. Friedrich Schiller riet von Pestalozzi als Autor einer Reformationsgeschichte ab und argumentierte weiter, daß eine Reformationsgeschichte in einem Kalender für Damen ohnehin keine Interesse finden könne und der Druck der an Göschen gesandten Manuskripte, vermutlich eine frühe Fassung von "Ja oder Nein?", erfolgte nicht (vgl. die Sacherklärung zu beiden Briefen, S. 346-348). Zwei Briefe an den Aarauer Verleger Heinrich Remigius Sauerländer (Nr. 4866 a und 4884 a, S. 184-186) bringen zusammen mit der zugehörigen Sacherklärung (S. 406-411) neue Erkenntnisse zum gescheiterten Wiedervereinigungsversuch zwischen Fellenberg und Pestalozzi im Jahr 1817 und zu den gegenseitigen Einschätzungen von Fellenberg, Pestalozzi und Schmid.

Im Nachtragsband hat - u.a. als Folge der veränderten editorischen Technik - der Anhangteil deutlich an Umfang zugenommen, die veröffentlichten Dokumente (S. 1-223) und die Anhänge halten sich dabei in etwa die Waage (S. 247-471). Dazwischen wird eine Zusammenstellung von 297 aus anderen Dokumenten erschlossenen Briefen gegeben, die bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Bandes nicht aufzufinden waren (S. 225-246). Die einzelnen Anhangteile behalten zwar ihre grundsätzliche Struktur "Textkritik", "Sacherklärung", "Worterklärung" und "Namens- und Ortsregister" bei, wegen der veränderten editorischen Präsentation und des geänderten Textcharakters in den Anhangteilen, sind die vier Anhangteile aber jeweils mit einer erläuternden Einleitung versehen, sind teilweise zutreffender benannt ("Überlieferung und Textkritik" anstatt "Textkritik" und "Namens-, Werk- und Ortsregister" anstatt "Namens- und Ortsregister") und enthalten getrennt weitere Auflistungen. Im Anhang I ist dies eine Liste der Briefeigentümer (S. 251-252) und eine Konkordanz der Briefnummern mit den Nummern bei Israel (S. 252), in Anhang III ist es zur Erleichterung des Lesens eine Zusammenstellung häufiger graphematischer und grammatikalischer Besonderheiten und in Anhang IV ein Register der Briefempfänger, einschl. der Empfänger der erschlossenen Briefe. Für Einträge in die einzelnen Anhangteile wurden präzise Regeln festgelegt: Einträge und Erklärungen beziehen sich nur auf den Autor-Text dieses Bandes und als Norm erklärungsbedürftiger Abweichungen und begrifflichen Bedeutungswandels gilt das sechsbändige "Große Wörterbuch der deutschen Sprache" (Mannheim 1976-1981) als verbindlich. Ganz allgemein wird Pestalozzis Sprache in diesen Briefdokumenten als eine Mischung zwischen oberdeutsch gefärbter Regionalsprache und standardisierter Schriftsprache gekennzeichnet.

Mit dem Abschluß der Briefausgabe sind nun insgesamt 6.460 Briefe und briefähnliche Dokumente veröffentlicht und weitere 297 Briefe aus anderen Dokumenten erschlossen. Noch bis in die Bearbeitungszeit des Nachtragsbands hinein wurden neue Briefdokumente aufgefunden und es wird durch die Bearbeiter die Hoffnung auf weitere Brieffunde geäußert. Pestalozzi hat in den ca 60 Lebensjahren, in denen er Briefe schrieb, sicher unzählige weitere Briefe geschrieben, die heute als verloren gelten müssen. Außer den erschlossenen Briefen aus der Liste des Nachtragsbands gibt es dafür weitere Hinweise: es fehlen zahlreiche Familienbriefe Pestalozzis, sowohl an seinen Sohn Hans Jacob und seinen Enkel Gottlieb als auch an seine Ehefrau Anna, von der er oft längere Zeitabschnitte getrennt war. Auch haben Briefempfänger die Briefe nicht bewahrt, z.T. auch bewußt vernichtet. So berichtet z.B. Jean Rodolphe von Salis nicht nur von den guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Pestalozzis Neuhof und dem benachbarten Schloß Brunegg, sondern auch vom Verlust der Briefe Pestalozzis an seine Ururgroßmutter Luise Hünerwadel. "Leider hat meine Ururgrossmutter Luise Hünerwadel die Briefe, die sie von Pestalozzi erhalten hatte, vernichtet, mit der für uns heute altmodisch klingenden Begründung, dass es niemanden etwas angehe, was ihr Pestalozzi geschrieben habe!" (Salis, Jean Rodolphe von: Beziehungen zu Schloss Brunegg. In: Neuhof. 75 Jahre Schweizerisches Pestalozziheim Neuhof 1914-1989. Hrsg. von der Stiftung Schweizerisches Pestalozziheim Birr. [Birr, 1989], S. 8.)