Heinrich Pestalozzi und Anna Schulthess
Angefangen hat Pestalozzis Liebe zur bereits 29jährigen Anna Schulthess beim Tode ihres gemeinsamen Freundes Johann Kaspar Bluntschli, genannt Menalk, der mit 23 Jahren einem Lungenleiden erlag. In Menalk, der sich schon jung mit dem Tode anfreunden musste, hatte eine grosse Seele gelebt, er war erfüllt von hohen Idealen und hatte seine Freunde im Kreise der Patrioten durch seine Ruhe und seine edle Gesinnung zur Tugend und zur ernsthaften Arbeit an sich selbst ermutigt. Der Einfluss Menalks auf Pestalozzi kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn er bestärkte ihn in den Entschluss, sich vollkommen für die Verbesserung der sozialen und politischen Zustände einzusetzen, auch auf die Gefahr seines eigenen Lebens hin. Menalk war auch trotz seiner Jugend der Seelenfreund Annas und weit entfernt von einem Anspruch, ihr Liebhaber sein zu wollen. Das war ganz nach dem Sinne Annas, die es gewohnt war, angebetet und umschwärmt zu werden, und der in ihrer vornehmen Zurückhaltung und in ihrer Angst vor einer Erschütterung durch die Leidenschaft der Liebe allmählich der Lebensfrühling zerrann. Der Tod ihres Freundes griff ihr tief ans Herz, und Pestalozzi fühlte sich ihr in diesem Schmerz verbunden. Er verfasste für Anna eine intime Gedenkschrift über ihren gemeinsamen Freund, was ihm den Anlass zu einem kurzen Briefwechsel gab. Aber ganz unversehens weckte die gemeinsame Trauer über den Verlust des gemeinsamen Freundes in Pestalozzi die Liebesleidenschaft, die ihn mit der Gewalt eines Vulkans zu verschlingen drohte.
Anna Schulthess war die einzige Tochter (sie hatte noch 5 Brüder, weitere 4 Geschwister starben in der frühen Kindheit) eines reichen und angesehenen Zürcher Kaufmanns und Zuckerbäckers. Dieser stand stark unter dem Einfluss seiner Frau, einer herrischen, stolzen und gefühlskalten Person. Die Schulthess gehörten zu den Einflussreichen, Begüterten und Massgebenden der Stadt und wollten nicht zum einfachen Volk gezählt werden. Die Söhne und die Tochter hatten streng zu gehorchen und wurden bei Widersetzlichkeit entweder aus dem Hause verwiesen oder bestraft. Anna wurde noch mit 30 Jahren von ihren Eltern geschlagen. Sie betrachtete eine solche Form des Gehorsams als Ausdruck eines gottgefälligen Lebens und hätte darum unter keinen Umständen in eine Ehe ohne den elterlichen Segen eingewilligt.
Anna war 8 Jahre älter als Pestalozzi, eine bekannte Stadtschönheit, daran gewöhnt, immer genug Geld zu haben, sehr intelligent und gebildet, fromm, feinsinnig und empfindsam, einerseits eher kühl und Distanz gebietend, andererseits ebenso wie Pestalozzi zum Zorn neigend. Pestalozzi war körperlich unansehnlich, in mancher Hinsicht unbeholfen, erfüllt von hochfliegenden Plänen zur Verbesserung der Welt, arm und Sohn einer Witwe, deren Geschlecht in der Stadt nichts zu sagen hatte. Das konnte eigentlich nicht gut gehen und ist auch übers Ganze gesehen nicht immer gut gegangen. Auch aus der Sicht Annas bestand zwischen ihr und Pestalozzi ein klarer Standesunterschied, weshalb sie, als es zu den ersten Kontakten mit Pestalozzi kam, ihren Eltern diese Liebschaft vorerst verheimlichte und auch ihrem Geliebten verbot, irgend jemandem, nicht einmal seiner eigenen Mutter, etwas davon zu sagen. Als die Eltern Schulthess von Pestalozzis Absichten erfuhren, warfen sie ihn aus dem Haus und verschlossen ihm hinfort die Türe.
So blieb denn den beiden nicht viel anderes übrig, als sich täglich oder wöchentlich zu schreiben. Aus der Zeit zwischen Frühjahr 1767 und der Heirat im September 1769 sind heute noch 468 Briefe erhalten, die über 650 Buchseiten füllen. Die leidenschaftliche Liebe Pestalozzis zu Anna, ihr anfängliches Widerstreben und ihr allmähliches, eher kühles Entgegenkommen, dann der Durchbruch ihrer Liebesleidenschaft, das Aufblühen einer beiderseitigen Zuneigung voller Poesie, Humor und Zärtlichkeit, dann auch ihr Ringen um Wahrheit und Tugend und ihr Kampf für ihre Liebe gegen die reichen Eltern Schulthess mit allen Demütigungen und Verletzungen, all dies kann keinen unberührt lassen, der diese Briefe liest. Sie offenbaren auf eindrücklichste Weise Pestalozzis reiches Innenleben, seine Hochherzigkeit, seine Sorge um die eigene Tugend, aber auch sein Wissen um seine höhere Berufung für das Volk. Dabei überrascht den heutigen Leser immer wieder, daß die nach Tugend strebenden Menschen die Erschütterung ihrer Seelenruhe durch die Liebesleidenschaft als eine Gefahr betrachteten, die es vorerst zu vermeiden, dann zu besiegen galt. Hören wir ein wenig in einen der ersten Briefe hinein, die damals nicht für die ganze Welt, sondern nur für einen einzigen Menschen bestimmt waren:
"Mademoiselle! Ich suche vergeblich meine Ruhe wieder. Ich sehe es, meine Hoffnungen sind verloren. Ich werde die Strafe meiner Unbedachtsamkeit mit einem ewigen Kummer büssen. Ich habe es gewagt, Sie anzustaunen, mit Ihnen zu reden, Ihnen zu schreiben, Ihre eigenen Empfindungen zu denken, zu fühlen, Ihnen zu sagen. Ich sollte die Schwäche meines Herzens gekannt und solche Gefahren ausgewichen haben, wo jede Hoffnung verschwindet. Was soll ich nun tun; soll ich schweigen und mit stillem Gram mein Herz verzehren und nicht reden und keine Hoffnung, keine Erleichterung meines Elends erwarten? Nein! ich will nicht schweigen, es wird Erleichterung für mich sein, wenn ich es weiss, daß ich nichts hoffen darf. Aber was hoffen? Nein! ich darf nichts hoffen! Sie haben Menalk gesehen, und ihm gleich muss der Mann sein, den Sie lieben können. Und ich! Wer bin ich? Welcher Abstand! Wie fühle ich schon den Todesstreich der grausamsten Worte, daß ich Menalk nicht gleich, daß ich Ihrer unwert (bin)! Ich weiss es; ich verdiene diese Antwort, ich werde sie erhalten; ich erwarte nichts anderes. ...
Den ganzen Tag gehe ich ohne Beschäftigung, ohne Arbeit, gedankenlos immer seufzend umher, suche Zerstreuung und finde sie nicht, nehme Ihren Brief, lese ihn, lese ihn wieder, träume, habe Hoffnung, habe dann wieder keine, betöre eine zärtlich ängstliche Mutter mit Erzählung von den Gründen einer Krankheit, die ich nicht kenne, fliehe den Umgang mit meinen Freunden, fliehe die Heiterkeit des Tags, sperre mich ins einsamste, dunkelste Zimmer, werfe mich auf das Bett hin, finde keinen Schlaf, keine Ruhe; ich verzehre mich selbst. Ich gedenke den ganzen Tag nur an Sie, an jedes Wort, das Sie redeten, an jeden Ort, da ich Sie sah. Ich habe alle Stärke, alle Beruhigung in mir selbst verloren und hänge ganz von Ihnen ab. O wie klein, wie verachtungswürdig muss ich mich Ihnen in dem Augenblick, da ich Ihre Hochachtung zu erlangen suche, zeigen. ...
Dreimal habe ich schon an Sie geschrieben, und dreimal den Brief wieder zerrissen; den will ich nicht mehr zerreissen. Ich halte es für meine Pflicht, jetzt zu reden, da ich nicht mehr anders als mit Gefahr meiner Gesundheit und meines moralischen Zustands schweigen könnte. Sie kennen mein Herz; Sie wissen, wie fern es von aller Verstellung (ist). Sie kennen meine Schüchternheit; Sie wissen gewiss, welche Überwindung es mich gekostet (hat), mich zu diesem Schritt zu entschliessen. Mehr will ich mich nicht entschuldigen.
Gütiger Himmel, stehe mir bei, mit Gelassenheit die wichtige Antwort zu erwarten. Und Sie, beste Schulthess! Eilen Sie, mich mir selbst wieder zu schenken. O Stunden, Augenblicke zwischen der Entscheidung! Mein Herz klopft; wie werde ich sie ertragen. Mein Glück, meine Ruhe, die Zukunft, ich, ich ganz, hänge von dieser Antwort ab. Eilen Sie, ich bitte Sie auf den Knien, zu antworten Ihrem P.!" (PSB 1, S. 6)
Pestalozzi liess diesen Brief Anna über ihren Bruder Kaspar überreichen, mit dem er befreundet war. Im Hause Schulthess bestand eine eigentliche Kluft zwischen den Kindern und den Eltern: Die Kinder hielten zusammen, und so haben auch später, als Pestalozzi seiner Geliebten seine Briefe über die Brüder zusteckte und diese auch gelegentlich ein Stelldichein zwischen Pestalozzi und der Schwester arrangierten, die Eltern niemals etwas von diesen Geheimnissen erfahren.
Anna antwortete vorerst nur kurz und sehr reserviert ("Wie unerwartet! ... wie erstaunend fremd kommt mir dies alles vor!" PSB 1, S. 9) und bekannte sich erst nach einiger Zeit zu ihren eigenen Liebesgefühlen. Diese unterschiedliche Ansprechbarkeit und Ergriffenheit des Gefühls ist bezeichnend für das Verhältnis der beiden zueinander insgesamt. Er: rasch ergriffen, mit Leib und Seele ganz in der Gegenwart, intensiv, wie ein Feuer sich verzehrend; und sie: zwar nicht gefühllos, so doch vorsichtig abwartend, sich bewahrend, klug abwägend. Eine Grundlage für ein unangefochtenes seelisches Glück, für dauerhafte Harmonie konnte das nicht sein, aber vielleicht hätte sich Pestalozzi von innen her verbrannt, hätten ihn nicht von aussen immer wieder kühlere Winde angeweht. Gewiss haben beiden oft in ihrem Leben unter diesem Gefühlsmissklang gelitten.
Als unter Pestalozzis Liebeswerben auch in Anna die Liebesleidenschaft erwachte, lieferte er sich nun bezeichnenderweise nicht den Stürmen der Liebe aus, sondern zog sich in die Einsamkeit zurück, um die Möglichkeiten seiner Zukunft in Ruhe zu erwägen. Vor allem beschäftigte ihn die Frage, wie sich seine Pläne eines öffentlichen Wirkens, das durchaus nicht ohne Gefahren sein konnte, mit der Verehelichung und der Gründung einer Familie vertragen könnte. Hier galt es, Prioritäten zu setzen und der Geliebten die Wahrheit zu sagen. Der sehr bedeutende und lange Bekenntnisbrief (PSB 1, S. 25 ff.), in dem Pestalozzi sich selbst und seiner Geliebten über seine Lebensaussichten Rechenschaft ablegte, gestattet einen tiefen Blick in die Seele des Einundzwanzigjährigen und vermag den Leser immer wieder wegen der Reife und der Bestimmtheit der Lebensbetrachtung zu ergreifen. Pestalozzis und Annas Briefe zeigen deutlich: Beide lieben in ihrem Partner die Tugend, beide wünschen, vom andern auf dem Weg der Tugend bestärkt zu werden, und beide sehen ihren Entschluss als einen Schritt, den sie aus innerster Wahrhaftigkeit des Herzens vor dem Antlitz des Schöpfers tun.
Die insgesamt 468 Briefe zwischen Pestalozzi und Anna Schulthess aus den Jahren 1767-69 füllen Band 1 und Band 2 der 14bändigen wissenschaftlich-kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Briefen. Eine Ausgabe mit einer behutsamen an die heutige Rechtschreibung und Zeichensetzung angepaßten Auswahl dieser Briefe ist unter dem Titel "Meine getreue Schulthess. Aus dem heimlichen Briefwechsel zwischen Anna Schulthess und Heinrich Pestalozzi" erschienen. Die Brautbriefe zwischen Ana Schulthess und Heinrich Pestalozzi werden darin als ein für die Schweiz seltenes literarisches Zeugnis aus der Zeit der Empfindsamkeit un die Mitte des 18 Jahrhunderts vorgestellt, die die Liebe zweier Menschen gegen den massiven Widerstand der Brauteltern und gegen die Konventionen der Zürcher Gesellschaft dokumentieren.
Nach langem Kampf mit Annas Eltern gelang es, vorerst den Vater Annas für die Verbindung der beiden zu gewinnen. Die Mutter leistete bis zum Schluss erbitterten Widerstand. Sie setzte es durch, daß die reiche Tochter nichts in die Ehe mitnehmen durfte als ihre Kleider und ihr Klavier. Pestalozzi durfte, entgegen dem allgemeinen Brauch, seine Braut bei der Verheiratung am 7. August 1769 nicht im Elternhause abholen, sondern Anna musste zu Fuss und allein in aller Stille des Morgens das Haus ihres Bräutigams selber aufsuchen. Der Kommentar der Mutter, angesichts der nicht mehr zu ändernden Situation, war kalt und nüchtern: "Ich wünsche, daß es Dir so gehe, wie Du hoffst; denn Du wirst nur auf Wasser und Brot eingeladen!" (PSB 2, S. 142). Die Hochzeitsfeier fand in engstem Kreise statt: Neben Pestalozzis Familie nahm daran nur ein Bruder der Braut teil. Die beiden nahmen Wohnsitz in Mülligen, einige Kilometer vom künftigen Neuhof entfernt.