Brief Pestalozzis an seine Braut Anna Schulthess - 1767
Quelle: Kritische Briefausgabe, Band 1, S. 25 ff.
Meine teure, einzige Freundin! Ich habe diese Tage über alles, was unter uns vorgegangen, ernsthaft zu überlegen angefangen. Teure, es ist Zeit, den Strom unserer Empfindungen zu hemmen. Es ist das ganze zukünftige Leben, es ist unser ganzes Glück, es sind die Pflichten gegen unser Vaterland und gegen unsere Nachkommen, es ist die Gefahr der Tugend selbst, Teure, die uns zu eilender Aufmerksamkeit auf uns selbst und zu der genauesten Untersuchung, was hierin weiter zu tun unser Glück und unsere Pflicht sei, auffordert. Wir wollen, Teure, hierin der einzigen richtigen Führerin der menschlichen Handlungen, der Wahrheit, gehorchen. Ach, dass mich, teure Freundin, die Empfindung meiner Wünsche und das zarte Gefühl der Liebe jetzt nicht davon ableite!
Ich will Ihnen, schätzbare Freundin, die Betrachtung, die ich in diesen feierlichen Tagen über diese Sache gemacht habe, mit aller Offenherzigkeit sagen. Ich bin so glücklich, dass ich zum voraus weiss, dass meine Freundin mehr wahre Liebe in der stillen Wahrheit dieser unser Glück so nahe angehenden Überlegungen finden werde als in dem Geräusch der angenehmen, aber oft gar nicht zu weisen Ergiessung meines fühlenden Herzens, die ich jetzt mit Mühe zurückhalte.
Freundin, vor allem muss ich Ihnen sagen, dass es mich wahrscheinlich dünkt, wir werden uns nicht auf die Art, wie wir es gehofft, können kennenlernen. Sie hatten die Gütigkeit, mir die Freundschaft Menalks und mit derselben einen freien Zugang zu Ihnen zu erlauben. Ich sehe aber, dass ich ohne Ihre und meine Gefahr mich dieser Erlaubnis nicht werde bedienen können. Ich bin schon zu oft und unvorsichtig zu Ihrem Bruder gekommen; ich sehe schon, dass es Pflicht wird, meine Besuche bei Ihnen jetzt einzuschränken. Menalk hat sich Ihnen notwendig gemacht, er war der Freund Ihres ganzen Hauses, und sein Dasein war durch die Länge der Zeit dem ganzen Haus so gewohnt, dass man nicht mehr darauf aufmerksam war. Ich hingegen bin nur als der Freund Ihres Bruders und als ein ziemlich neuer Freund desselben, auf den man vielleicht aus anderen Absichten acht hat, bekannt, ich bin in Ihrem ganzen Haus niemanden notwendig. Die Zeit, da ich mich noch in Zürich aufhalten werde, wird nicht mehr gar lange sein und noch durch viele Zwischenabwesenheiten unterbrochen werden; ich werde vermutlich in dieser Zeit kaum Anlässe finden, mich in Ihrem Haus angenehm, ich will nicht davon reden, notwendig zu machen, und das muss ich doch vorher sein, ehe ich nur daran denken darf, mit einiger Freiheit mit Ihnen reden zu dürfen. Neben dem muss ich Ihnen sagen: Ich habe nicht die geringste Fähigkeit, meine Empfindungen zu verleugnen; meine einzige Kunst in diesem Fall besteht darin, die zu fliehen, die sie beobachten. Teure, ich wäre nicht imstande, dafür gut zu stehen, dass ich einen halben Abend mit Ihnen in Gesellschaft sein könnte, ohne dass ein mittelmässig scharfsichtiger Beobachter mich unruhig erblicken sollte. Die Behutsamkeit, die aus so wichtigen Gründen notwendig ist, wird uns, Teure, die Anlässe, uns zu sehen und kennenzulernen, sehr verringern, und doch ist es nach den Schritten, die wir beide schon getan haben, sehr wichtig, dass wir uns bald recht von Grund aus kennenlernen; und ich glaube, dass es nicht die Sprache meiner Wünsche, sondern die Sprache einer ruhigen Überlegung sei, wenn ich sage, dass die gegenseitigen Untersuchungen hierüber jetzt, gerade jetzt, notwendig und dass der Aufschub davon in seinen Folgen gefährlich werden könnte.
Teure, wir kennen uns so weit, dass wir uns auf gegenseitige, gerade Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit verlassen dürfen. Ich schlage Ihnen einen Briefwechsel vor, darin wir uns mit der Freiheit mündlicher Gespräche über alles auslassen werden. Wir wollen uns einander auf alle Weise, ohne einige Verstellung zu erkennen geben, wir wollen einander frei über alles, was wir in dieser Absicht zu wissen wünschen, ohne Umschweife fragen und nur so zu antworten versprechen, wie Leute, die sich vernünftig lieben. Wir wollen ob unseren Empfindungen mit aller Behutsamkeit so lange wachen, bis wir mit uns selbst einig sind, ob es weise gehandelt und unser Glück sei, ihnen ihren ungestörten Lauf zu lassen, oder ob wir dieselben darin hemmen müssen.
Teuerste Freundin! Ich fange diesen Briefwechsel sogleich an. Ich redete eben von der Notwendigkeit, uns sobald als möglich kennenzulernen. Ich will, was ich selbst dazu beitragen kann, dass Sie mich recht bald kennen, alles tun; ich will Sie gerade jetzt mit der grössten Offenherzigkeit so tief in mein Herz hineinführen, als ich selbst hineindringe; ich will Ihnen meine Absichten in dem Licht meiner jetzigen und künftigen Umstände so heiter zeigen, als ich sie immer selbst sehe.
Teuerste Schulthess! Die von meinen Fehlern, so in den Situationen meines künftigen Lebens mir die wichtigsten scheinen, sind Unvorsichtigkeit, Unbehutsamkeit und Mangel an Gegenwart des Geistes bei einstmals entstehenden unerwarteten Veränderungen mich interessierender Umstände. Ich weiss nicht, wie weit diese Fehler durch meine Bemühungen, mit denen ich ihnen entgegenarbeiten, und durch mehr Erfahrungen und ein ruhiges Urteil über die Sachen, das durch die Erfahrungen und ein mehres Alter notwendig entsteht, sich verringern mögen. Jetzt sind sie noch in einem solchen Grad da, dass ich sie dem Mädchen, das ich liebe, nicht verhehlen darf. Es sind Fehler, meine Teure, die Ihre ganze Erwägung verdienen; sie könnten einst von sehr bedenklichen Folgen sein.
Ich habe noch verschiedene Fehler, die sich aus meiner dem Urteil des Verstandes sich oft nicht unterwerfenden Empfindlichkeit herleiten lassen. Ich schweife im Lob und Tadel, in Zuneigung und im Widerwillen sehr oft aus. Ich sehe die Fehler meiner Freunde fast gar nicht, ob ich gleich , wenn es unleugbar, dass sie gefehlt, nicht zu nachsichtig gegen sie bin. Ich bin gegen gewisse Güter so attachiert, dass mein Attachement dazu oft über die Schranken, die ihm die Vernunft setzt, hinausgeht. Ich liebe manche Güter wirklich zu sehr. Ich bin bei dem Unglück meines Vaterlands und meiner Freunde selbst unglücklich, wenn ich schon keine Schuld daran trage, und das ist doch nicht weise, es ist nicht Pflicht. Wir sollen bei allen Begegnissen, die wir nicht verhüten können, eine Vorsicht erkennen und stillschweigen und glauben, dass es das Beste sei, was hätte begegnen können. Ich bin noch sehr schwach hierin, meine geliebte Freundin, und diese Schwäche ist ebenfalls sehr Ihrer Aufmerksamkeit würdig. Sie sehen wohl, dass es Tage geben wird, wo die Heiterkeit und Ruhe meiner Seele unter dieser Schwäche leiden wird, sie wird mich in gewissen Tagen mir selbst ungleich machen. Ich glaube zwar nicht, dass ich es nicht so weit bringen werde, dass sie mich an der Ausübung meiner Pflichten hindern wird, aber kaum werde ich jemals gross genug sein, sie in solch widrigen Zufällen mit der Munterkeit und Ruhe des sich selbst immer gleich Weisen zu tun.
Von meiner grossen, wirklich sehr fehlerhaften Nachlässigkeit in allen Etiketten und überhaupt in allen Sachen, die an sich keine Wichtigkeit haben, muss ich nicht reden; man sieht sie in meinem ersten Anblick. Ich werde mir aber diesen Fehler in meiner Abwesenheit zu verbessern suchen. Doch warum rede ich jetzt von so etwas? (Das ist doch zu unwesentlich).
Es dünkt mich notwendig, um mich Ihnen vollkommen zu zeigen, ein paar Worte von meinen Grundsätzen in Absicht auf den Ehestand und die Auferziehung mit Ihnen zu reden. Freundin, Sie haben meine Gedanken in Absicht auf die Auferziehung gesehen, und es sind, teure Schulthess, wirklich die Grundsätze, von denen ich um kein Haar abzugehen entschlossen bin.
Meine Söhne sollen, ungeachtet der sorgfältigsten Bearbeitung ihres Verstandes, das Feld bauen, und von mir soll kein müssiggehender Stadtmann herstammen. Und in Absicht auf den Ehestand muss ich Ihnen das sagen, meine Teure, dass ich die Pflichten gegen meine geliebte Gattin den Pflichten gegen mein Vaterland für untergeordnet halte und dass ich, ungeachtet ich der zärtlichste Ehemann sein werde, es dennoch für meine Pflicht halte, unerbittlich gegen die Tränen meines Weibes zu sein, wenn sie jemals mich mit denselben von der geraden Erfüllung meiner Bürgerpflicht, was auch immer daraus entstehen möge, abhalten wollte. Mein Weib soll die Vertraute meines Herzens, die Teilhaberin meiner geheimsten Ratschläge und mit mir die einzige Auferzieherin meiner Kinder sein. Eine grosse, redliche Einfalt wird in meinem Haus herrschen, so gross, als die strengste Auferziehung meiner Kinder sie fordert. Die Bedürfnisse meines Hauses werden allgemein sehr eingeschränkt sein, und die Sorge für das Glück meiner Kinder wird mich auch gegen kleine Fehler meines Weibes unnachsichtig machen. Ich weiss es, beste Schulthess, Sie fordern dies selbst von dem Mann, den Sie lieben werden. Ich setze kein Misstrauen in Sie, dass Sie etwas hiervon missbilligen werden. Ich muss es Ihnen aber dennoch sagen, Teure, damit Sie mich ganz kennen, damit Sie auch hierin meine Absichten ganz wissen. Urteilen Sie selbst, meine teure Freundin, ob Sie mich denselben gewachsen glauben und ob es Ihr Glück sei, mit mir in dieselben einzutreten.
Es ist noch eine sehr wichtige Seite, Freundin, von der ich mich Ihnen zeigen muss. Nicht nur Sie, meine Teure, haben mir die Stelle Menalks übergeben, er selbst bat – in ganz verschiedenen Absichten – das Gleiche getan. Sie wissen, wie von weit aussehenden Entschlüssen Menalk voll war. Er hat einen Teil seiner Sorgen auf mich gelegt, und es ist meine Pflicht, dass ich dem Mädchen, das ich anflehe, an den Schicksalen meines Lebens teilzunehmen, mich von dieser Seite ganz zeige.
Teuerste Schulthess! Ohne wichtige, sehr bedenkliche Unternehmungen wird mein Leben nicht vorbeigehen. Ich werde die Lehren Menalks und meine ersten Entschlüsse, mich ganz dem Vaterland zu widmen, nicht vergessen; ich werde nie aus Menschenfurcht nicht reden, wenn ich sehe, dass der Vorteil meines Vaterlands mich reden heisst, ich werde meines Lebens, ich werde der Tränen meiner Gattin, ich werde meiner Kinder vergessen, um meinem Vaterland zu nützen. Menalk war gross, Teure, weit grösser als ich; ich zittere vor Angst, einst in seine Absichten einzutreten, und doch fordern es Tugend und Pflicht und mein Herz und mein Vaterland von mir. Ich werde gehorchen. Wie wenig bin ich aber solchen Unternehmungen gewachsen! Was für Folgen können sie über mich verhängen, und wie gross ist meine Pflicht, Ihnen die Möglichkeit der grössten Gefahren , die hieraus für mich entstehen könnten, zu zeigen.
Es sind zwar nur blosse Möglichkeiten; und ich weiss, dass Sie nicht zweifeln werden, dass ich für mein Glück, für die Ruhe meiner Gattin und für das Glück meiner Kinder mit der zärtlichsten Sorge wachen werde. Es kann auch sein, und es ist nicht gar unwahrscheinlich, dass die Aussichten von dieser Art sich ziemlich aufheitern werden, und selbst unsere Verbindung – die aber aus ganz anderen Gründen muss entschieden werden – könnte hierzu sehr vieles beitragen . Sie haben fünf Brüder, die alle auf einige Weise in diese Absichten eintreten werden. Die neuen Verbindungen, darin ein jeder von ihnen kommen wird, werden Ihre Verwandtschaft äusserst ausdehnen, und Sie wissen, wie vorteilhaft eine solche Ausdehnung der Verwandtschaft in bezug auf die Verminderung der Gefahr bei Unternehmungen von solcher Art und überhaupt auf die Durchsetzung jeder guten Absicht ist.
Doch ich schweige hiervon. Wir wollen die Sache nicht in diesem Gesichtspunkt ansehen. Ich will fortfahren, Ihnen jede Gefahr, die mir droht, und jeden Fehler, den ich an mir kenne, offenherzig zu entdecken. Teure Freundin, ich denke, dass Sie es noch ertragen könnten, wenn mir in einer Handlung, darin ich mir gar nichts vorzuwerfen hätte, ein Unglück begegnen sollte. Aber ich darf meiner Freundin nicht verhehlen, dass meine Unbehutsamkeit und meine wenige Gegenwart des Geistes mich fürchten macht, dass mir einst in dieser schwierigen Handlungssphäre Unfälle begegnen möchten, bei deren Erduldung ich nicht einmal den Trost, mich selbst rechtfertigen zu können, geniessen möchte. Wie glücklich werde ich sein, wenn der Gedanke des wirklich Guten, das mein Eifer gewiss auch stiften wird, bei Ihnen den Gedanken an diese Gefahren sehr schwächen möchte. Teure, ich werde mit Sorgfalt ob mir wachen, aber verschweigen darf ich Ihnen nichts, Freundin.
Untersuchen Sie, teure, geliebte Freundin, ob das Gute, so Sie durch Einwilligung in meine Absichten erlangen und stiften könnten, Ihrem Herzen ein Übergewicht gegen die Vorstellung der Gefahren, denen Sie sich dabei aussetzen, gebe. Teure, Sie sehen, wie viel ich Sie liebe. Ach, untersuchen Sie alles, Teure! Das, was ich Sie bei dieser Untersuchung oft zu bedenken bitte, ist dieses, meine Teure, dass die Gefahren vielleicht unsere Ruhe nie stören werden und dass das Bewusstsein vieler guter Handlungen uns auch in Gefahren ruhig und glücklich zu erhalten imstande ist. Auch an die Sorgfalt denken Sie, womit Ihr Freund ob den Fehlern, die er Ihnen selbst in ihrer ganzen Stärke gezeigt hat, wachen wird.
Der Zustand meiner Gesundheit ist ein neuer Punkt, meine Teure, der Ihre Aufmerksamkeit fordert. Ich kann Ihnen hierüber dieses sagen, Freundin, dass ich ihn nicht für beträchtlich schlimm halte. Es ist wahr, ich bin nicht ganz gesund, ich habe noch öfter fiebrige Anfälle; sie haben sich aber nebst den Zeichen ihrer Gefährlichkeit seit ein paar Jahren sehr verringert, und die blosse Gemütsruhe ist meistens genügsam, mich davor sicherzustellen. Ich habe mit Dr. Hotz sehr ernsthaft über die Umstände meiner Gesundheit geredet, er will nicht die geringste Gefahr darin finden. Bei alledem dünkt mich dennoch sehr wahrscheinlich, dass Sie mich weit überleben werden und ich verhehle Ihnen nicht einmal dieses. Meine Teure, ich weiss die ganze Wichtigkeit dieses Gedankens, ich habe ihn überlegt und Gründe zu meiner Beruhigung gefunden. Vielleicht sind sie auch Ihnen genügsam. Erwägen Sie dieselben ruhig. Wenn ich sterben werde, so werden sich meine Freunde um die Wette bestreben, meine Kinder völlig nach meinen Absichten zu bilden . Freundin! Sie sind bei jeder anderen Verbindung diesem mit ein wenig minderer Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, und kaum werden Sie in einer anderen Verbindung einen solchen Trostgrund auf diesen allemal möglichen Fall finden. Ich hingegen darf mich mit aller Sicherheit auf meine Freunde verlassen, und auf meinem Totenbett werde ich kaum gedenken, dass ich meinen Kindern mangeln werde, und auch Sie, meine Teure, werden, wenn wir uns die Hand geben sollten und ich stürbe, dann in meinen Freunden die Zärtlichkeit und alles Vermögen, so Ihnen mein Dasein zu geben imstande war, wiederfinden. Nie werden meine Kinder das Elend der Waisen fühlen, und auch meine Gattin wird nur, insofern ich ihr mangele, klagen, dass sie eine Witwe ist. Wie sehr belohnt der Höchste Redlichkeit und Güte schon hier, wie selig ist der Genuss solcher Freunde! Welche Opfer sind zu gross, sie zu erhalten? Welche Seligkeit ist es, sich so auf sie verlassen zu dürfen! Freundin! Ich bin in dem Antrag, den ich Ihnen tu, recht stolz auf die Vorteile, die Sie von meinen Freunden haben werden. Ich berechne diese Vorteile nach dem Massstab meiner Liebe zu denselben, sie werden aber wirklich recht gross sein, meine Teure! Wie viele unter meinen Freunden sind weiser, sind besser als ich! Wie werden unsere Kinder unter dem munteren Schwarm der Kinder dieser tugendhaften Jünglinge aufwachsen! Doch ich schweige hiervon und hemme die Empfindungen meines Herzens, da die Umstände ruhige Überlegung und behutsame Wachsamkeit fordern.
Meine liebe, meine teure Freundin! Ich habe jetzt offenherzig von meinem Charakter und von meinen wichtigen Umständen, darin ich kommen werde, geredet. Meine Freundin, denken Sie allem sehr nach; ich habe diese Fehler, die ich Ihnen gesagt habe, alle, und gewiss noch viel mehr. Wenn diese Züge, die zu sagen meine Pflicht war, Ihre Hochachtung gegen mich verringern, so werden Sie doch meine Aufrichtigkeit schätzen und es nicht unedel finden, dass ich den Mangel Ihrer Kenntnis meines Charakters nicht zur Erreichung meiner Absichten missbrauche. Überlegen Sie jetzt, Teure, ob Sie einem Menschen mit diesen Fehlern, einem Menschen in diesen Situationen Ihr Herz schenken und glücklich sein können. Sollten Sie, um darüber zu entscheiden, noch mehr zu wissen nötig haben, so dürfen Sie versichert sein, dass ich Ihnen auf jede Frage, die Sie an mich tun werden, mit der Aufrichtigkeit, die Sie in diesem Brief sehen, antworten werde.
Meine teure Freundin, ich liebe Sie von Herzen und mit so viel Empfindung, dass mich dieser Schritt, den Vernunft und Billigkeit von mir gefordert, recht viel gekostet. Ich fürchte, Sie, meine Teure, zu verlieren, wenn Sie mich so sehen, wie ich bin. Ich habe oft schweigen wollen, endlich habe ich mich überwunden. Mein Gewissen rief mir laut, dass ich ein Verführer und nicht ein Liebhaber sei, wenn ich meiner Geliebten einen Zug meines Herzens oder einen anderen Umstand, der sie einst beunruhigen und unglücklich machen könnte, verschweigen würde, und ich freue mich jetzt dieser Handlung, es mag daraus entstehen, was immer will. Wenn mein Herz, sowie es sich in seinem innersten Grund befindet, des Ihrigen nicht würdig ist, wenn die Umstände, darin Pflicht und Vaterland mich rufen werden, meinen Wünschen und meinen Hoffnungen ein Ziel setzen werden, so bin ich wenigstens nicht niederträchtig; ich bin nicht lasterhaft gewesen, ich habe Ihnen nicht in einer Larve zu gefallen gesucht, ich habe Sie nicht mit schimärischen Hoffnungen eines zu erwartenden Glückes betrogen, ich habe Ihnen keine Gefahr und keinen Kummer der Zukunft verschwiegen und ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Teure Freundin! Ich habe nicht nur über mich nachgedacht, ich habe mit eben der Sorgfalt meine Beobachtungen auch von Ihnen untersucht. Mein Verstand gibt meiner Leidenschaft Beifall. Ich kann glücklich mit Ihnen sein, wenn Sie es mit mir sein können. Sie sind zur besten Frau, zur besten Mutter geschaffen. Die Empfindlichkeit, die bei mir ein Grund so gefährlicher Fehler ist, ist bei Ihnen, meine Teure, wegen des Einfachen in den Umständen einer Hausmutter, Vollkommenheit. Ich finde mich auf allen Seiten, so ich es ansehe, äusserst glücklich, so Sie sich entschliessen können, mir Ihr Herz zu schenken und die Schicksale meines Lebens mit mir zu teilen. So sehr ich Sie aber liebe, so können Sie, Freundin, dessen gewiss sein, dass ich die Erwiderung Ihrer Liebe nur in dem Fall wünsche, wenn Sie mit völliger Sicherheit in meinen Armen glücklich zu sein sich getrauen.
Noch etwas, meine Teure! Ich habe mich als Ihren Liebhaber erklärt. Sie wissen meine Empfindlichkeit. Die Freundschaft, die Sie mir anbieten, wird die Empfindungen meiner Hoffnung unterhalten. Freundin! Sollte es notwendig sein, dass ich jemals diese Hoffnung aufgeben müsste, so kennen Sie mich genügsam, um einzusehen, was für gefährliche Folgen die Unterhaltung dieser Hoffnung auf mich haben könnte. Vergeben Sie, meine Teure, dass ich Ihnen das sage. Ich habe grosse Pflichten gegen mich selbst und gegen mein Vaterland, die diese Sorgfalt von mir fordern. Ich will nicht, Teure, und ich denke, Sie werden mir das zutrauen, dass Sie sich erklären, ehe Sie alles untersucht, ehe Sie vollkommen ruhig und mit sich selbst einig sind; ich werde auch Ihre Untersuchungen nicht im geringsten bestürmen. Nur um das flehe ich, meine Freundin, selbige so sehr als Ihnen möglich, zu beschleunigen. Sie wissen, meine Liebe, die Gefahren, lange genährte Leidenschaften zu unterdrücken. Teure, lassen Sie uns eilen zu entscheiden, was wir in dieser Absicht zu tun haben. Wenn Sie finden, meine einzige Freundin, dass ich wert bin, dass Sie mir Ihr Herz geben, so sagen Sie mir es bald, sobald es Ihnen Ihr Herz sagt. Wir werden uns dann ohne einige Gefahr jeder Vergnügung sich unschuldig Liebender überlassen dürfen. Ruhig und still wird unsere Leidenschaft ihren ungehemmten Lauf haben und unser Glück sein und uns keine Unruhe, keine Angst, keine Vorwürfe mehr machen. Sie wird uns sogar in Erfüllung unserer Pflichten aufmuntern. Wenn Ihnen aber Ihr Herz sagen sollte, dass Sie in der engsten Verbindung mit mir nicht glücklich sein werden, so sagen Sie mir dieses noch früher. Eilen Sie, denn – hier ist Gefahr. Entschlossen sagen Sie mir es in dem ersten Augenblick, da Ihr Herz Ihnen entschieden darüber redet.
Wissen Sie auch noch dieses, meine Teure! Ich habe über dieses fast von allen Seiten der Vernunft und der Seele und selbst der Liebe Waffen und Stärke gesucht, mich auch in diesem Fall vernünftig und christlich aufzuführen. Ich empfand die ganze Pflicht dazu und wünsche Ihr Glück so sehr, meine Teure, so sehr, dass ich hoffe, alles ertragen zu können.
Teure Schulthess! Wie lange ist es, dass wir uns nicht gesehen? Wie lange ist dieses erst: wie lange ist Menalk tot, wie lange haben wir eine Unterredung gewünscht? Sagen Sie mir doch bald, Teure, wenn ich Hoffnung haben könne, Sie zu sehen. Teure, könnten wir nicht auf abgeredeten, einsamen Spazierwegen uns treffen? Könnten wir vielleicht nicht im Wald bei Ihrem Landhaus uns Standplätze bestimmen, wo wir uns erwarteten? Sagen Sie mir auch dies: Darf ich noch oft zum Pflug kommen? Sagen Sie mir freimütig, wie habe ich mich hierin zu verhalten?
Noch etwas, meine teure Freundin! Meine bisherigen Beschäftigungen haben einen grossen Hang zu Zerstreuungen bei mir vorauszusetzen geschienen, und ich habe Ursache zu glauben, dass Sie mich selbst in diesem Stück sehr fehlerhaft glauben. Sie haben mir erst neulich zu dem zum Spazierengehen schönen Wetter gratuliert, Sie haben es mir mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass Sie glauben, dass ich mich ohne Absicht bei meinen Freunden zerstreue. Sie wissen den Vorwurf, den Sie mir einst in Gegenwart Menalks gemacht, dass ich gern herumlaufe. Ich war niemals gewohnt, mich mit Worten gegen Vorwürfe zu rechtfertigen, es war mir genug, sie gehört zu haben und bei mir selbst ruhig sein zu können. Es ist jetzt aber eine andere Zeit, wir müssen uns kennen. Die Offenherzigkeit, womit ich schon von meinen Fehlern geredet, wird Sie nicht besorgen lassen, dass ich hierin nicht die Wahrheit rede. Das ist wahr; dass ich bis auf einige Zeit sehr viel Bekanntschaft, sehr viel Umgang, sehr viel Zerstreuung gehabt habe; die Verschiedenheit und die Menge der Leute, mit denen ich umgegangen, und die Hitze, mit der ich jeden Anlass, Sie zu sehen, ergriffen, machten diesen Gedanken allgemein und fast notwendig. Ich versichere Sie aber, meine Teure, dass es nicht Hang zu Zerstreuungen, sondern Aussichten, nützlich zu sein, waren, die mich so handeln machten. Ich kenne, Teure, die Vergnügungen der Einsamkeit und häuslichen Stille. Ich hatte manche ekelvolle Stunde eben bei diesen Besuchen. Ich hatte aus Grundsätzen und aus Pflicht meine Zeit so angewandt. – Glauben Sie mir das, meine Teure, die Tage dieser weitläufigen Bekanntschaften sind nun wirklich vorüber. Teure, ich werde mich jetzt je länger je mehr einschränken, um mich selbst zu grösseren Unternehmungen zu bilden. Aber ich missbillige die Tage, die ich, die Jünglinge meines Vaterlands kennenzulernen, gebraucht, auch nicht. Diese Tage werden noch einst von sehr wichtigen Folgen auf mich sein. Ich hoffe, teure Schulthess, Sie halten mich über diesen Punkt gerechtfertigt. Teure, wie wünsche ich die Stelle Menalks zu erfüllen!
Teure, wie wünsche ich die Anlässe, Ihnen meinen Eifer zu zeigen, etwas, das Ihnen angenehm und nützlich sein könnte, zu tun. Aber wir werden uns so wenig, fürchte ich, sehen, dass ich Ihnen niemals Menalk sein werde. Seien Sie, Teure, in Ihren Briefen gegen mich so offenherzig, als Sie mündlich mit Menalk redeten. Sagen Sie mir alles, wo Sie immer mein Urteil oder meinen Eifer imstande zu sein glauben, Ihnen zu nützen. Wenn Sie mich nachlässig in Erfüllung eines Ihrer Wünsche finden, so strafen Sie mich.
Ich ende, meine Teure, diesen langen Brief. Ich sehe, da ich ihn wieder lese, dass er voll Unordnung und Mangelhaftigkeit ist. Ich habe über alles weit mehr gedacht, als ich Ihnen gesagt habe. Ich wurde im Schreiben des Briefes alle Augenblicke unterbrochen und musste die Minuten, allein zu sein, fast erstehlen. In diesen Umständen verschwanden die Gedanken unter der Feder. Es ist aber dennoch noch so viel darin, dass ich ihn Ihrer Aufmerksamkeit würdig halte, dass ich glaube, ich dürfe ihn Ihnen übergeben. Empfangen Sie ihn, meine teure, geliebte Freundin, und seien Sie immer glücklich! Werden Sie ihn auch lesen können? Mein Onkel , wenn er den Brief sähe, würde ihn eine Meineids–Sudlete heissen. Und ich, Teure, ich wage es, ihn meiner einzigen Freundin in die Hand zu geben! Es liegt auch hierin ein Zug meines Charakters. Ich habe aber eine Feder, deren Meineidsschnitt mich entschuldigen kann.
Noch einmal, leben Sie wohl, Teure, und schreiben Sie mir bald und lassen Sie mich Sie bald sehen!
Ihr P.