Neues Licht durch alte Briefe
Dieser «Gasthof zum Brunnen» gegenüber dem Schloss Fraubrunnen im Kanton Bern gehörte zwischen 1741 und 1979 der dort ansässigen Familie Marti. Johannes Marti (1768–1810) wollte seinem Sohn gleichen Namens (1796–1820) offensichtlich die bestmögliche Bildung gewährleisten, weshalb er ihn im damals täglich berühmter werdenden Institut Heinrich Pestalozzis in Yverdon bilden und erziehen liess.
Bisher wusste man nur wenig über diesen Knaben Johannes Marti. Er trat im Alter von zehn Jahren im Juni 1806 ins Institut ein und wurde von Pestalozzi gemäss der im Kopialbuch des Yverdoner Instituts überlieferten Abschrift eines Briefes an Vater Marti Anfang April 1809 mit grossem Bedauern wieder entlassen. Dabei äusserte Pestalozzi die Hoffnung, der Junge werde später noch für ein weiteres Jahr zurückkehren, was dann offensichtlich nicht geschah. Im Kopialbuch ist ferner eine Quartalsrechnung mit Begleitbrief an Vater Marti nachgewiesen. Schliesslich wird im Schlossmuseum Burgdorf ein Stammbuchblatt aus dem Jahre 1809 aufbewahrt, das Pestalozzi seinem Zögling vermutlich zum Abschied aus seinem Institut in Yverdon überreichte. Es entsprach dem damaligen Gebrauch, ein Stammbuch zu führen, eine Art Album, in das man sich von bedeutenden Persönlichkeiten oder bei besonderen Anlässen irgend etwas Sinnreiches schreiben liess.
Diese drei Dokumente waren bisher bekannt (siehe Pestalozzi, Sämtliche Briefe, Bd. 5, Nr. 1176 sowie Bd. 6, Nr. 1468 und 1515). Dass wir heute über diesen Johannes und seinen Aufenthalt in Yverdon sehr viel mehr wissen, verdanken wir Elisabeth Pfäffli-Marti, einer Ururenkelin von Johannes Marti, dem Vater des Pestalozzi-Zöglings. Sie verstarb 2007 und vermachte kurz vor ihrem Tod ein grösseres Briefkonvolut dem Schlossmuseum Burgdorf (d.h. dem dortigen Rittersaalverein). Dieses Konvolut besteht aus 14 Briefen von Pestalozzi an Johannes Marti Vater, 4 Briefen von Vater Marti an seinen Sohn sowie 3 Briefen von Sohn Marti an seinen Vater. Ferner finden sich in diesen Dokumenten Hinweise auf 7 weitere Schreiben, deren Spur einstweilen fehlt. Für die Pestalozzi-Forschung ist der neue Fund keine Kleinigkeit, er darf vielmehr als bedeutend bezeichnet werden.
Zahlen sprechen
Vorerst einmal erhalten wir durch diesen Fund eine Übersicht über die Kosten, die dem Vater eines Zöglings jeweils pro Quartal verrechnet wurden. Der Pensionspreis von 100 Franken wurde stets vorschüssig für das nächste Quartal in Rechnung gestellt, und hinzu kamen Auslagen für Schulmaterial, Spezial-Lektionen, Arzt und Zahnarzt, Kleidung und Schuhe, Unterhaltungsanlässe etc.
Im vorliegenden Briefkonvolut finden sich neun Rechnungen Pestalozzis an Vater Marti. Ausgestellt wurden allerdings deren elf, es fehlen also zwei, nämlich die erste und die siebente Quartalsrechnung. Wenn wir auch für diese beiden Quartale die durchschnittlichen Kosten einsetzen, hat Vater Marti für den 34 Monate dauernden Aufenthalt seines Sohnes in Yverdon rund 1’700 Livres oder Franken, also 50 Franken pro Monat, aufgewendet, das persönliche Taschengeld nicht eingerechnet. In der Buchhaltung des Instituts wurde folgendes Münzsystem verwendet:
1 Livre Suisse (L) = 1 Franken = 20 Sols = 240 Deniers = 10 Batzen
1 Sol (bzw. Sou) = 1 Halbbatzen = 12 Deniers = 2 Kreuzer
Die Buchhaltung wurde dreispaltig geführt gemäss Livre, Sols und Deniers.
Es fällt schwer, diese Beträge mit heutigem Geldwert zu vergleichen, denn ganz allgemein war damals Arbeitszeit billig, aber Material irgendwelcher Art teuer. So kostete beispielsweise der «Zahnarzt der ihm die Zähnen befestigt und 2 ausgezogen» hat, lediglich L 1.10.–. Andererseits kostete ein Dutzend Knöpfe 1 Livre oder «Ein Mathematisches Etui» L 4.5.–.
Die in den Rechnungen aufgeführten Posten gestatten interessante Rückschlüsse auf das Leben im Institut. So legte man offensichtlich grossen Wert auf genügend Bewegung im Freien. Bereits im ersten Brief des Vaters an seinen Sohn vernehmen wir, dass er mit seiner «Kameradschaft eine Kleine Reise auf den Jura gemacht» habe, und am 10. September 1806 teilt Pestalozzi Johannes’ Vater mit: «Gegenwärtig ist er auf der Reise, weiß nicht, in welche Gegenden ihn s. Lehrer führen werden.» Für die Bergreise am 30. Juni wurde dann den Eltern 1 Livre, und für die «Reiseumkösten im Septembris» sogar Livres 9.10.– verrechnet. Am 26. März 1808 schreibt Johannes an seine Eltern, «Weil jetzt der Frühling da ist so gehen wir auch wieder spatzieren wir sind dieses Jahr auch schon einigemal gegangen wir gehen alle Wochen 2mal spatzieren wens uns das Wetter erlaubt nämlich am Sonntag und Mittwochen den weitesten Spatziergang den wir dieses Jahr machten war 2 Stund weit.»
Heutige Leser, insbesondere jene, die zum Pazifismus neigen, mag es überraschen oder gar befremden, dass bereits in der ersten Rechnung «ein Knabengewehrlein» für 13 Livres und in jener vom 1. Oktober 1807 eine «lederne Mütze» für L 1.6.– und «eine Patrontasche» für L 3.12.– aufgeführt wurde. Militärische Vorübungen – exerzieren, schiessen, fechten – gehörten damals mit aller Selbstverständlichkeit zur Knabenbildung. Das Yverdoner Institut verfügte über ein eigenes Kadettencorps, und die Fahne ist heute noch im dortigen Schlossmuseum zu besichtigen.
Johannes scheint durchaus mit Begeisterung dabei gewesen zu sein, schreibt er doch am 17. Januar 1808 an seine Eltern im Zuge seiner Beschreibung der Silvester- und Neujahrsveranstaltungen: «Nachmittags zog die Compagnie welche aus etwa 80 Zöglingen des Jnstetuts besteht, hinter den See und exerzierten im Feuer Es waren sehr viele Zuschauer zugegen welche sagten die Knaben exerzieren sehr gut, um Halbfünf Uhr zogen wir durch die Stadt nach Hause.»
Der Ausdruck «exerzierten im Feuer» zeigt, dass die Kadetten ihre Gewehre nicht bloss stramm herumtrugen, sondern auch gebrauchten. Damit waren Gefahren verbunden, weshalb es Vater Marti für seine Pflicht hielt, seinen Sohn in seinem Brief vom 19. September 1806 eindringlich zu ermahnen: «belangend deiner so sehnlich verlangten Flinte habe dieselbige schon in dem mir zugesanten Conto von Herren Pestalozi mit L 19. bezahlt welche dir vom Leztgenante zugestelt werden wird; da es oft große Unglüke mit solchen Jnstrumenten geben thut; wie es kürzlich in Bern ein solches unglückliches Ereigniß Stat hatte wo ein Herren Sohn durch Unachtsamkeit der andere erschoßen hat; So ermahne dich auf scherfste daß du Jhmer behutsam und auf das Sorgfältigste darmit umzugehen dich benehmen thust; daß du selber, oder andere nicht etwa£ darmit unglüklich werden – da£ solche traurige Ereigniße, wurde den Vatter und – Muter auf das diefste betrüben.» Das Gewehr kostete laut der erhaltenen Rechnung allerdings nicht 19, sondern lediglich 13 Livres, und dass es vermutlich nicht von höchster Qualität war oder Johannes zu wenig sorgfältig damit umging, belegen die Kosten für die Reparatur in den Rechnungen vom 1. Juli 1807 (L 1.3.–), vom 30. Juni 1808 (L 2.17.–), vom 1. Oktober 1808 (10 Sols) und vom 1. Januar 1809 (10 Sols).
Die Exerzier- und Fechtlektionen gehörten offensichtlich in den separat zu bezahlenden Wahlfachbereich. Waren die Auslagen für Exerzierlektionen noch bescheiden (L 4.15.– in den 3 Jahren), erheischte das Fechten einen weit stolzeren Betrag. So kosteten die Fechtlektionen für einen Monat 4 Livres, und insgesamt legte Vater Marti für den Fechtunterricht sowie Klingen und Maske satte L 48.15.– auf den Tisch (dies ohne Berücksichtigung der fehlenden Quartalsrechnungen). Insgesamt belaufen sich die Kosten für die militärische Ausbildung – umgerechnet auf alle 34 Monate – auf total 100 Livres.
Auch der Unterricht in Musik/Singen und Tanzen war separat zu bezahlen und belief sich schliesslich – hochgerechnet auf 34 Monate – auf insgesamt über 21 Livres. Verrechnet wurden auch allerlei Unterhaltungen und Belustigungen: ein physikalisches Spektakel 2 Batzen, ein Bauchredner 6 Kreuzer, ein Tänzer 6 Kreuzer, verschiedene Schauspiele 13 Sols, Anteil an Neujahrbelustigungen (für zwei Jahre) 6 Livres, Feuerwerk sehen 10 Sols, 1 Lotteriebillet 2 Livres. Dies alles widerlegt die Mär, in Pestalozzis Institut sei bloss Schulstoff gebüffelt worden.
Die vorliegenden Rechnungen zeigen auch, dass es regelmässige Arztbesuche und nach Bedarf auch Zahnarztvisiten gab. Insgesamt belaufen sich die Kosten für Arzt, Apotheke und Zahnarzt – auf 34 Monate hochgerechnet – auf rund 36 Livres. Die grossen Ausgabenposten – wiederum hochgerechnet – betreffen indessen das Schulmaterial mit 67 Livres, Schuhe mit 80 Livres, Kleider mit 156 Livres und den pauschalen Pensionspreis mit 1’133 Livres.
Es mag erstaunen, dass sich das Institut auch um die Bekleidung und das Schuhwerk der Zöglinge kümmerte. Aber damals war die persönliche Garderobe des einfachen Volkes bescheiden, und wenn den Knaben die Kleider zu eng wurden, ging man nicht in den Kleiderladen, sondern es wurde Tuch gekauft, um sich vom Schneider ein Kleid anfertigen zu lassen. In einer Nachschrift des Briefes vom 16. Januar 1807 schreibt Pestalozzi: «Jch habe ihrem Knaben laut ihren Wünschen einen warmen Überrock machen laßen.» Die Eltern selbst konnten sich nicht um die Herstellung neuer Kleider kümmern, weil das Massnehmen durch den Schneider erforderlich war. So finden sich in den Rechnungen etwa die folgenden Angaben:
31.1.1807 | «2 Stab Coth (Baumwolle) à 8 Fr. für ein Neües Kleid» | L | 16.–.– |
dito | «1 1/2 Stab Leinwand» | L | 2.2.– |
13.5.1808 | «6 Stb: Sommerzeug für Weste u: Hosen» | L | 10.16.– |
dito | «1 1/4 Stb: graue Leinwand für Futter» | L | 1.12.6 |
dito | «2 douzaine Knöpfe» | L | 1.–.– |
5.11.1808 | «1 Stb: graues Tuch für 1 par Hosen» | L | 10.10.– |
dito | «5/8 Stb: Futertuch» | L | –.17.– |
dito | «3/4 duzend Knöpf» | L | –. 9.– |
Die Kleider mussten aber auch geflickt werden, weshalb praktisch in jeder Rechnung Kosten für den Schneider ausgewiesen sind. Dasselbe gilt für den Schuster, der in keiner der Rechnungen fehlt. Man war eben damals viel zu Fuss, und die Ledersohlen und Absätze mussten oft ersetzt oder die Schuhe neu mit Nägeln beschlagen werden. Dass das Institut somit nicht bloss für die Ernährung, sondern auch für die Bekleidung zuständig war, zeigt, dass der Lebensmittelpunkt der Kinder durch den Eintritt in ein Erziehungsinstitut – im Gegensatz zu heute – wirklich ins Internat verlegt wurde. Besuche zu Hause waren die Ausnahme, genauso wie Besuche der Angehörigen im Internat. Der Kontakt wurde praktisch ausschliesslich durch Briefe aufrecht erhalten.
Pestalozzis Büro
Pestalozzis lebenslange Geldnöte könnten den Verdacht aufkommen lassen, es hätte in seinen Unternehmungen eine saubere Buchhaltung gefehlt. Die vorliegenden Rechnungen belegen das Gegenteil. Man stelle sich vor, wieviel Disziplin erforderlich ist, um für eine Schülerschar von über 150 Knaben (1809 sind 165 Zöglinge nachgewiesen) über jeden Bleistift, jedes Federmesser, jedes Notenpapier, jeden Nadelstich und jede Exerzier- oder Tanzlektion Buch zu führen und alle 3 Monate allen Eltern, die zu einem nicht geringen Teil im Ausland wohnten, eine saubere Rechnung zuzustellen! Und man vergewissere sich, mit welcher Sorgfalt diese Rechnungsformulare ausgestellt wurden (der Name wurde zumeist in Zierschrift geschrieben).
Das Geld musste irgendwie in bar eintreffen, man musste entweder die dem Geld beigelegte Rechnung quittieren und wieder zurückschicken oder den Eingang des Geldes brieflich bestätigen. Und da alles Mögliche an Münzen kursierte, musste man sich in allen Währungen auskennen und wohl oft genug auch Münzen zurückweisen, die jemand los werden wollte. Dass im «Brunnen» zu Fraubrunnen Leute aus aller Herren Länder einkehrten (1797 war es immerhin Napoleon, der hier übernachtete) und dort eben mit dem zahlten, was sie bei sich hatten, macht es verständlich, dass Vater Marti versuchte, Unerwünschtes nach Yverdon zu verschieben. Einmal muss er es zu weit getrieben haben, was Pestalozzi veranlasste, ihm am 24. Mai 1808 zu schreiben: «Unter diesem Geld befanden sich 2 englische Louisd’or’s die ich hier wahrscheinlich nicht werde anbringen können, in diesem Fall werde ich sie Jhnen zurückschicken.»
Der administrative Ablauf wurde gewiss erleichtert, indem nur einer über Institutsgeld verfügte, der dann immer auch die entsprechenden Belastungen auf den Kontoblättern für den einzelnen Schüler vornehmen konnte. Als Sekretär und Buchhalter amtete zumeist Pestalozzis erster Mitarbeiter Hermann Krüsi, der infolge der Kriegswirren in seiner Heimat mit seiner Schulklasse aus Gais in Burgdorf aufgenommen worden war und sich bereits 1800 Pestalozzi angeschlossen hatte.
Pestalozzi war Psychologe genug, um den Eltern nicht bloss die Quartalsrechnungen – bzw. die Quittungen nach Eingang des Geldes – zuzustellen. Vielmehr benutzte er diese Gelegenheiten, um Auskunft zu geben über die Entwicklung des betreffenden Knaben, und gewiss fiel es ihm leichter, das Gute zu betonen, um damit die Schuldner bei Laune zu halten. Allerdings schrieb er die Berichte zumeist nicht selber, sondern liess sie von einem der Mitarbeiter ausfertigen, um sie dann zu unterzeichnen. Dem Stil nach zu schliessen, mag er auch manchen dieser kurzen Briefe dem jeweiligen Schreiber diktiert haben.
Trotz diesen Erleichterungen sah sich Pestalozzi angesichts des Anwachsens des Instituts zu einer weiteren Rationalisierungsmassnahme genötigt. Auf einem auführlichen gedruckten Formular teilte er den Eltern seiner Zöglinge am 1. Januar 1807 mit, dass er seinen «lieben Freund, Herrn Collomb-Roulet, von Vivis» beauftragt habe, die Besorgung seiner «wesentlichsten ökonomischen Angelegenheiten über sich zu nehmen», und verfügte: «Von nun an werden also alle Rechnungssachen, die an mein Haus gelangen, so wie alle, die von demselben ausgehen, von Ihm theils empfangen, theils ausgefertiget werden.» Interessanterweise liess er aber seinen Geschäftsführer die Dokumente nicht mit seinem eigenen Namen unterschreiben, sondern berechtigte bzw. verpflichtete ihn, bei der Unterschrift ebenfalls den Namen «Pestalozzi» zu verwenden. So bat er denn darum, der Signatur Collomb-Roulets «eben den Glauben beyzumessen als der meinigen», und führte am Schluss des Schreibens die beiden Unterschriften vor.
Im vorliegenden Briefkonvolut finden sich insgesamt 13 Schreiben bzw. Rechnungen mit der Collomb-Roulet’schen Pestalozzi-Signatur. Zwar wohnte der neue Geschäftsführer in Vevey, doch muss man davon ausgehen, dass er mit einiger Regelmässigkeit nach Yverdon kam, um seine Geschäfte zu erledigen, denn anders ist es nicht denkbar, wie er zu allen geschäftlichen und insbesondere persönlichen Informationen hätte kommen können, die seine Briefe enthalten. Wie bereits angetönt, benutzte Pestalozzi jeweils das Verschicken der Quartalsrechnungen dazu, um über die Entwicklung des jeweiligen Zöglings Bericht zu erstatten. Collomb-Roulet muss diese Auskünfte also entweder von Pestalozzi selber oder aber von den Lehrern der betreffenden Zöglinge erhalten haben, und dies war in Anbetracht des vorliegenden Materials nur in direktem Kontakt möglich.
Pestalozzis Äusserungen über Johannes Marti
In insgesamt 9 Briefen an Vater Marti finden sich Äusserungen Pestalozzis über seinen Sohn Johannes. So lesen wir unterm 16. Januar 1807, er besitze «sehr guten Willen, ein überaus gefühlvolles und zartes Herz, verbunden mit guten Kopfsanlagen.» Im Brief vom 24. April 1807, vermutlich von Lehrer Johannes Muralt verfasst und von Collomb-Roulet unterzeichnet, lesen wir: «Er drückt sich noch mühsam aus und ist imer etwas scheü im Reden. Daher erhalten Sie gewüß auch so wenig Briefe. Daneben besitzt er aber ein engelreines Herz und eine vorzügliche Liebe und Gutmüthigkeit, das ihn aüßerst liebenswürdig macht».
Aus einem besonderen Anlass greift Pestalozzi am 13. Juni 1807 selbst zur Feder. Dieser Brief zeigt auch die eigenwillige Rechtschreibung Pestalozzis. Zwar gab es damals noch keine durch den Duden oder durch eine staatliche Anweisung geregelte Orthographie, aber dessen ungeachtet lag Pestalozzis Schreibung und Interpunktion ausserhalb des Gebräuchlichen.
Der Hinweis, die Vollendung seiner Bildung sei für ihn wichtig, lässt vermuten, dass Vater Marti bereits nach einem einjährigen Aufenthalt seines Sohnes durchblicken liess, den Knaben nicht allzu lange im Institut zu lassen. In den folgenden Äusserungen scheint Pestalozzis Angst, den Zögling vorzeitig hergeben zu müssen, durchzuschimmern. Der Brief vom 4. August 1807 ist aber auch in anderer Hinsicht interessant: Während der zweite Teil, der sich mit Finanzfragen befasst, von Collomb-Roulet, der den Brief auch unterzeichnete, verfasst ist, stammt der erste Teil offensichtlich von einem Pädagogen, der schreibt: «Jch ka£ nichts als alles Gute das ich Jhnen schon mehrere mal von Jhrem Sohne geschrieben habe wiederholen und bestätigen. Er befriedigt uns in jeder Hinsicht. Wir kö£en uns nun Gottlob seiner Gesundheit freüen, de£ er ni$t zusehends körperlich zu. Es ka£ keinen zutraulicheren, herzlichern und dankbarern Knaben geben, als der Jhrige ist, deßwegen ist er uns allen so außerst lieb. Jch glaube Jhnen lieber Freünd, die sichere Hofnung machen zu dürfen, daß dieser brafe Sohn Jhnen ganz zur Freüde aufwachsen werde.»
Die Angst, Johannes vorzeitig zu verlieren, schwingt auch im Brief vom 24. Oktober 1807 mit, wo zu lesen ist: «Jch höre, Sie seyen Willens ihn für einige Wochen nach Hause kommen zu laßen, allein ich bitte Sie, diese Abwesenheit doch nicht zu sehr zu verlängern, da sie ihm für sein weiteres Fortschreiten sehr nachtheilig seyn könnte, und er nach einer Entfernung von mehr als 14. Tagen od. 3. Wochen die größte Mühe hätte, in seinen verschiedenen Klaßen mit seinen Kameraden fort zu kommen, u: es wäre sehr unangenehm für ihn, wenn er zurückgesetzt werden müßte.» Dass hier der Pädagoge, natürlich im Namen und Auftrag Pestalozzis, von «verschiedenen Klaßen» spricht, ist ein Hinweis darauf, dass der Unterricht – mindestens teilweise – in Niveaugruppen erteilt wurde. Es muss aber auch eine Stammklasse gegeben haben, denn im Brief an seinen Sohn vom 23. Oktober 1808 zeigt sich Vater Marti erfreut, «noch dieses von dir zu vernehmen das du wirklich dich in der fünfte Kalße befinden thust – und die Abtheilungen deß Letzteren». Er hielt also sowohl in der Stammgruppe wie in den Niveaugruppen mit jenen der 5. Klasse mit.
Über den Grund der irregulären Auszeit, die sich die Martis nahmen, kann man höchstens orakeln: Mithilfe auf dem Hof fällt angesichts der vorgerückten Jahreszeit ausser Betracht; möglich ist die Rücksichtnahme auf die Gesundheit oder allenfalls auf Heimweh. Wie lange dann die Privat-Ferien dauerten, ist nicht auszumachen.
Wie wir dem Brief vom 16. Februar 1808 entnehmen können, war auch Vater Marti mit den Fortschritten seines Sohnes zufrieden. Pestalozzi schreibt: «Es hat mich gefreüt, aus Jhrem letzten vom 7ten 8 bre (Oktober) zu sehen, daß Sie mit Jhrem Sohn zufrieden sind. Wir sind es fortdauernd im vollsten Si£. Er wird kraftvoll, geschickt und braf werden. Jhnen zur Freüde und Trost aufwachsen.» Der hier erwähnte Brief Martis an Pestalozzi ist leider verschollen.
Pestalozzis Sorge, Johannes könnte vorzeitig aus dem Institut geholt werden, kommt dann wieder deutlich im Brief vom 26. Oktober 1808 zum Ausdruck: «Jhr lieber Sohn fährt fort, sich so gut zu halten, daß man eigentlich seinetwegen nichts mehr zu wünschen hat – So wohl in Rücksicht auf den Charackter den er bekommen wird, als der Kenntniße die er sich zueignet, durch seinen unermüdeten Fleiß, kann man die besten Hofnungen nähren. Jch wünsche sehr daß er noch längere Zeit bey mir bleiben könne, indem ich vom Nuzen dieses Aufenthalts für ihn überzeügt bin.»
Doch Ende März 1809 war es dann so weit, und Pestalozzi griff wieder selber zur Feder.
«Ein engelreines Herz»
Für die Pestalozzi-Forschung sind die Briefe des Sohnes weit wertvoller als jene des Vaters an den Sohn. Zwar enthalten auch diese vier Briefe manches bemerkenswerte Detail. So vernimmt etwa der Knabe bereits im ersten Brief den letzten Dorftratsch: «dein Vetter Joh: Gug[el]mann zu Attiswyl will sich wiederum mit einem Mädchen von Langenthal Verehlichen aus diesem scheint es das er noch nicht genug Frauen gehabt habe Unserem Herren Ober-Amtsma£ Kirchberger sein Sohn :| der Rudy :| wird auch die ersten Tage künftigen Monat auf Berlin Verreisen; alwo er etwelche Jahre Verbleiben wird».
Und gleich anschliessend folgt ein wettergeschichtlich interessanter Hinweis: «Wir haben auch dieses Jahr eine sehr böse Ernde Zeit; in-deme wirklich der Roggen auf den Felderen zimlich stark ausgewachsen ist; und jederma£ beynahe noch gar nichts eingesamlet hat; es währe also um beßere Witterung zu wünschen sonsten gehet es gar zu arg». Oder wir entnehmen dem zweiten Brief des Vaters an den Sohn, dass dieser ein «Testament» verlangt hat, d.h. dass die Schüler eine eigene Bibel haben mussten. Und im vierten Brief bestätigt der Vater, «daß du Jn der Schreibkunst zimlich viel profidiert hast». Auch die religiösen und moralischen Ermahnungen des Vaters werfen manches Licht auf die damalige gesellschaftliche Befindlichkeit.
Demgegenüber geben aber die Briefe des Sohnes in ihrer Schlichtheit ein besonders authentisches Zeugnis vom Geist in Pestalozzis Institut und von dessen Wirkung auf ein kindliches Gemüt. Vielleicht möchte manchem bei der Lektüre von Pestalozzis Brief an Vater Marti vom 24. April 1807, wo dem Knaben ein «engelreines Herz» attestiert wird, ein leiser Zweifel aufgestiegen sein, aber Johannes’ Briefe vermögen den durchaus zu entkräften. Das Schreiben des zwölfjährigen Burschen an seine Eltern vom 27. Dezember 1808 zeigt nicht bloss die grosse Empfänglichkeit des Knaben für moralische und religiöse Gehalte, sondern auch, mit welcher Ernsthaftigkeit die religiöse und moralische Bildung – Bildung des «Herzens» – in Pestalozzis Institut gestaltet wurde.
Für den modernen Didaktiker ist der Hinweis auf das «Neujahrsheft», das auch noch in andern Briefen zur Sprache kommt, von besonderem Interesse. Es handelte sich dabei offensichtlich um einen ausführlichen Lernbericht an die Eltern, für welche die Zöglinge volle zwei Wochen einzusetzen hatten, «um ihnen zu zeigen was und wie wier dieses Jahr gelernt haben». Und wie wir dem soeben erwähnten Brief entnehmen können, war es dem Knaben Johannes wichtig, dass die Eltern das neue Neujahrsheft mit jenem des Vorjahres verglichen, um sich vom Lernfortschritt zu überzeugen. Man könnte als heutiger Lehrer neidisch werden ...
Jahreswechsel 1807/1808
Eine wahre Trouvaille für die Pestalozzi-Forschung ist indessen der Brief des Sohnes an die Eltern vom 17. Januar 1808. Um die Bedeutung dieses Briefes verständlich zu machen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Pestalozzi in Yverdon regelmässig – an seinem Geburtstag, am Neujahr, an Weihnachten – «Reden an sein Haus» hielt. Besonders berühmt und auch ergiebig als Zitatenquelle sind die Neujahrsrede von 1809 und die Geburtstagsrede von 1818. Aber von allen überlieferten Reden (Pestalozzi gab sie verschiedentlich in Druck) die eigenartigste ist jene von 1808.
Zuerst die Fakten: Nachdem das Institut während 4 Jahren rasch gewachsen war und allen Beteiligten über den Kopf zu wachsen drohte, wurden nun auch deutliche Spannungen unter den Mitarbeitern und wohl auch solche der Lehrer mit Pestalozzi sichtbar. Pestalozzis Führungsschwäche war eklatant: Er war viel zu emotional, zu spontan, zu sprunghaft und zu sehr von den eigenen Visionen in Bann gezogen, um ein derart grosses Unternehmen rational führen zu können. Er «führte» das Institut einzig durch seine Ideen, seine Ausstrahlung und seine überschwengliche Liebe zu allen, denen er begegnete. Aber das reichte nicht aus, um Massstäbe zu setzen, rationale Abläufe zu entwerfen und die unvermeidlichen Konflikte zu bewältigen. Insbesondere der ungehobelte und wohl auch rücksichtslose Vorarlberger Joseph Schmid und der den Philosophen markierende, aus dem Appenzellerland stammende Theologe Johannes Niederer waren sich ins Gehege gekommen. Nach Aussage des Redaktors der meisten Bände der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis Werken und Briefen, Dr. h.c. Emanuel Dejung, stritten sich die beiden Kontrahenten um die Nachfolge Pestalozzis. Ich meine: Das mag sein, aber meines Erachtens ging es den beiden allenfalls sekundär um die Zukunft, primär aber um die erlebte Gegenwart, nämlich um die Frage, wer jetzt angesichts Pestalozzis Unfähigkeit, das Institut organisatorisch zu führen, den Ton angeben solle. Leider kannte Pestalozzi keine andern Konfliktlösungsstrategien als den moralischen Appell, der bis an die Grenze der moralischen Beschwörung gehen konnte, und das Nichtbeachten, Bagatellisieren, Unter-den-Teppich-Kehren der Probleme und Spannungen.
Zu einer jede Vorstellung übersteigenden moralischen Beschwörung seiner Mitarbeiter holte er nun in der besagten Neujahrsrede von 1808 aus. Dem Wortlaut nach nahm er alle Schuld für das sichtbar gewordene Zerwürfnis und Versagen auf sich und machte sich, wie so oft, unendlich klein. Aber deutlich genug zielte er damit auf die Wirkung, bei den Zuhörern Schuldgefühle zu wecken, sie damit zur Umkehr zu bewegen und sie zu einem erneuten Engagement im Interesse der Bildungsidee anzuspornen. Um seinen Worten Nachachtung zu verschaffen, verfiel er auf einen fast unglaublichen Einfall: Er liess einen Sarg vor sich hinstellen, hielt einen Totenschädel in der Hand und prophezeite den geschockten Zuhörern und Zuschauern, er oder seine Frau werden wohl demnächst, wohl schon im kommenden Jahr, in diesem Sarge liegen – aber sein Werk müsse trotzdem bestehen. Die Szene war an Peinlichkeit nicht zu überbieten.
Pestalozzi liess 1811 einige seiner Reden in Druck erscheinen, allerdings ohne jene Neujahrsrede von 1808. Erst 1823, als der Streit unter den Lehrern das denkbar hässlichste Ausmass angenommen hatte und als Folge davon das Institut in Agonie lag, publizierte Pestalozzi diese Rede im Rahmen der Herausgabe sämtlicher Werke bei Cotta.
Nun gibt es deutliche Belege, dass Pestalozzi seine «Reden an mein Haus» vor der versammelten Schüler- und Lehrerschaft hielt. So sprach er etwa in der Neujahrsrede von 1809 die Kinder direkt an, wenn er z.B. sagte: «Gottes Natur wird in Euch respektiert. [...] Wir brauchen keine böse Gewalt gegen Eure Anlagen und gegen Eure Neigungen; wir hemmen sie nicht, wir entfalten sie nur. [...] Ihr sollt an unserer Hand Menschen werden, wie Eure Natur will, wie das Göttliche, das Heilige, das in Eurer Natur ist, will, dass Ihr Menschen werdet.» (Pestalozzi, Sämtliche Werke, Band 21, Seite 226) Es gibt daher auf Anhieb keinen Grund zur Annahme, dass dies ein Jahr zuvor anders gewesen sein sollte. Und dann stellt sich die Frage: Kann ein Mann wie Pestalozzi diese Szene mit dem Sarg und dem Totenschädel seiner Kinderschar zumuten? Wenn ja, müsste man entweder an seinem Verstand oder an seinem Spürsinn für eine Kinderseele zweifeln.
Der Brief von Johannes Marti schafft hier Klarheit: Der Knabe erzählt nicht bloss haarklein, was alles am Silvester und am Neujahr passierte, sondern er tut uns auch noch den Gefallen, das zusammenzufassen, was Pestalozzi in seiner Rede an die Schüler und Lehrer sagte. Und es kann überhaupt keine Frage sein: Diese obskure Szene mit dem Sarg und dem Schädel wäre dem sensiblen Knaben derart eingefahren, dass er dies keinesfalls hätte verschweigen können. Aber auch das, was er als Belehrung Pestalozzis wiedergibt, steht in absolut keinem Zusammenhang mit der überlieferten Neujahrsrede von 1808. Pestalozzi hat diese eindeutig nur für seine Mitarbeiter geschrieben und gehalten.
Natürlich gibt es viele Elemente in diesem Brief des Knaben an seinen Vater, die ebenso bedeutsam sind. So stellt Pestalozzi den Kindern bewusst drei Persönlichkeiten als Idealgestalten vor: Wilhelm Tell, Niklaus von Flüe und Ulrich Zwingli. Mit Tell, der damals noch als historische Gestalt im Bewusstsein der Schweizer lebte, sollen sich alle als Staatsbürger identifizieren können. Und mit Bruder Klaus und Zwingli hat Pestalozzi bewusst je einen Exponenten aus der katholischen und reformierten Konfession gewählt, aber nicht, damit sich die Katholiken bloss an Niklaus, die Protestanten bloss an Zwingli halten sollten, sondern damit der konfessionelle Graben grundsätzlich überwunden werde. In dieser Hinsicht war Pestalozzi seiner Zeit weit voraus.
Wer mit dem Auge des Lehrers einen Blick auf Johannes’ Brief wirft, freut sich über das Ebenmass und die fast schon von einer virtuosen Gewandtheit zeugende Schrift, und sieht darin auch einen Beleg dafür, was durch psychologisch richtiges Üben der Handgeschicklichkeit bei einem gut elfjährigen Knaben zu erreichen ist. Und er staunt, wie dieser Knabe sich jedem sinnlichen Eindruck öffnet und die Gedanken und Belehrungen Pestalozzis mit einer Offenheit und einem Vertrauen entgegennimmt, wie dies in der heutigen gesellschaftlichen Situation wohl nur ausnahmsweise geschieht.
Zwei Jahre später starb Vater Marti, zweiundvierzigjährig. Auch sein Sohn Johannes erreichte bloss ein Alter von 24 Jahren: Er starb 1820, nachdem er sich im Juli des vorausgehenden Jahres noch mit der Wirtstochter von Bätterkinden, Anna Barbara Marti, verehelicht hatte.
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Name:
Dr. Arthur Brühlmeier
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