Frühe Armenschriften
Nach einer Aussage Pestalozzis aus dem Jahre 1801 war es seine tiefste Herzensangelegenheit, "einzig und allein nach dem Ziele zu streben, die Quellen des Elends zu stopfen, in das ich das Volk versunken sah". Sein gedankliches Ringen mit den Problemen der Armut kommt in einer grossen Anzahl seiner Schriften zum Ausdruck. In seinen frühen Armenschriften dreht sich alles um die Grundlegung und den Kampf um die Erhaltung seiner Armen-Erziehungsanstalt auf dem Neuhof, welche er 1774 nach dem Zusammenbruch seiner landwirtschaftlichen Unternehmung eröffnet hatte und welche 1780 aus finanziellen Gründen wieder geschlossen werden musste. Das Kernstück der frühen Armenschriften bilden die drei Briefe an Niklaus Emanuel Tscharner (1727 - 1794). Die weiteren Schriften sind:
- Eine Bitte an Menschenfreunde und Gönner, zu gütiger Unterstützung einer Anstalt, armen Kindern auf einem Landhause Auferziehung und Arbeit zu geben, 1775 (PSW 1, S. 137 ff.)
- Bruchstück aus der Geschichte der niedrigsten Menschheit, 1778 (PSW 1, S. 176 ff.)
- Zuverlässige Nachricht von der Erziehungs-Anstalt armer Kinder des Herrn Pestalozzi im Neuhof bei Birr, 1778 (PSW 1, S. 182)
An den Details, die Pestalozzi schildert, lässt sich seine Grundhaltung den Kindern gegenüber erkennen. Die Ansicht, es sei Pestalozzi primär um Kinderarbeit zum eigenen Nutzen gegangen, schafft sich heute zunehmend Raum, doch sprechen z.B. die Sätze aus dem "Bruchstück" eigentlich eine andere Sprache. Pestalozzi nimmt sich schwer behinderter Kinder an und wünscht sich sogar, noch mehr solche Kinder betreuen zu können:
"Fridli Mind von Worblauffen Berngebiet, ein sehr schwaches Kind, aber voll entscheidender Talente zum Zeichnen. Soviel ich kann, gebe ich mir Mühe, dieses Talent in ihm zu entwickeln.
Susette und Marianne Mind, seine Geschwister, zeichnen sich durch stille anhaltende Arbeitsamkeit aus. Marianne scheint in diesem niederen Beruf zu leiden, emporzustreben zu mehr Freiheit. Es ist vom feinsten Gefühl, aber in sich geschlossen, zurückhaltend und äussert sein Leiden nicht. Es würde viel Gutes oder Böses aus dem Kind werden, wenn es zu der Entwicklung seiner Anlagen gelangen könnte! Susette hat weniger Fähigkeiten, aber offen, ruhig und zufrieden mit seiner Lage und seiner Arbeit. Alle drei Kinder einer bernerischen Stadtmagd sind sehr schwächlich." (PSW 1, S. 176 f.)
"Noch muss ich Maria Bächli und Lisabeth Arnolds gedenken. Das erste ist gänzlich blödsinnig im höchsten Verstand des Wortes, so stark, daß ich keinen grösseren Grad von Blödsinnigkeit bei eingesperrten Narren gesehen (habe). Dabei hat es ein bewundernswürdiges musikalisches Gehör. Das zweite voll Fähigkeiten, aber von der höchsten Armut entkräftet, Krummzwerg, konnte es im neunten Jahr noch nicht gehen. Beide diese Kinder verdienen ihr Brot und gehen einem Leben entgegen, in welchem sie ruhig eines ihre Wünsche befriedigenden Unterhalts sicher sind. Und es ist grosse tröstende Wahrheit: Auch der Allerelendeste ist fast unter allen Umständen fähig, zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit (= Menschlichkeit) befriedigenden Lebensart zu gelangen. Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursache genug, solche mit Beraubung ihrer Freiheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen. Sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist. So wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual, sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe, sondern Gewinn werden. Und ich fühle die Wichtigkeit dieser Wahrheit so sehr, daß ich der Bestätigung derselben durch mehrere Erfahrung mit Sehnsucht entgegen sehe, und wirklich wünsche ich noch einige Kinder von diesem Grade des Blödsinns und körperlicher Schwäche, wenn selbige nicht mit Auszehrungskrankheit behaftet ist, in meiner Anstalt zu haben." (PSW 1, S. 178)
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Dr. Arthur Brühlmeier
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