Appell an die zehntpflichtigen Bauern, aus dem Zweiten Zehntenblatt
Guter, treuer, armer Feudalbauer, denn mit dir und nicht mit dem reichen Landeseigentümer ist's, mit dem ich rede: Du hast das Vaterland Jahrhunderte durch dein Unrechtleiden erhalten, erhalte es heute freiwilliger durch deine Tugend! Das Vaterland hat dringende Bedürfnisse, und die bis jetzt unbelasteten Stände zeigen wenig Neigung, diesen Bedürfnissen nach dem Mass ihrer wirklichen Kräfte abzuhelfen. Die Überzeugung, daß sie das, was seit Jahrhunderten niemand von ihnen gefordert (hat), dem Vaterland doch schuldig seien, ist schwer in sie hineinzubringen. Gute, belastete Bürger, wenn auch ihr wie sie Jahrhunderte unbelastet gewesen wärt, diese Überzeugung wäre auch schwer in euch hineinzubringen. Tragt der menschlichen Natur Rechnung, erwartet von niemand, was ihr selber nicht leisten würdet, wenn ihr an seiner Stelle wärt! Bürger, mässigt eure Rechtsansprüche in dem Grad, als ihr ihre Richtigkeit kennt! Sprecht nicht an (= erhebt keinen Anspruch auf) euer vollkommenes Recht, bis das Vaterland vollkommen gerettet (ist)! Bürger, der Mann ist seines Rechts nicht wert, der durch den Gebrauch desselben dem Vaterland schadet.
Bürger, zeigt, daß ihr eures Rechts wert seid, indem ihr keines zu eurem eigenen Verderben und keines gegen des Vaterlands ansprecht. Arme, belastete Bürger, tut noch mehr, rettet das Land und ladet euch zur Rettung des Landes selber auf, was das Vaterland heute zugrunde richten könnte, wenn man es euch mit Gewalt auflegen würde.
Treuer Bauer, frage heute nicht, was dein Recht sei, frage heute, was das Vaterland zu seiner Rettung bedürfe! So sehr du dein Recht fühlst, achte es nicht! Wenn du auch noch eine Weile fortleidest, so macht das nicht alles. Im Gegenteil, es ist dir besser, daß du dich nur allmählich erhebst, als daß du durch einen ungemessenen Sprung vom harten Unrechtleiden zu einem verführenden Glück und von diesem in Fehler verfällst, die dich mehr schänden könnten, als dich dein Unrechtleiden und deine Knechtschaft nie geschändet hat.
Bürger, ich will euch das Äusserste sagen: Das Vaterland ist in Gefahr! Rettet es oder richtet es zugrunde - es ist in eurer Hand! Aber nein, ich will nicht an euch zweifeln, ihr rettet das Land! Väter und Mütter, die ihr erbunterdrückt immer nur zahltet, beschämt heute noch einmal die, die erbprivilegiert immer nur nahmen. Ich weiss es, der erste Vorschuss, den das Vaterland heute bedarf, fällt aus eurer freien Hand auf der Freiheit Altar; ihr zehntet und bodenzinst, bis das Vaterland gerettet (ist).
Ja, Bürger, ihr zehntet und zahlt, ihr rettet das Land und kämpft und arbeitet euch frei und fühlt und denkt bei jedem Opfer, das ihr dem Vaterland bringt, daß man euch die Freiheit nicht schenkt, daß ihr sie kauft. Sie sei euch doppelt soviel wert, daß man sie euch nicht schenkt, daß ihr sie kauft! Und, Kinder der Armen, spinnt euch frei und fühlt und denkt an ihrem Faden, daß man euch die Freiheit nicht schenkt, daß ihr sie kauft. Sie sei euch doppelt soviel wert, daß ihr sie kauft! Spinnt, Kinder der Armen, spinnt euch frei! (PSW 12, S. 463 f.)