Die Leutnantsphilosophie
Die 4 Bände von "Lienhardt und Gertrud" sind zwischen 1781 und 1787 jeweils im Abstand von zwei Jahren erschienen. Sie sind ein sprechender Beleg für den Wandel in Pestalozzis Denken: Das optimistische Menschenbild der ‚Abendstunde' sowie die darauf beruhende Idee, den Staat als eine Verwirklichung des Gottesreiches zu sehen, werden ersetzt durch einen zum Pessimismus neigenden Realismus und durch die Erkenntnis, daß gesellschaftliches Sein und somit auch der Staat als Institution nicht auf die ‚höhere', sondern auf die ‚niedere' Natur des Menschen gebaut werden müssen. Hatte Pestalozzi z.B. in ‚Gesetzgebung und Kindermord' 1780 gefordert, der Fürst müsse ein Christ sein, so stellt er 1793 in ‚Ja oder Nein?' fest: "Die Welt wird nicht christlich regiert. Die Regierungen als solche sind nicht christlich. Der Staat als Staat handelt in seinen wesentlichsten Einrichtungen bestimmt wider das Christentum." (PSW 10, S. 127) Und an anderer Stelle desselben Werks: "Man missbrauche das Christentum auf keine Seite. Man fordere nicht, daß die Fürsten christlich regieren. Sie können es nicht. Man denke nicht daran, als Christen und um der christlichen Freiheit willen irgendeine bürgerliche Freiheit ansprechen zu dürfen. Das geht nicht. Aber man versuche auch nicht, durch das Christentum die Sklaverei wieder in der Welt einzuführen." (PSW 10, S. 128) Das geänderte Menschenbild findet seinen klarsten Ausdruck im 41. Kapitel des 4. Teiles von ‚Lienhard und Gertrud', das die berühmte ‚Leutnantsphilosophie' enthält, so benannt, weil Pestalozzi seine Philosophie dem Roman-Schulmeister Glüphi, einem invaliden abgedankten Leutnant, in den Mund legt:
Die Philosophie meines Leutnants und diejenige meines Buches
...
"Die neueren Gesetzgebungen, die man aber nicht im Ernst für Volksgesetzgebungen ausgeben wird, setzen alle vom Menschen, und besonders vom minderen Menschen, voraus, daß er ohne alles Verhältnis mehr und besser sei, als er ist und als er, ohne daß sie ihn in den Stand stellen, es zu werden, seiner Natur nach nicht sein kann.
Der Mensch, fuhr er (Glüphi) fort, ist von Natur, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam und ohne Grenzen gierig und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstossen, krumm, verschlagen, heimtückisch, misstrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig, und grausam. - Das ist der Mensch, wie er von Natur, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, werden muss; er raubt wie er isst, und mordet wie er schläft. Das Recht seiner Natur ist sein Bedürfnis, der Grund seines Rechtes ist sein Gelüst, die Grenze seiner Ansprüche ist seine Trägheit und die Unmöglichkeit, weiter zu gelangen.
In diesem Grad ist es wahr, daß der Mensch, so wie er von Natur ist und wie er, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst und seiner Natur nach notwendig werden muss, der Gesellschaft nicht nur nichts nützt, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich ist.
Deshalb muss sie, wenn er für sie einigen Wert haben oder ihr auch nur erträglich sein soll, aus ihm etwas ganz anderes machen, als er von Natur ist und als er, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, werden könnte.
Und der ganze bürgerliche Wert des Menschen und alle seine der Gesellschaft nutzbaren und brauchbaren Kräfte ruhen auf Einrichtungen, Sitten, Erziehungsarten und Gesetzen, die ihn in seinem Innersten verändern und umstimmen, um ihn ins Gleis einer Ordnung hineinzubringen, die wider die ersten Triebe seiner Natur streitet, und ihn für Verhältnisse brauchbar zu machen, für welche ihn die Natur nicht bestimmt und nicht brauchbar gemacht, sondern vielmehr selber die grössten Hindernisse dagegen in ihn hineingelegt hat. Deshalb ist der Mensch allenthalben in dem Grad, als ihm wahre bürgerliche Bildung mangelt, Naturmensch; und soweit ihm der Genuss von Einrichtungen, Anstalten, Erziehungsarten, Sitten, Gesetzen, welche notwendig sind, aus dem Menschen das zu machen, was er in der Gesellschaft sein soll, mangelt, so weit bleibt er, trotz aller inwendig leeren Formen der äusserlichen bürgerlichen Einrichtungen, in seinem Inneren das schwache und gefährliche Geschöpf, das er im Wald ist. Er bleibt, trotz seines ganzen äusserlichen Bürgerlichkeitsmodells, ein unbefriedigter Naturmensch mit allen Fehlern, Schwächen und Gefährlichkeiten dieses Zustandes; ist auf der einen Seite für die Gesellschaft so wenig nütze, als sie vor ihm sicher ist; er drückt und verwirrt sie nirgends, als wo er kann und mag, und auf der anderen Seite hat er von ihr ebensowenig einen befriedigenden Genuss, und es wäre ihm, wenn er in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft von ihr verwahrlost, wild und natürlich aufwächst, gewiss besser, er wäre nicht darin und könnte seine nichtigen Tage tierisch und wild, aber auch ungehemmt und ungefesselt im Wald dahinleben, als Bürger zu sein und aus Mangel bürgerlicher Bildung am Fluch einer Kette zu serben (= dahinsiechen), die ihm das Gefühl der Rechte seiner Natur von allen Seiten verwirrt, das Befriedigende seiner Naturtriebe in allen Teilen beschränkt und ihm nichts dagegen gibt als die Forderung, das zu sein, was weder Gott noch Menschen aus ihm gemacht haben und was ihn die Gesellschaft, die es von ihm fordert, noch am meisten hindert zu sein. - Indessen ist es nichts weniger als leicht, aus dem Menschen etwas ganz anderes zu machen, als er von Natur ist, und es fordert die ganze Weisheit eines die menschliche Natur tief kennenden Gesetzgebers, oder, wenn ihr lieber wollt (denn beides ist wahr), die Frommheit einer Engeltugend, die sich Anbetung erworben (hat), den Menschen dahin zu bringen, daß er beim Werk seines bürgerlichen Lebens und bei Verrichtung seiner Standes, Amts und Berufspflichten eine das Innere seiner Natur befriedigende Laufbahn finde und an einer Kette nicht verwildere, welche die ersten Grundtriebe seiner Natur mit unerbittlicher Härte beschränkt und mit eiserner Gewalt etwas anderes aus ihm zu machen beginnt, als das ist, wozu ihn alle Triebe seiner Natur mit übereinstimmender Gewalt unwillkürlich in ihm liegender Reize hinlocken.
Eine jede Lücke in der bürgerlichen Gesellschaft, ein jeder Anstoss im gesellschaftlichen Leben, eine jede Ahnung, durch Gewalt oder durch List seine natürliche Freiheit behaupten und ausser dem Gleis der bürgerlichen Ordnung zur Befriedigung seiner Naturtriebe gelangen zu können, das alles facht in jedem Fall den Funken der Empörung gegen diese Kette, der tief in der Natur liegt, von neuem wieder an; das alles belebt in jedem Fall die nie in uns sterbenden Keime unserer ersten Triebe und schwächt in jedem Fall von neuem die Kräfte unserer bürgerlichen Bildung, die diese Triebe beschränken.
So viel, und weniger nicht, hat ein Gesetzgeber zu bekämpfen, der den Menschen durch die bürgerliche Verfassung glücklich machen und ihm die ersten Vorteile der gesellschaftlichen Verbindung, Gerechtigkeit und Sicherheit, nicht nur versprechen, sondern auch halten will. Denn allenthalben, wo man die Menschen wild aufwachsen und werden lässt, was sie von selbst werden, da ist Gerechtigkeit und Sicherheit in einem Staat ein blosser Traum. Beides ist in einem Staat nur in dem Grad wahrhaft möglich, als die Menschen, die darin wohnen, von den Hauptfehlern ihres Naturlebens, namentlich vom Aberglauben, vom Leichtsinn, Gedankenlosigkeit, Liederlichkeit, Furchtsamkeit, von Unordnung, Unwesen, schwärmerischen Lebensarten und von den Folgen dieser Grundfehler oder vielmehr Schwächen unserer Natur: vom Trotz ihrer Dummheit, von der Verwegenheit ihres Leichtsinns, von den Verwicklungen ihrer Unordnung, von der Not ihrer Liederlichkeit, von den Verlegenheiten ihrer Unanstelligkeit, von dem Unsinn ihrer Gierigkeit, von der Gewaltsamkeit ihrer Ansprüche und von der Grausamkeit ihrer Rache geheilt und zu einem bedächtlichen, vorsichtigen, tätigen, festen, im Zutrauen sowohl als im Misstrauen sicher gehenden und die Mittel zur Befriedigung seiner ersten Wünsche in sich selber und im Gebrauch seiner durch bürgerliche Bildung erworbenen Fertigkeiten und Kräfte fühlenden Menschen zu machen."(PSW 3, S. 329 ff.)
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Dr. Arthur Brühlmeier
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